Wenn Mama immer traurig ist - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Wenn Mama immer traurig ist

Lesedauer: 6 Minuten

Yvonne B. leidet an schweren Depressionen. Ihre Kinder Niklas, Lena und Emilia leiden mit, jedes auf seine Weise. Eine Geschichte über Kinder von psychisch kranken Eltern, was die Krankheit mit ihnen macht und warum es so wichtig ist, sie stärker in die Therapie der Eltern miteinzubeziehen.

Niklas sagt: «Wenn Mama in die Klinik muss, geben wir ihr etwas mit. Ich einen Teddybär.» – «Und ich ein Elefantenetui», sagt Lena. Und Emilia, die Kleinste? «Eine dreckige Socke. Damit mich Mama nicht vergisst.» Niklas, Lena und Emilia haben eine psychisch kranke Mutter. Sie sind nicht alleine. Laut einer Studie der Integrierten Psychiatrie Winterthur leben in der Schweiz 20 000 bis 50 000 schulpflichtige Kinder mit einem psychisch kranken Elternteil. 300 000 dürften es sein, wenn jene Eltern mitgezählt werden, die ihr Leiden verschweigen oder gar nicht wissen, dass sie krank sind. Von den ersten Symptomen bis zu einer allfälligen Diagnose kann es zehn Jahre dauern. Doch wie erklärt man Kindern, warum die Mutter oder der Vater fortgeht? Und: Wer kümmert sich um sie? Was gesunde Eltern fordert, kann kranke überfordern. Das weiss Yvonne B., die Mutter der drei Geschwister. Die 43-Jährige aus dem Kanton Bern kämpfte zwei Jahre lang gegen schwerste Depressionen. Antidepressiva, 14 Elektrokrampftherapien unter Vollnarkose und 30 Wochen Klinikaufenthalt brachten keine Linderung. Anzeichen von Lebensfreude zeigten sich erst, als das Narkosemittel Ketamin eingesetzt wurde. «Das hilft auch gegen Schmerzen, wenn jemand nach einem Unfall eingeklemmt im Auto sitzt», sagt Yvonne B. Wie eingeklemmt – so hört sich auch ihre Schilderung der Krankheit an: bleierne Müdigkeit, abgrundtiefe Traurigkeit, Rückenschmerzen. Und in Gedanken dem Tod stets ein bisschen näher als dem Leben.

Ich habe meine Mutter umarmt. Es hat nichts genützt.

Daneben geht das Muttersein weiter. Nur trösten kann sie die Kinder nicht. Die Kinder trösten sie. Versuchen es zumindest: «Ich habe sie umarmt. Es hat nichts genützt», sagt der zehnjährige Niklas. Dabei hatte Niklas Glück. Der Psychiater der Mutter erklärte ihm, warum seine Mama traurig ist. Das ist nicht selbstverständlich. Denn Kinder werden im Behandlungsplan nicht mitgedacht. Schlaf, Appetit, Arbeit, Beziehung: Die Fragen der Ärzte decken alles Mögliche ab. Doch das Wohl der Kinder wird meist mit zwei Fragen abgehakt: «Haben Sie Kinder? Wie viele?» Für den Psychiater Thomas Ihde, Chefarzt der psychiatrischen Dienste der Spitäler Frutigen, Meiringen und Interlaken, reicht das nicht. Bei einer Tasse Tee am Bahnhof Bern sagt er: «Wenn es gut geht, weiss der Psychiater noch, wer die kleinen Kinder während eines Klinikaufenthalts betreut. Sind sie älter als zehnjährig, interessiert man sich aber kaum für sie. ‹Sie sind ja gross genug›, so die Vorstellung.» Auch in Therapiemanualen seien Kinder oder Erziehungsfragen inexistent. Hier bräuchte es ein Umdenken. Er ist überzeugt, dass die Frage «Verlieren Sie häufig die Nerven mit Ihren Kindern?» zum Ausgangspunkt für wichtige Gespräche werden könnte. Manche Therapierichtungen, etwa die systemorientierte, interessieren sich zwar für familiäre Zusammenhänge. Das Augenmerk werde dort aber auf erwachsene Kinder gelegt, welche die erkrankte Person unterstützen können. Dass Kinder von kranken Menschen selber Hilfe brauchen, wird nicht bedacht. Oder, wie Thomas Ihde sagt: «Da klafft eine Lücke im System. » Wie hilflos Kinder sein können, wenn sie mit dem Leiden ihrer Eltern alleingelassen werden, zeigen Gespräche mit Erwachsenen, die vor Jahren selbst Betroffene waren. «Unser Vater redete zehn Tage am Stück kein Wort mit uns.» – «Meine Mutter legte mir ihre eigene Todesanzeige vor: Ort, Trauerspruch, alles drin.» – «Hatte ich nachts Angst, stellte mir mein Vater zur Beruhigung ein Gewehr neben das Bett.»

Unfähigkeit, ärztliches Fachwissen in Kindersprache zu übertragen

Manche realisierten erst nach dem Auszug aus dem Elternhaus, dass das, was sie erlebt hatten, eine Ausnahmesituation war: «Sie kochte in einer leeren Pfanne das Essen für Gäste, die nicht kamen.» – «Sie nahm mich nicht ein einziges Mal in die Arme.» Manche wussten um das Leiden ihrer Eltern, schwiegen aber aus Scham oder weil Reden verboten war. «Ich stahl auf dem Schulweg Früchte, weil ich mich schämte für mein leeres Znünitäschli.» Andere mussten erleben, dass psychische Krankheiten tödlich enden können: «Sie lag tot im Bad. Auf dem Tisch ein Zettel: Ich muss gehen.» Selbst wenn Eltern in Behandlung sind, bleibt für Kinder die Irritation. Der Arzt kümmert sich um die erkrankte Person. Mit den Kindern selbst spricht keiner. Damit wird die psychische Krankheit zum «Elefanten im Wohnzimmer, über den niemand redet», wie Thomas Ihde sagt. Warum ist das so? Hemmungen sind ein Grund. Die Unfähigkeit, Fachwissen in Kindersprache zu übertragen, ein weiterer. Wie erklärt man einer Vierjährigen, warum Schlaf nicht nützt gegen die Müdigkeit? Dieses Wissen gehört weder im Medizin- noch im Psychologiestudium zum Pflichtstoff. Den Facharzttitel als Psychiater bekommt man, ohne je ein Familiengespräch durchgeführt zu haben.

Wenn es ein bisschen schlimm ist, also recht schlimm, geht man in die Klinik.

Zeitlicher und finanzieller Aufwand seien nicht der Grund, ist Thomas Ihde überzeugt. «Ein Gespräch mit dem Kind entlastet die Familie, und das beschleunigt die Heilung.» Immerhin: Nach und nach zeichnen sich Veränderungen ab. Fachleute werden sensibilisiert, erste Kliniken bieten Programme für Kinder an. Ehemalige Patienten brechen das Tabu und berichten in Schulen von ihrer Krankheit. Doch etwas fehlt noch immer: die Stimmen der Kinder. Bei Familie B. erklingen diese mehrstimmig. «Man ist müde und mag nicht mehr so. Wenn es ein bisschen schlimm ist, also recht schlimm, dann geht man in ein Spital.» Die achtjährige Lena weiss, wie man mit der Krankheit der Mutter umgehen muss. Was passieren kann. Zurückhaltend wirkt sie mit ihrer leisen Stimme, dem lachsfarbenen Röcklein und dem zusammengebundenen Haar. Das Reden überlässt sie gern dem grossen Bruder: «Man wird immer trauriger und geht nicht mehr raus.» Zwischen zwei Kartoffelchips meldet sich die sechsjährige Anina. «Das hat man, wenn man ein bisschen zu viel macht. Das ist bei unserer Mama so.» Emilia, Lena und Niklas rangen mit ihrer Mutter um die Sprache und fanden einen Namen für den Elefanten: Von der «Traurigkeitskrankheit» reden sie an diesem Sommertag. Hinter ihnen schaukeln Boote auf dem See. Über die Sprache fand die Familie einen Umgang mit der Depression im Alltag. War die Mutter müde, stellte sie einen Wecker. «Wenn er klingelt, dürft ihr mich wecken.» Die Kinder halfen im Haushalt. Nils lernte, wie man die Matratze vom Hochbett herunternimmt, Emilia lernte kochen. «Chli Wasser, chli la blöderle, chli Hörnli dri, chli warte, chli Anke dri, fertig.» Auch Yvonnes Mann war eine Stütze. Wenn sie wieder in die Klinik musste, organisierte er die Kinderbetreuung und übernahm, so viel er konnte, selber. Von fachlicher Seite vermisste Yvonne B. diese Unterstützung. «Die Sozialarbeiterin sass mit einem leeren Block vor uns. In die Klinik konnte ich die Kinder nicht mitnehmen. Sie führen kein Mutter-Kind- Zimmer. Nur ein Zimmer, wo man Haustiere mitnehmen darf.» Die Klinik von Yvonne B. ist kein Einzelfall. Zwar bieten immer mehr Psychiatrien in der Schweiz Mutter- Kind-Plätze an, aber meist nur für Kinder «bis zum gehfähigen Alter», wie es mancherorts heisst. Und: Ein Kinderplatz kostet rund 50 Franken pro Tag – und wird von den meisten Krankenkassen nicht übernommen. Inzwischen bieten einige Spitex- Organisationen und das Rote Kreuz Kinderbetreuungsdienste an. Doch vielen Kranken fehlt die Energie, sich auf die Suche nach einem solchen Angebot zu machen. Bei Yvonne B. übernahmen ihr Mann und eine Nachbarin die Organisation: Tagesmutter, Haushaltshilfe, Nachbarn und Freunde. Alle übernahmen während der Woche einen Teil und der Vater das Wochenende.

Kinder entwickeln Schuldgefühle

Doch eine Last konnten sie der Mutter nicht abnehmen: die Schuldgefühle, wenn sie von den Kindern weggehen musste. Dass auch Kinder Schuldgefühle entwickeln, wenn ein Elternteil krank ist, lässt sich entwicklungspsychologisch erklären. Stephan Kupferschmid, leitender Arzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie Bern, sagt: «Vom vierten Lebensjahr an tritt bei Kindern egozentrisches Denken auf. Fragt man sie, warum der Baum dort steht, sagen sie: Damit ich mich in seinen Schatten stellen kann. Warum geht es der Mutter schlecht? Weil ich nicht artig war.» Wächst das Kind mit diesem Schuldgefühl auf, kann sich kein gesunder Selbstwert entwickeln. Und das Risiko, selbst psychisch zu erkranken, erhöht sich um das Vierfache. Manche Kinder haben Bindungsprobleme, etwa dann, wenn die Reaktion der kranken Mutter nicht berechenbar ist. «So ein Kind reagiert möglicherweise nicht adäquat auf Kontaktversuche. Vielleicht ist es bei Fremden sehr zutraulich und will sich sofort auf die Knie setzen. Oder es ist sehr misstrauisch und gehemmt.»

Das hat man, wenn man ein wenig zu viel macht. Das ist bei unserer Mama so.

Auch die Gefühle von Yvonne B. waren unberechenbar. Darum machte sie nie ein Geheimnis aus der Krankheit, sprach mit den Kindern, liess sie mit dem Psychiater reden und informierte ihr Umfeld. «Die Nachbarn nahmen die Kinder oft auf Ausflüge mit. Sie boten es nicht an. Sie taten es.» Wie gut ein Kind die Belastung übersteht, hängt von vielen Faktoren ab. Vom inneren Widerstandskraft und davon, ob es gute Bezugspersonen hat. «Der Partner, eine Lehrperson oder ein Nachbar – wer diese ist, spielt keine Rolle», sagt Kupferschmid. Und: «Kinder sind stärker, als man meint.» Findet eine Familie einen guten Umgang mit der Krankheit, steht einer gesunden Entwicklung der Kinder nichts im Weg. Dies bestätigen Studien: Nur ein Drittel der Kinder, die in schwierigen Verhältnissen aufwachsen, kämpft später selber mit andauernden psychischen Problemen. Ein weiteres Drittel vorübergehend. Das letzte Drittel meistert das Leben erfolgreich und bleibt gesund. Wie geht es Lena, Niklas und Emilia? «So schlimm ist es eigentlich gar nicht», sagt Niklas. Lena zweifelt. «Es ist schon traurig. Ds Härz grännet. Es chlopft chli meh.» Wenn sie traurig ist, spricht sie darüber. Oder zeichnet. Das hilft gegen die eigene Traurigkeit. Der Elefant weicht dann den kleinen Alltagswünschen. So wie heute, an diesem sonnigen Tag: «Ich will jetzt schwimmen gehen.»

Dieser Text erschien am 10. September 2015 in DIE ZEIT Schweiz, Ausgabe Nr. 37. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin. Auf Wunsch der Familie haben wir die Namen geändert.


Tipps und Links mit weiterführenden Informationen

www.wikip.ch: Angebot der Schweizerischen Stiftung zur Förderung der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Dazu gehören: SOS-Familienhilfe, Patenfamilienangebot oder Beratungs- und Anlaufstellen.

www.strong-kids.eu: Diese Plattform für Kinder, Eltern und Fachkräfte bietet Informationsmaterial und Unterstützungsangebote in zehn Sprachen zum Thema Kinder und Jugendliche von psychisch verletzlichen Eltern.

www.promentesana.ch: Angebote für Betroffene und Angehörige. Beratungstelefon: 0848 800 858

Ratgeber: A. Lenz und B. Brockmann: Kinder psychisch kranker Eltern stärken. Verlag Hogrefe, 2013. – Ein Buch mit Fachinformationen für Eltern, Erzieher und andere Interessierte.

Bilderbuch: E. von Mosch: Mamas Monster. Was ist nur mit Mama los? Balance-Verlag, 2008. – Ein Buch für Kinder ab 4 Jahren, mit Text und Illustrationen zum Thema Depression.

Sarah King
ist Journalistin und betreibt Gesprächsforschung. Ihr Fokus: Sprachbilder, Körperbilder, alles im und rund um den Menschen. Ihre Leidenschaften: Schreiben und Musik.

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