02. Februar 2017
Therapie im Chatroom?
Interview: Kathrin Blum
Lesedauer: 6 Minuten
Der Klient, sein Problem, der Therapeut und vielleicht noch eine Couch – so stellt man sich eine Therapie vor. Doch diese Konstellation ist heute längst nicht mehr die Regel. Das ständige «Vor-dem-Bildschirm-Sitzen» ist ein Grund, warum Jugendliche eine Therapie brauchen. Aber es kann auch Teil der Lösung sein. Viele Therapeuten holen die Jugendlichen heute dort ab, wo sie sind: online. Die psychoanalytische Sozialarbeiterin Sylvia Künstler ist eine von ihnen.
Frau Künstler, aus dem Alltag von Jugendlichen sind neue Medien nicht mehr wegzudenken. Wie wirkt sich das auf Ihren Arbeitsalltag mit Jugendlichen aus?
Es ist ein riesiges Problem, wenn wir eine Jugendgruppe vor uns haben und alle ihre Smartphones zücken. Alle müssen nur «ganz schnell, ganz kurz»… Wenn man ihnen ihr Telefon wegnimmt, ist das im übertragenen Sinne gesprochen so, wie wenn man ihnen die Hand oder ein Bein amputieren würde. Das Handy hat eine immense Bedeutung bekommen, das «In-Kontakt-sein-mit-der-Welt» ist für die Jugendlichen essenziell.
Selbst wenn sich die Jugendlichen gerade in einer sozialtherapeutischen Sitzung befinden?
Ja – und manchmal vielleicht auch gerade dann. Es kann natürlich auch eine Art sein, den Kontakt zu uns zu vermeiden oder uns die Kontaktaufnahme zumindest zu erschweren. Die Klienten teilen uns auch etwas mit, wenn sie den Kontakt zu anderen suchen, wenn eigentlich wir zu ihnen Kontakt aufnehmen möchten. Hin und wieder kommt es vor, dass wir nicht nur zu zweit in einer Einzelstunde sind, sondern per Internet oder Handy von den Jugendlichen noch jemand dazu geholt wird. Nimmt ein Jugendlicher jemanden (virtuell) mit in die Therapie, fragen wir uns: Warum macht er das? Was will uns der Klient damit mitteilen? Es ist möglich, dass dadurch ein Problem in die Stunde mitgebracht wird, über das der Jugendliche nicht sprechen kann. So macht er es dennoch zum Thema.
Sylvia Künstler arbeitet als psychoanalytische Sozialarbeiterin in Tübingen. Sie hat zwei erwachsene Kinder, die das Internet intensiv nutzen, wie sie sagt. Sie selbst ist weder bei Twitter noch Facebook aktiv, nutzt das Worldwideweb allerdings täglich, um sich zu informieren und zu kommunizieren.
Sehen Sie neue Medien in der Psychotherapie eher als Chance oder Risiko?
Mal sind sie Risiko, mal Chance. Wir sehen beispielsweise junge Menschen mit autistischen Störungen, die aus der Welt fallen, weil sie es nicht schaffen, zu anderen Kontakt aufzunehmen oder gar Beziehungen aufzubauen– zumindest nicht, wenn ihnen diese anderen gegenübersitzen. Für sie kann es eine grosse Chance sein, im Netz virtuelle Freundschaften zu schliessen. Und diese Freundschaften können durchaus sehr intensiv sein. Ich erinnere mich da an eine Klientin, die Freundschaft geschlossen hat zu einer Frau in Moskau. Sie haben täglich telefoniert, geskypt oder gechattet, waren füreinander da, wenn eine in Not war. Das war eine echte Freundschaft. Aber die junge Frau hätte diesen Kontakt ohne die räumliche Distanz nicht ausgehalten. Für Autisten sind neue Medien und soziale Netzwerke eine grosse Chance, in Beziehungen zu treten. Werden allerdings alle anderen Beziehungen durch Freundschaften im Netz ersetzt, kann das durchaus auch für autistische Menschen zum Problem werden. Ausserdem gibt es natürlich auch die dunklen Seiten, etwa die ganzen Mobbinggeschichten. Neue Medien sind extrem ambivalent.
Viele Jugendliche verbringen mehrere Stunden täglich in der virtuellen Welt. Wann stellt sich die Frage nach der Internetsucht?
Da müssen wir differenzieren. Exzessive Computernutzung wird oft als Problem angesehen. Übersehen darf man dabei nicht, dass diese oft nur die Folge eines anderen Problems ist. Sozusagen das Symptom. Wenn beispielsweise ein Jugendlicher antriebslos ist, eine Depression entwickelt, verbringt er deshalb möglicherweise viel Zeit vor dem Bildschirm, weil er es nicht mehr schafft, raus zu gehen, sich zu etwas aufzuraffen. Und vor dem Bildschirm vergeht die Zeit einfach schneller. Viele versinken völlig in dieser anderen Welt. Man muss sehr genau hinschauen, ob die Computersucht nicht andere Probleme verdeckt und nur die Oberfläche darstellt. Vielen dieser Patienten, die auf den ersten Blick computersüchtig scheinen, fällt es in der Klinik nicht schwer, dort zu verzichten. Durch die Therapie und den Kontakt zu anderen Jugendlichen mit ähnlichen oder gleichen Problemen brauchen sie den Computer nicht mehr.
Wann sollten sich Eltern Sorgen machen?
Es gibt ein paar klare Grenzlinien. Die Zahl der Stunden, die jemand vorm Computer sitzt, ist allerdings wenig ausschlaggebend. Entscheidender sind die Fragen: Verlieren Jugendliche normale Bezüge? Gehen sie in die Schule, in Vereine, treffen sie reale Freunde? Wenn sie andere, alltägliche Dinge nicht vernachlässigen, sitzen sie zwar vielleicht zu lange am Computer, sind aber nicht krankhaft süchtig. Sobald ein Leistungsabfall eintritt, ein Rückzug oder eine Veränderung im Sozialverhalten, sind das Warnzeichen, die man ernst nehmen und denen man auf den Grund gehen sollte.
Ist es andersrum nicht auch ein Warnzeichen, wenn Jugendliche sich dem ganzen Sozialen-Netzwerk-Hype verweigern?
Mädchen und Jungen stellen sich ausserhalb ihrer Jugendkultur, wenn sie neue Medien ablehnen. Sie begeben sich dadurch nicht selten in die Einsamkeit. Denn das Smartphone ist durchaus auch Bezugspunkt. Oft sitzen Jugendliche zu dritt über einen Bildschirm und zeigen sich Sachen. Computer und Handy haben ja auch interaktive Elemente. Wenn sie sich aber sonst nicht aus ihren sozialen Kontakten zurückziehen, würde ich es nicht als Warnzeichen sehen.
Und wie gehen Sie nun in der Sitzung vor, wenn das Smartphone stört? Verbieten Sie das Gerät?
Mit radikalen Einschränkungen tun wir uns schwer. Und, wie gesagt, Jugendliche mit Aspergersyndrom sind mitunter auf diesem Medium angewiesen. Es ist ihr Zugang zur Welt. Deshalb lassen wir es gerade bei ihnen zu. Und nicht nur das. Wir versuchen, genau darüber in Kontakt zu kommen. Es gibt junge Menschen, die erzählen beispielsweise von ihren Computerspielen und was sie da machen. Wir versuchen, neutral und interessiert zuzuhören – und nicht gleich zu wettern: blödes Ballerspiel. Oder es gibt die Jugendlichen, die nicht über ihr Problem sprechen können und es deshalb «verpacken», indem sie von einem Freund oder einer Freundin erzählen, die gerade eine Nachricht geschrieben hat, in der es eben um den Konflikt geht, der den Klienten gerade selbst beschäftigt. In der virtuellen Welt entstehen Gruppen, Freundschaften, Konflikte – genau wie im realen Leben. Das müssen wir nutzen. Ich habe das Internet tatsächlich schon als Brücke erlebt. Computer und Handy bieten uns als Therapeuten auch durchaus die Möglichkeit, mit den Jugendlichen in Kontakt zu treten. Das kann auch durchaus in einem Chatroom sein.
Haben Sie auch selbst schon mit Klienten gechattet?
Ja. Mit einer Klientin habe ich mich regelmässig im Chatroom verabredet, um dort die sozialtherapeutischen Einzelstunden mit ihr zu halten. Ihre Schwierigkeiten konnten schriftlich und doch im direkten Kontakt mit ihr «besprochen» werden. Etwas, das im konkreten Miteinander schwer möglich war. Auch mir fiel es manchmal leichter, potenziell kränkende Dinge so zu formulieren, dass sie sie nicht verletzten. Ein Chat hat im Gegensatz zu anderem Schriftverkehr den Vorteil, dass man so gut wie ohne Verzögerung auf das Gegenüber eingehen kann – und doch kurz über das Geschriebene nachdenken kann. Besagte Klientin konnte im Chat wichtige Dinge in Worte fassen und eine innere Nähe zulassen, was im direkten Kontakt eben gerade nicht gelang. Generell können manche Klienten bedrohliche, schmerzhafte Dinge besser ansprechen, wenn es «beiläufig» passiert und man dem Gegenüber nicht in die Augen schauen muss.
Sie sagen von sich selbst, dass Sie neuen Medien offen gegenüber stehen. Als Kind der 60er Jahre sind sie allerdings nicht mit dem Internet gross geworden. Ist es für Ihre Generation schwierig, die sogenannten Digital Natives zu verstehen?
Es stimmt natürlich, dass ich da in der Position der Lernenden bin und mir manchmal sogar Zwölfjährige am Computer etwas Neues zeigen können. Dass sich Kinder und Jugendliche eine ganz neue Welt erschlossen haben, die uns fremd ist, ist durchaus eine Herausforderung. Aber eine, die wir meistern können, wenn wir offen und neugierig sind und bleiben.
Bild: Fotolia
Ein E-Mail-Protokoll:
Wie sieht eine Beratung per E-Mail aus? Hier ein echtes Beispiel aus einer Sitzung einer 17-Jährigen.
Ersthilfe für Jugendliche im Internet:
Fachbuch zum Thema:
Screenkids – (auf)gefangen im Netz? Risiken und Chancen neuer Medien bei Kindern und Jugendlichen mit psychischen Schwierigkeiten. Herausgegeben vom Verein für Psychoanalytische Sozialarbeit. Brandes und Apsel Verlag Frankfurt am Main. 2015. ISBN 978-3-95558-155-8
- Neue Kommunikationswege nutzen, um Jugendliche in schwierigen Lebenssituationen zu helfen, das hat sich die Plattform JugendNotmail auf die Fahnen geschrieben. Für die in Berlin ansässige Online-Beratung arbeiten mehr als 100 ehrenamtlich tätige Psychologen und Sozialpädagogen – an 365 Tagen im Jahr. Auffällig: Mindestens 360 Mails von Jugendnotmail kamen 2015 aus der Schweiz, die Angabe des Wohnorts ist freiwillig, viele machen keine Angabe. Von 2016 gibt es noch keine Zahlen. In den Anfragen der Jugendlichen geht es um Depressionen, Selbstverletzung, Suizidgedanken, Missbrauch und Essstörungen. «Neben der Einzelberatung können sich die hilfesuchenden Jugendlichen auch im Forum und den monatlichen Themenchats untereinander austauschen», so Sprecherin Amelie Schwierholz. Sie betont aber auch: «Die Beratung kann keine Therapie ersetzen.» Werde deutlich, dass eine solche unausweichlich ist, vermittelten die Mitarbeiter den Jugendlichen an kompetente Beratungsstellen. Wie ein Mailverkehr aussehen kann, zeigt unser Beispiel.
- www.u25-schweiz.ch ist eine kostenlose und anonyme Online-Hilfe für Jugendliche – von Jugendlichen mit spezieller Ausbildung. Die Berater sind selbst zwischen 17 und 25 Jahre alt, hinter ihnen stehen Sozialarbeiter und Psychologen. Angesprochen werden sollen mit diesem Angebot vor Kinder und Jugendliche zwischen acht und 25 Jahren mit Suizidgedanken. Träger dieses Projekts ist der Verein Lebe! mit Sitz in Winterthur.
- Auch viele Hilfsstellen, die bisher eher häufig angerufen werden, bieten inzwischen Beratungen via Chat, SMS oder Mail an. Darunter: Die Dargebotene Hand, das Sorgentelefon und die Jugendberatung von Pro Juventute.