Wenn der Gedanke an Zuhause schmerzt
Mit Gleichaltrigen ins Ferienlager zu verreisen ist das Grösste – bis das Heimweh zuschlägt. Wo kommt es her? Wie kann man vorbeugen? Was hilft, wenn es ausgebrochen ist? Hintergründe und Ratschläge zu einer Krankheit, die lange «Schweizerkrankheit» genannt wurde.
Auch Jugendliche und Erwachsene sind nicht vor Heimweh gefeit: Etwa jeder zweite junge Mensch, der zum Studieren in eine andere Stadt zieht, sehnt sich in den ersten Wochen zurück ins alte Nest. Viele Matrosen und Soldaten berichten ebenso, dass sie ihr Zuhause mitunter schmerzlich vermissen. Selbst im Urlaub überkommt manch einen die Sehnsucht nach dem Altbekannten.
Heimweh macht sich durch gedrückte Stimmung, Einsamkeit, Schlaflosigkeit, wenig Appetit, mangelnde Konzentration und sozialen Rückzug bemerkbar.
Heimweh tritt zwar unterschiedlich stark auf, äussert sich aber häufig ähnlich: Die Betroffenen sind gedrückter Stimmung und fühlen sich einsam, sie leiden unter Schlaf- und Appetitlosigkeit, Konzentrationsstörungen und ziehen sich zurück. Vor allem jüngere Kinder leiden. Mit zunehmendem Alter und mehr Erfahrung gewöhnen sie sich leichter in einer neuen Umwelt ein.
Sichere Bindung – weniger Heimweh
Der Bindungsstil beeinflusst, wie schnell sich ein Mensch an einem neuen Ort heimisch fühlt, sagt die US-Entwicklungspsychologin Marian Sigman. Der Stil entwickelt sich im Kleinkindalter und wirkt sich später auf die Beziehungen zu Freunden und Partnern aus. Er bestimmt, wie ein Mensch mit Distanz und Abwesenheit von anderen umgeht. Menschen mit einem sicheren Bindungsstil sind unabhängig, offen für andere und gehen gern auf Entdeckungstour. Unbekannte Orte und fremde Menschen machen ihnen weniger Angst, und sie kennen Heimweh nur in schwacher Ausprägung.
Eine Art Minitrauer
Vorbeugen hilft
Das könne ein speziell für die Fahrt gekauftes Spielzeug sein oder der Lieblingskissenbezug, ein abgenutztes Kuscheltier oder eine Wolldecke – am besten etwas, was nicht frisch gewaschen sei, sondern ein bisschen nach zu Hause rieche. Unterwegs helfen den Kindern Spiele oder Wanderungen durch die Natur, um sich vom Heimweh abzulenken.
Emotional ankommen
Ob Freizeit, Studienbeginn oder eine dauerhafte Anstellung in einem fernen Land: Wer sich vorher über den neuen Ort informiert und dort positive Seiten entdeckt, wird sich schneller einleben. Schon vor dem Umzug sollten konkrete Pläne geschmiedet werden: Welchen Aktivitäten will man künftig nachgehen, in welchem Viertel will man leben, wie soll die Woche strukturiert sein? So lässt sich frühzeitig dem Gefühl begegnen, am neuen Ort die Kontrolle über die Lebensführung zu verlieren.
Internet, E-Mails und soziale Netzwerke erweisen sich bei einem Umzug als Segen und Fluch zugleich.
Doch genau darin liegt ein Problem: «Die Technik schafft eine Standleitung in die Heimat. Statt sich auf den neuen Ort einzulassen, bekommen junge Menschen ständig Reize aus dem alten Umfeld und leben im Grunde dort weiter», sagt Wilfried Schumann. Am Studienort suchten solche Studierenden dann weniger intensiv neue Freunde. Dadurch falle es ihnen schwerer, die Heimwehphase zu überwinden und in der neuen Stadt Fuss zu fassen. Psychologen empfehlen deshalb, lieber nur am Wochenende mit alten Freunden zu telefonieren.
Was macht hier Spass?
Dass Heimweh erst aufkomme, wenn man darüber spricht, ist jedoch ein Mythos. Christopher Thurber und Edward Walton empfehlen Familien und Freunden, offen über Sorgen und Ängste zu reden. Gemeinsam liessen sich Lösungen entwickeln. Nur ein Versprechen sollten Eltern ihren Kindern nie geben: Dass sie das Kind abholen kommen, wenn es ihm nicht gefällt. «Das reduziert die Wahrscheinlichkeit, dass sich das Kind einlebt», so die beiden Wissenschaftler, «denn es schürt negative Erwartungen bei ihm». Und das Kind beginnt daran zu zweifeln, ob es sich überhaupt anderswo eingewöhnen können wird. Im Ferienlager spricht Korinna Fritzemeyer die Kinder so früh wie möglich an, wenn sich erste Anzeichen für Heimweh zeigen. Denn aus Scham äussern sie ihre Ängste nur selten von sich aus.
Die Psychologin erkundigt sich nach den Sorgen und versichert den Kleinen, dass ihr Empfinden verständlich ist. «Kindern muss signalisiert werden, dass auch in der Ferne jemand zuverlässig für sie da ist», sagt sie. Sie müssten spüren, dass ihre Befürchtungen nicht einfach weggewischt, sondern ernst genommen werden. Nur wer sich sicher fühle, sei offen für andere. Manchmal helfe es auch, den Kindern eine andere Sichtweise zu vermitteln: «Schau mal, es ist doch ein gutes Zeichen, dass du dein Zuhause und deine Familie vermisst. Das bedeutet, dass du etwas sehr magst. Sie denken bestimmt ganz fest an dich. Und bald wirst du sie wiedersehen.» Solche Sätze trösten wohl jeden Menschen ein Stück weit.
Heimweh – die «Schweizerkrankheit»
Besser hatten es die Swisscoy-Soldaten im Kosovo, die gemäss Auskunft des Pädagogisch-Psychologischen Dienstes 2002 den Plüsch-Hit «Heimweh» auf und ab spielten. Von vermehrten Desertionen wurde jedoch nicht berichtet. Bemerkenswert ist der Zusammenhang, den eine jüngere Studie beschreibt: So litten Rekruten umso stärker an «Anpassungsstörungen», je näher an ihrem Wohnort sie Dienst leisten mussten. Der Gedanke, dass man jederzeit schnell nach Hause könnte, hat offenbar das Heimweh verstärkt. Ergo: Haben Sie keine Angst davor, Ihr Kind ins Lager nach Südfrankreich zu schicken! Es wird wahrscheinlich weniger leiden, als wenn es eine Woche in Beinwil am See verbringt.
Ein Leiden, das schnell abklingt?
Bei manchen ausländischen Studierenden und Arbeitsmigranten, die mehrere Jahre in der Ferne bleiben, steige der Schmerz mit der Zeit sogar noch. Laut dem Team um Psychologin Margaret Stroebe deuten die vorliegenden 55 Befunde ausserdem darauf hin, dass mit starkem Heimweh das Risiko für psychische und körperliche Erkrankungen steige. In einzelnen Untersuchungen wurden beispielsweise vermehrt psychosomatische Beschwerden und koronare Herzerkrankungen beobachtet.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift «Gehirn & Geist»
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