Ist Cannabis eine Einstiegsdroge?
Bilder: Herbert Zimmermann / 13 Photo
Wie schädlich ist Kiffen wirklich? Experten streiten sich darüber. Viele fordern ein Verbot, andere die Legalisierung von Cannabis – oft sogar im Namen des Jugendschutzes. Eltern wünschen sich vor allem eines: Antworten. Und Aufklärung.
Dossier: Kiffen
Kiffen: Was stimmt den nun?
Eine Stunde Weltfrieden
Gasparini hat nicht den Eindruck, dass heute mehr Jugendliche kiffen als früher. Die Statistik gibt ihm recht: So gaben im Zuge der international durchgeführten Gesundheitsumfrage HSBC (Health Behaviour in Schoolaged Children) im Jahr 2002 rund 37 Prozent aller 15-jährigen Schülerinnen in der Schweiz an, mindestens einmal in ihrem Leben gekifft zu haben – 2014 waren es noch 19 Prozent. Bei den gleichaltrigen Knaben ging die Zahl im selben Zeitraum von 46 Prozent sogar auf 30 Prozent zurück.
Cannabis ist die am meisten konsumierte illegale Droge – und ein Phänomen der Jugend.
Werte vermitteln statt Druck aufbauen
Der Jugendarbeiter betont aber, dass es zur Definition des «Problemkiffers» keine allgemeingültigen Kriterien gebe. «Oft reduzieren Eltern normale pubertäre Erscheinungen aufs Kiffen, zum Beispiel, wenn ein Jugendlicher viel schläft und oft müde ist.» Überhaupt beschränkten sich Erwachsene viel zu häufig darauf, von Jugendlichen Abstinenz zu fordern, statt sie nach ihrem Befinden zu fragen. Gasparini nennt das Symptombekämpfung, die vergesse, nach Ursachen zu forschen. «Wir sollten uns vielmehr dafür interessieren, wie es Jugendlichen geht», fordert er, «und zwar nicht erst dann, wenn sie Probleme haben. Prävention heisst Beziehungsarbeit.»
«Heute sind viele Mütter und Väter besessen von der Angst, das Kind könnte sich nicht optimal entwickeln.»
Christian Kalt, Leiter der Klinik für Suchttherapie in Neuenhof
Eltern forderten von ihrem Kind die Leistungsbereitschaft, die sie selbst an den Tag legten. Demzufolge seien die Ansprüche an den Nachwuchs immens, ebenso das Risiko, an diesen zu scheitern. «Und weil alle so beschäftigt sind, ist dann niemand da, um das Kind aufzufangen», sagt Christian Kalt. «Kein Wunder, muss es als Jugendlicher irgendwann Dampf ablassen.» Im schlechtesten Fall seien Drogen das Ventil. Die beste Prävention sei darum Zeit, die Eltern ihren Kindern schenken könnten, und eine Erziehung, die Werte stärker gewichte als bare Leistung.
Wenn der Schuss nach hinten losgeht
Laut dem Suchtexperten sind es folgende: Ein überhöhter THC-Gehalt. Das Cannabis, welches heute im Umlauf ist, hat nichts mehr mit dem Kraut zu tun, das noch vor 20 Jahren geraucht wurde. Der Gehalt am Wirkstoff THC, der den Rausch bewirkt, ist bis zu fünfmal höher. Wer regelmässig eine solche Dosis konsumiert, kann den Alltag vermutlich irgendwann nicht mehr bewältigen. So ist es nicht erstaunlich, dass sich in der Suchtklinik Neuenhof die Anmeldungen von Jugendlichen häufen, die nicht Alkohol oder Kokain, sondern Cannabis aus der Bahn warf.
Risiko für junge Konsumenten: Auf dem Spiel steht nicht nur ihr Platz in der Gesellschaft, sondern auch die Gesundheit der Jugendlichen. So sind Forscher zumindest einhellig der Meinung, dass sich Kiffen bei sehr jungen Konsumenten, die mit 12 bis 13 Jahren anfangen, negativ auf die Gehirnentwicklung auswirken kann. Jugendliche mit psychischer Vorbelastung sind ebenfalls gefährdet (vgl. Interview mit Suchtexperte Oliver Berg). Verlockender Mischkonsum: Drogen sind heute nicht nur billiger, sondern auch einfach zu beschaffen. Auf der Strasse können Jugendliche fast alles haben. Zugenommen hat demzufolge vor allem der Mischkonsum von Alkohol mit Kokain und synthetischen Partydrogen, aber auch Marihuana.
«Nur eine Minderheit der Kiffer hat ein Suchtproblem – aber die, die es betrifft, werden immer jünger.»
Christian Kalt, Suchtexperte
Harte Drogen, sagt Marco, hätten er und seine Freunde noch nie probiert. Angeboten wurden sie jedoch allen schon. Besonders vor synthetischen Drogen, sagen die Jugendlichen, hätten sie Angst, sei deren Wirkung doch kaum abzuschätzen. Aber auch ein gewöhnlicher Joint kann schwere Folgen haben. Lorenzo, 16, hat nach ein paar schlimmen Erfahrungen mit dem Kiffen aufgehört. «Beim letzten Mal habe ich mich danach für drei Stunden ins Klo eingeschlossen und auf den Boden gestarrt», berichtet der Grafiklehrling. «Ich dachte, ich müsste sterben.» Auf die Panikattacke folgte ein Tief, das mehrere Tage lang andauerte. Panik und depressive Verstimmungen sind eine mögliche Folge von Cannabiskonsum, im schlimmsten Fall können sie psychotische Formen annehmen. Die Symptome klingen in der Regel ab, sobald der Körper die Substanz abgebaut hat.
Was die meisten Kiffer rauchen, ist pure Chemie
Gasparini schwebt darum ein Projekt vor, das er in Zusammenarbeit mit der Hochschule in Wädenswil umsetzen will: Jugendliche sollen ihr Gras auf Streckmittel testen lassen können. Ob das Projekt je umgesetzt und Marco es dereinst nutzen wird, ist ungewiss. Er kiffe heute ja ohnehin weniger als früher. Das hat auch mit seinem Kumpel Flurin zu tun, mit dem Marco eine Abmachung getroffen hat: Sie rauchen nur noch zu besonderen Anlässen. «Vor allem», sagt Flurin, «wollen wir dabei nicht das Stereotyp vom lustlosen Kiffer abgeben. Man kann auch kiffen, ohne dass man dabei jeglichen Antrieb verliert.» Flurin bezeichnet Cannabis als Genussmittel. «Aber ich habe Respekt vor dem Zeug. Oft höre ich nach zwei Zügen auf. Ich gönne mir das Kiffen ab und zu – aber ich brauche es nicht.»
CANNABIS – Formen und Fakten
- Hanf (lateinisch Cannabis) gehört zu den ältesten Nutzpflanzen der Welt. Aus ihr werden etwa Fasern oder Speiseöl gewonnen. Die Hanfpflanze hat über 450 verschiedene Wirkstoffe, 70 davon sind sogenannte Cannabinoide, die auch in der Medizin zum Einsatz kommen. Das psychoaktive Tetrahydrocannabinol (THC) ist vor allem für seine berauschende Wirkung bekannt.
- Wegen ihres hohen THC-Gehalts werden für Drogenhanf weibliche Hanfpflanzen verwendet. Durch ausgefeilte Anbaumethoden in sogenannten Indoor-Plantagen ist der THC-Gehalt von Cannabisprodukten in den letzten Jahren stark gestiegen – Maximalwerte kommen auf fast 30 Prozent. Getrocknete Blüten und manchmal auch Blätter der weiblichen Hanfpflanze kommen als Marihuana, Gras, Weed oder Ganja in den Handel. Ihr Aussehen ähnelt dem von Tee oder getrockneten Kräutern. Marihuana wird meist – pur oder mit Tabak vermischt – in einem Joint geraucht. Es enthält durchschnittlich etwas über 10 Prozent THC.
- Das Harz der weiblichen Hanf-Blütenstände wird als Haschisch, Piece oder Dope bezeichnet. Haschisch hat eine dunkle Farbe, seine Konsistenz kann bröcklig oder fest sein. Für den Verkauf wird es zu Platten oder Klumpen gepresst. Haschisch enthält etwas mehr THC als Marihuana, üblicherweise etwa 12 bis 13 Prozent. Meist wird es geraucht, kann aber – wie Marihuana – auch via Wasserpfeife (Bong) konsumiert werden. Cannabisöl ist in der Schweiz wenig verbreitet. Es wird durch ein aufwendiges Destillationsverfahren gewonnen und hat einen THC-Gehalt von über 50 Prozent. Es wird Tabak, Getränken oder Speisen beigemischt – die meisten Jugendlichen kennen Space Cakes, selbst gebackene Guetzli mit berauschender Wirkung. Cannabisöl bewirkt intensive Rauschzustände, die Dosis ist allerdings nur schwer kontrollierbar.
- Unter Bezeichnungen wie Spice oder Smoke sind synthetisch hergestellte Cannabinoide im Umlauf. Sie werden als Kräutermischungen verkauft, die angeblich als Raumduft wirken sollen. In der Tat werden diese Mischungen allerdings meist geraucht. Künstliche Cannabinoide sind gefährlich, weil sie stärker wirken als natürliches Cannabis und ihre Konzentration stark variieren kann.
Zur Autorin
Weiterlesen:
- «Wer jung mit Kiffen beginnt, hat ein Problem». Suchtexperte Oliver Berg über die Wirkung von Cannabis auf unseren Körper, was es mit dem Gehirn macht – und warum er die Legalisierung befürwortet.
- Mein Kind kifft. Was nun? Wie sollen Eltern darauf reagieren? Alarmiert oder gelassen? Mit Gesprächen oder Verboten?