Mein Lehrer, das Baby
Die kanadische Organisation «Roots of Empathy» möchte Primarschülern mehr Einfühlungsvermögen vermitteln und dadurch Aggressionen abbauen.
Mit Erfolg, wie eine Schweizer Studie belegt. Doch einen Haken hat die Sache,
sagt Studienleiter und Autor David Lätsch.
Was hier gespielt wird, nennt sich «Trust Game», Vertrauensspiel. Es wurde von Ökonomen erfunden, überall auf der Welt hat man es eingesetzt, allerdings erst selten bei Kindern. Zunächst geht es darum, das Vertrauen der Mädchen und Buben in die Uneigennützigkeit ihrer Mitspieler zu testen. Dann erhalten alle Kinder 20 Taler. Jetzt steht ihre eigene Uneigennützigkeit auf dem Prüfstand: Behält ein Kind den Grossteil der Taler für sich oder teilt es die Taler zwischen seinem Mitspieler und sich selbst gerecht auf? Ihre Entscheidung teilen uns die Kinder anonym auf den ausgeteilten Blättern mit. Konzentriert machen sie ihre Kreuze.
Empathie und Aggression hängen zusammen
Es ging darum, dass die Kinder durch die Begegnung mit dem Baby lernen, ihr Einfühlungsvermögen zu schulen – und damit auch die eigenen Gefühle besser zu verstehen, einzuordnen und zu verarbeiten. Unterstützt wurden sie dabei von einer Trainerin, die von «Roots of Empathy» geschult wurde. «Roots of Empathy» nennt sich das Programm, weil es auf die Förderung des Einfühlungsvermögens zielt.
Aber es geht um mehr als das: Die Stärkung der Empathie soll indirekt auch zu einer Förderung des prosozialen Verhaltens führen, dazu, dass die Kinder einander häufiger helfen und mehr miteinander teilen. Auch sollen sie dadurch, dass sie empathischer werden, weniger aggressiv miteinander umgehen, einander weniger beschimpfen, herabsetzen, schikanieren, schlagen und ausschliessen.
Hinter den Zielen des Programms steckt die Annahme, dass Empathie und soziales Verhalten, insbesondere Empathie und Aggression, eng zusammenhängen: Je stärker wir uns in andere Menschen einfühlen können, je besser wir ihre Gefühle verstehen, desto mehr liegt uns daran, dass es den anderen gut geht. So helfen und teilen wir lieber, als dass wir Leid zufügen. So weit die Theorie, auf der «Roots of Empathy» aufbaut. Aber erzielt das Programm die Wirkungen, die sich die Erwachsenen davon versprechen?
Wie hältst du es mit dem Teilen?
Am Ende des Morgens haben wir durch den Einsatz dieser und weiterer Methoden alles beieinander, um uns ein Bild davon zu machen, wie fair und prosozial sich die Kinder verhalten, aber auch, wie empathisch sie sind und wie häufig sie aggressiv miteinander umgehen. Dabei sind wir heute nicht zum ersten Mal in Claudia Bachmanns Klasse. Weil wir uns für die Veränderungen interessieren, die seit dem Programmstart eingetreten sind, waren wir zu Beginn des Schuljahres schon einmal hier.
Zur Erweiterung des Datensatzes werden wir die Daten von vielen weiteren Klassen berücksichtigen, die an «Roots of Empathy» teilnehmen. Und: Wir werden die Programmklassen wiederum mit solchen vergleichen, die nicht am Programm teilgenommen haben. Denn nur so lässt sich wissenschaftlich überprüfen, ob die Veränderungen, die seit dem Programmstart eingetreten sind, tatsächlich auf «Roots of Empathy» zurückzuführen sind (siehe Box zur Studie).
Die Studie
Das Programm wirkt
Unsere Analysen belegen, dass «Roots of Empathy» tatsächlich wirkt. Das lässt sich am einfachsten zeigen, indem die Befunde aus unterschiedlichen Quellen zusammengeführt und zu Indikatoren gebündelt werden. Diese geben an, wie empathisch, prosozial und aggressiv die Schülerinnen und Schüler gesamthaft sind. Die Auswertung dieser Indikatoren zeigt, dass sich die Kinder in den «Roots of Empathy»-Klassen in allen drei Bereichen besser entwickelt haben, als es die Kinder in den anderen Klassen taten. Die Mädchen profitierten in den Bereichen Empathie und Aggression etwas stärker als die Jungen. Gross waren die Geschlechterdifferenzen jedoch nicht.
Bei einer Teilstichprobe untersuchen wir, wie lange die beobachteten Effekte anhalten. Sind die Kinder am Ende des Schuljahres vielleicht nur deshalb empathischer, prosozialer und weniger aggressiv, weil sie das Baby und die Begegnungen mit ihm noch präsent haben? Verfliegen diese Effekte, wenn das neue Schuljahr mit seinen neuen Anforderungen, Reizen und Entwicklungsanstössen beginnt?
Dass «Roots of Empathy» wirkt, ist eindeutig belegt. Nicht klar ist jedoch, wie das Programm wirkt. In unserer Studie setzen wir uns unter anderem mit zwei Hypothesen auseinander. Die erste besagt, dass die «Roots of Empathy»-Lektionen tatsächlich das Einfühlungsvermögen der Kinder fördern: Da das Baby sich noch nicht verbal mitteilen kann, muss es genau beobachtet werden, damit man seine Gefühle und Bedürfnisse benennen kann. So werden die Buben und Mädchen generell besser darin, sowohl die eigenen als auch die Gefühle anderer zu erkennen, zu verstehen und nachzuempfinden.
Die zweite Hypothese besagt, dass die Kinder nicht per se ihr Einfühlungsvermögen verbessern, sondern dazu angeregt werden, dieses häufiger zu nutzen, das heisst von ihrem Potenzial, sich empathisch zu verhalten, öfter Gebrauch zu machen.
Zur Unterscheidung der beiden Hypothesen enthält unsere Studie einen Empathietest. Die Kinder sehen Videos von anderen Kindern und von Erwachsenen, die jeweils ein bestimmtes Gefühl zum Ausdruck bringen. Dann sollen sie unter verschiedenen Wörtern dasjenige auswählen, welches das gezeigte Gefühl am besten benennt.
In der Auswertung dieses Tests zeigte sich zu unserer Überraschung, dass die Schülerinnen und Schüler derjenigen Klassen, die nicht an «Roots of Empathy» teilgenommen haben, genauso gut darin sind, Gefühle zu erkennen und zu benennen, wenn sie das in einem Test tun müssen. Trotzdem verhalten sie sich im Durchschnitt weniger empathisch. Treffen diese Befunde zu, so erzielt «Roots of Empathy» seine Wirkung also dadurch, dass es Fähigkeiten weckt, die in den Kindern bereits schlummern – und nicht, indem es neue Fähigkeiten erzeugt.
Wird die Bedeutung der Empathie überschätzt?
Interessanterweise melden sich in den vergangenen Jahren aber vermehrt auch Kritiker zu Wort. Sie trauen der Fähigkeit, sich in andere hineinzufühlen, nicht ganz so viel zu. Und sie nennen Gründe für ihre Skepsis.
Der Psychologe Steven Pinker zeigt in seinem Buch «Gewalt. Eine Geschichte der Menschheit», dass die Ausweitung der Empathie, wie sie in der Geschichte tatsächlich stattgefunden hat, vermutlich nur zu einem geringen Teil dafür verantwortlich ist, dass die Welt in den vergangenen zweitausend Jahren sehr viel friedlicher geworden ist. Sein Kollege Paul Bloom warnt in «Against Empathy» sogar vor erheblichen Risiken der Empathie. Beide argumentieren im Kern ähnlich: Empathie sei ein begrenztes Gut, wir könnten uns unmöglich in alle anderen einfühlen – und täten das deshalb bevorzugt bei denen, die uns ähnlich sind, mit denen uns etwas verbindet, so Bloom.
Damit ebne die Empathie den Weg zur Parteilichkeit, zur ungerechten Bevorzugung der einen gegenüber den anderen. Besser sei es, wenn wir unsere Entscheidungen nicht daran messen, wie empathisch sie sind, sondern wie rational: wie gut sie sich objektiv begründen lassen.
Die wichtigsten Erkenntnisse der Studie
- «Roots of Empathy» wirkt: Im Durchschnitt wurden Kinder, die am Programm teilnahmen, dadurch einfühlsamer, halfen und teilten mehr und waren im Zusammenleben seltener aggressiv.
- Diese Wirkungen dauerten auch ein Jahr nach Abschluss des Programms noch an.
- «Roots of Empathy» verbessert vermutlich nicht das Einfühlungsvermögen der Kinder, sondern regt sie dazu an, dieses häufiger zu nutzen.
- Unklar ist, ob die beobachteten Wirkungen auf die eigene Klasse begrenzt bleiben: In einem Spiel mit fremden Kindern verhielten sich «Roots of Empathy»-Kinder nicht sozialer als Kinder der Vergleichsgruppe.
- Für Lehrpersonen stellt das Programm eine interessante Möglichkeit dar, soziale und emotionale Kompetenzen ihrer Schülerinnen und Schüler zu fördern.
- Eltern könnten sich durch die Methode inspirieren lassen: Die angeleitete Auseinandersetzung mit der Entwicklung und den Gefühlen eines Babys beeinflusst die Empathie und das Sozialverhalten von Kindern positiv.
Wir gehen den Einwänden nach
Diesmal spielen die Schülerinnen und Schüler nicht mit Kindern aus ihrer eigenen Klasse, sondern mit solchen aus einem anderen Schulhaus, Kindern, die sie nicht kennen. Wir tun das, um die Grenzen der Empathie auszuloten: Verhalten sich jene Kinder, die an «Roots of Empathy» teilnahmen, auch gegenüber fremden Kindern fairer als diejenigen, die nicht in ihrer Empathie gefördert wurden? Der Test soll das Argument der Empathieskeptiker Pinker und Bloom überprüfen.
Unsere Ergebnisse stützen die Skeptiker. Im Spiel mit den fremden Kindern verhalten sich die Kinder aus den «Roots of Empathy»-Klassen nicht fairer als ihre Altersgenossen. In der Tendenz treffen sie jetzt sogar etwas öfter als die Altersgenossen eine egoistische Wahl. Es ist, als würden sich die Fünftklässler jene Taler, die sie durch ihre Fairness gegenüber den Klassenkameraden verloren haben, im Spiel mit den fremden Kindern zurückholen wollen.
Im Spiel mit fremden Kindern verhalten sich die Empathie-Geförderten gar eher
egoistischer als die anderen.
Unser Test zeigt aber etwas Wichtiges auf: Wenn die Welt wirklich an der Empathie genesen soll, dann darf das Einfühlungsvermögen nicht an den Grenzen der eigenen Gruppe stehen bleiben. Sein Einfluss muss darüber hinauswachsen.
Das Programm Roots of Empathy
Mehr zu «Roots of Empathy»:
- «Roots of Empathy»-Gründerin Mary Gordon erzählt im Interview mit das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi, wie Eltern das Mitgefühl ihrer Kinder entwickeln können.
- Wie läuft der Empathie-Unterricht mit Baby ab? Wir waren dabei.