Unter Druck - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Unter Druck

Lesedauer: 3 Minuten

In unserer Gesellschaft zählt vor allem eines: Leistung. Kein Wunder, dass Jugendliche zuweilen mit ihren hohen Selbstansprüchen überborden. Dann müssen wir sie als Eltern auch mal bremsen.

Text: Thomas Minder
Bild: Pexels

Einige von Ihnen kennen sicher das Lied «Under Pressure» von Queen und David Bowie. Die ersten Zeilen des Duetts der beiden Legenden Bowie und Freddie Mercury lauten «Pressure pushing down on me, pressing down on you, no man ask for. Under pressure that burns a building down, splits a family in two, puts people on streets. That’s okay …»

Übersetzt auf Deutsch: «Druck drückt auf mich, drückt auf dich, Druck, um den kein Mensch gebeten hat. Unter Druck, der ein Gebäude niederbrennt, eine Familie in zwei Teile spaltet, Menschen auf die Stras­se treibt. Das ist in Ordnung …»

Aus dem weiteren Text des Songs geht allerdings hervor, dass Druck nicht wirklich positiv und eben nicht okay ist. Wir kennen das aus unserem Berufsalltag: Manchmal wachsen uns die Aufgaben über den Kopf. Für eine gewisse Zeit gelingt es vielen Menschen, diesen Zustand auszuhalten, aber wenn die Arbeits­zeit dauerhaft nicht ausreicht, um Dinge abarbeiten zu können, der Druck zu hoch wird, werden wir krank.

Mit Fieber zum Fernunterricht

Im November vergangenen Jahres hatte sich meine Familie mit dem Coronavirus angesteckt. Ich wurde verschont. Um es vorwegzunehmen: Wir sind alle glimpflich davon­gekommen. Die jüngeren beiden unserer drei jugendlichen Kinder erwischte es etwas stärker, sie hatten Fieber und Husten. Am zweiten Tag in Quarantäne realisierte ich, dass unsere Tochter – die Jüngste – am Fernunterricht teilnahm. Sie war gerade auf dem Weg in ihr Zimmer, als ich Geräusche aus ihrem Note­book vernahm, die darauf hindeu­teten. Ich fragte sie, ob sie mit Fieber wirklich am Unterricht teilnehmen wolle. Verzweifelt und mit spürbar dünnem Nervenkostüm erwiderte sie, dass sie das müsse, da sie sonst in der Folgewoche die doppelte Menge an Arbeit erwarte.

Wenn die Arbeitszeit dauerhaft nicht ausreicht, um Dinge abarbeiten zu können, der Druck hoch wird, werden wir krank.

Da ich aufgrund meiner früheren Arbeitsstelle an der Sekundarschule meiner Tochter die Lehrpersonen dort gut kenne, versicherte ich ihr, dass dem bestimmt nicht so sei, und sie sich jetzt auf ihre Genesung fokussieren solle. Daraufhin folgte eine längere, tränenreiche Diskussion. Aber am Ende konnte ich sie überzeugen, auch dank der Hilfe meiner Frau, sich ins Bett zu legen und auszukurieren. Meine Tochter hat einen unheimlichen Druck verspürt, leisten und abliefern zu müssen. Wir sind uns bewusst, dass sie sich diesen Druck vor allem selbst macht. In der Schule hat ihr niemand gesagt, sie müsse so verfahren. Ausserdem fällt ihr das Lernen grundsätzlich leicht, sie hatte in besagter Situation also, zumindest von aussen betrachtet, keinen Grund, sich so einen Kopf zu machen. Aber sie ist ehrgeizig – da fällt der Apfel wohl nicht weit vom Stamm.

Zum Leben gehört, dass wir lernen, Druck aus- und ihm standzuhalten. Wir müssen aber nicht extra Situationen schaffen, damit Kinder sich in dieser Fähigkeit üben können – das passiert von allein. Vielmehr müssen wir Erwachsenen ihnen helfen, Schwierigkeiten zu überwinden, indem wir ihnen beistehen. Es geht also nicht darum, Herausforderungen zu vermeiden, sondern die Kinder bei deren Überwindung zu unterstützen. So erfahren sie Selbstwirksamkeit, was ihrem Leben Stabilität gibt.

Die Angst, etwas zu verpassen

Die Diskussion mit meiner Tochter wäre indes anders ausgefallen, hätte ich als ehemaliger Arbeitskollege ihrer Lehrpersonen nicht über entscheidendes Vorwissen verfügt: Mir war bereits bekannt gewesen, dass die Arbeitsaufträge für genesene und zum Präsenzunterricht zurückkehrende Jugendliche kürzer aus-fallen würden. Wie aber ergeht es Familien, die dieses Wissen oder diese Gewissheit nicht haben? Hätte Ihr Kind weiter am Fernunterricht teilgenommen? Hätte es sich in seiner Verzweiflung gegen den gut gemeinten elterlichen Ratschlag durchgesetzt?

Die Möglichkeit des Fernunterrichts bietet neue Chancen und Möglichkeiten. Was symptomfreien Schülerinnen und Schülern in Quarantäne ermöglicht, am Unterrichtsgeschehen teilzunehmen, ist für Kinder mit Symptomen eine Falle. Eigentlich ist es üblich, dass kranke Kinder zu Hause – und im Bett – bleiben, um gesund zu werden. In der Pandemiesituation und mit neuen technischen Mitteln haben wir es geschafft, dass der Unterricht nun auch nach Hause kommt. Aber selbst in vorpandemischer Vergan-genheit ist es vorgekommen, dass erkrankte Kinder zum Unterricht kamen – mit dem genau gleichen Motiv: der Angst, etwas Wichtiges zu verpassen.

Es geht darum, Kindern bei der Überwindung von Schwierigkeiten beizustehen. So erfahren Sie Selbstwirksamkeit

Es ist die Aufgabe von uns Eltern, Kinder in solchen Momenten zu bremsen, sie vor sich selbst zu schüt-zen und ihnen die Gewissheit zu vermitteln, dass das Gesundwerden oberste Priorität hat und alles an dere warten kann. Sie als Eltern dürfen die Gewissheit haben und erwarten, dass in der Schule eine verständnisvolle Lehrperson tätig ist, die Ihr Kind nach überstandener Krankheit willkommen heisst und an der Hand nimmt, um den Anschluss ans Klassen- und Lerngeschehen wiederzufinden.

Thomas Minder
ist Präsident des Verbands Schulleiterinnen und Schulleiter VSLCH und leitet die Volksschulgemeinde Eschlikon TG auf Stufe Kindergarten und Primarschule.

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