«Kinder sollen selber bestimmen, wann sie nett sein wollen»
Illustration: Petra Dufkova/Die Illustratoren
Starke und selbstbewusste Kinder laufen weniger Gefahr, Opfer von Sucht oder Missbrauch zu werden. Die Erfahrung zeigt aber: Wir erziehen lieber nette und angepasste Kinder.
Ich bekomme immer wieder Briefe von besorgten Eltern und Grosseltern, in denen es darum geht, welche Risiken und Gefahren Kinder und Jugendliche in der grossen, bösen Welt erwarten. Ich treffe auch viele Fachleute mit einem konstant besorgten Gesichtsausdruck. Die Fragen dieser Bedenkenträger sind immer die gleichen: Wie können wir verhindern und vorbeugen?
Es ist zur Tradition geworden, Kinder und Jugendliche vor allen gefährlichen Dingen beschützen zu wollen, das heisst vor allem vor Dingen, die im Grunde von Erwachsenen benutzt, konsumiert und missbraucht werden. Nehmen wir das Verhältnis der Jugend zu Drogen und Alkohol: «Da müssen wir etwas machen», ist die landläufige Meinung.
Die statistische Wahrheit ist, dass der erwachsene Teil der Bevölkerung viel grössere Probleme mit diesen Suchtmitteln hat als die Jugend, sowohl mit Alkohol als auch mit anderen legalen und illegalen Drogen. Das, was in der Umgangssprache Nervenmedizin genannt wird, ist bei Erwachsenen hundert Mal verbreiteter als bei Jugendlichen. Der erwachsene Teil der Bevölkerung ist, gelinde gesagt, ein lausiges Vorbild für Kinder und Jugendliche. Ihr ungesunder Lebensstil kostet die Gesellschaft schwindelerregende Beträge.
Ängste schüren
Aber darüber besorgt zu sein, ist nicht beliebt, und Gott bewahre, es würde jemand Präventionsarbeit für 30- bis 40-Jährige leisten wollen. Es ziemt sich nicht, die Privatsphäre Erwachsener zu missachten. Hingegen kümmert dies wenige, wenn es um Kinder und Jugendliche geht. «Es ist ja nur zu ihrem Besten, sie brauchen die Anleitung der Erwachsenen», so die Argumentation. «Und es schadet ja nicht, wenn die Gesellschaft Geld sparen kann.»
Die Wahrheit ist: Die Erwachsenen haben viel grössere Probleme mit Alkohol und Drogen als die Jugend.
Doch es scheint, als ob öffentliche Gelder lockerer sitzen, wenn es um die Sicherheit des eigenen Nachwuchses geht. Deshalb verwundert es auch nicht, wenn Ängste geschürt werden.
Dossier: Resilienz
Doch je mehr Eltern und andere Erwachsene überbehütend, sorgenvoll und ängstlich sind, desto weniger entwickelt sich die fundamentale Lebenskompetenz der Kinder und Jugendlichen. Und umso niedriger wird deren Selbstvertrauen und umso schlechter deren Selbstwertgefühl sein.
Dabei wissen wir genau, was in der Beziehung von Eltern, Erziehern und Lehrpersonen zu Kindern passieren muss, damit Kinder ihre persönlichen Grenzen, Stärken und Verantwortlichkeiten entwickeln können. Aber wollen wir tatsächlich starke, selbstbewusste, authentische Kinder? Oder hätten wir nicht lieber nette und angepasste Kinder? Die Realität legt nahe, dass wir eigentlich Letzteres wollen.
Eine noch wichtigere Frage ist, ob es sich notwendigerweise um Gegensätze handelt. Können starke Kinder nicht auch nett sein?
Können starke Kinder nicht auch nett sein?
Alles, was ich in den letzten 40 Jahren erlebt habe, sagt mir, dass dies kein Naturgesetz ist. Starke, echte Individuen (Kinder wie Erwachsene) können grosszügig, sozial und freundlich sein. Der Unterschied zwischen diesen jungen Leuten und Erwachsenen ist eigentlich nur, dass sie wählen können, wann und wo sie nett sein wollen. Sie werden nicht durch Konventionen dazu gezwungen und kommen daher viel besser im Leben zurecht, als Individuen wie in Beziehungen zu anderen.
Und nicht zuletzt werden sie selten oder nie von Missbrauch, Selbstverletzung, Sucht und all den anderen Übeln getroffen werden, denen sie begegnen können.
Wir Eltern, Vorschullehrer und Lehrer sind es, die dies im Namen der Kinder und Jugendlichen, mit denen wir Verantwortung teilen, täglich entscheiden. Es ist unsere Entscheidung, die unserer immensen Macht über ihre Gegenwart und Zukunft entspringt. Egal wie machtlos wir uns manchmal fühlen: Wir sind an der Macht – und wir üben diese durch unsere täglichen Entscheidungen und Handlungen aus.
Lange Zeit war es eine Art sozialanthropologische Wahrheit, dass wir die Werte und das Verhalten der Jugend in 15 bis 20 Jahren vorhersagen können, indem wir die Werte und Verhaltensweisen der 33- bis 45-Jährigen analysieren. Wohlgemerkt: Wir sprechen hier über ihre wahren inneren und äusseren Verhaltensweisen, nicht über diejenigen, die sie in der Öffentlichkeit zeigen.
Welches sind unsere Werte, wenn es um die Stärkung des geistigen und sozialen Immunsystems und die Kompetenz von Kindern und Jugendlichen geht? Sie sollen freundlich, sanft, gehorsam und sozial sein und viele Freunde haben (die ebenfalls freundlich und gehorsam sind!). Sie sollen wissen, was sie wollen. Aber nur solange uns dies passt und wir die volle Kontrolle darüber nicht verlieren.
Alle unsere Erfahrungen sagen uns, dass wir gewissen Phänomenen nicht vorbeugen können: Wir können bestenfalls informieren. Die gleiche Erfahrung sagt uns, dass die tatsächliche Prävention in den ersten acht bis zehn Jahren des Lebens stattfindet: Je mehr wir versuchen, der Entwicklung ihres Selbstwertgefühls und ihrer Selbstverantwortung nicht im Wege zu stehen, desto geringer ist das Risiko, dass Jugendliche süchtig werden – egal, ob es sich um Alkohol, Drogen, Glücksspiel, Internet, Online-Spiele, Power-Shopping, Sex oder irgendetwas anderes handelt, was mit Lust und sofortiger Befriedigung einhergeht.
Moralische Erziehung hat eine destruktive Botschaft
Die Wahrheit ist so offensichtlich wie einfach: Je mehr wir versuchen, gegen etwas erzieherisch anzukämpfen, desto schlimmer wird es. Die Erklärung ist, dass jede moralische Erziehung eine konstante und äusserst destruktive Botschaft an Kinder und Jugendliche sendet: «Wir vertrauen dir nicht! Wir haben kein Vertrauen darin, dass du ein ordentlicher Mensch wirst, wenn wir dir nicht mit all unseren Ratschlägen und Ermahnungen zur Seite stehen.» Nichts untergräbt das Selbstwertgefühl des Kindes mehr als dieser ständige Mangel an Vertrauen.
Kinder sollen wissen, was sie wollen – solange uns dies passt und wir die volle Kontrolle darüber nicht verlieren.
Wahre Prävention besteht in der Fähigkeit von Erwachsenen, Kinder in ihrem eigenen Sein zu sehen, abzuwarten, auf ihre Kompetenzen zu vertrauen und darauf, dass sie das Beste wollen und ein gutes Erwachsenenleben haben werden – auf ihre eigene Weise, in ihrem eigenen Tempo.
So bliebe viel Zeit und Energie übrig, die Erwachsene dazu nutzen könnten, um an ihrem eigenen Verhalten zu arbeiten.
In Zusammenarbeit mit familylab.ch
Jesper Juul (1948 – 2019)
Nehmen Sie Ihr Kind ernst – begegnen Sie ihm mit Respekt. Kinder brauchen keine Grenzen – sondern Beziehung. Eltern müssen nicht konsequent sein – sondern glaubwürdig.
Der dänische Familientherapeut Jesper Juul hat wie kein anderer in den vergangenen Jahrzehnten Menschen mit seinen Erziehungs- und Beziehungsprinzipien geprägt. Der Gründer des Beratungsnetzwerks familylab und Autor von über 40 Büchern («Dein kompetentes Kind», «Aus Erziehung wird Beziehung») war zweimal verheiratet. Er hinterlässt einen Sohn aus erster Ehe und zwei Enkelkinder.
Jesper Juul starb am 25. Juli 2019 im Alter von 71 Jahren nach langer Krankheit in Odder, Dänemark.