Vier Augen sehen besser als zwei: Teamteaching mit Heilpädagogen - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Vier Augen sehen besser als zwei: Teamteaching mit Heilpädagogen

Lesedauer: 5 Minuten

Serie: Kind und Therapie – Teil 3

Heilpädagoginnen und Heilpädagogen erfüllen sowohl für lernstarke als auch Lernschwache Kinder eine wichtige Funktion. An Schweizer Schulen kommen sie ganz unterschiedlich zum Einsatz. Oft unterrichten sie gemeinsam mit den Lehrpersonen in derselben Klasse, manchmal aber auch nur eine Kleingruppe oder einzelne Schülerinnen und Schüler. Ein Blick in die Schule Felsberg GR zeigt, wie die unterschiedlichen Lernrhythmen von Kindern in einer Klasse durch heilpädagogisch Geschulte Lehrpersonen aufgefangen werden.

Für Irene Baselgia, die Heilpädagogin an der Schule Felsberg GR, ist heute Tag der Kleingruppe mit den Fünftklässlern. Das heisst: Gemeinsam mit den Lehrpersonen ist sie im Schulzimmer, beobachtet, unterstützt und schaut sich mit fünf Schülerinnen und Schülern das Bruchrechnen noch einmal im Detail an. Die Zusammensetzung der Kleingruppe ist nicht fix. Je nach Bedarf und Thema wechselt ein Schüler oder eine Schülerin für eine Zeit zu Frau Baselgia. Manchmal sind es die lernstarken Kinder, die von ihr Zusatzaufgaben erhalten, manchmal die Lernschwachen, mit denen sie ein Thema einführt. Mit Schulbuch, Heft und Etui unter dem Arm wechseln nun die fünf Kinder ins Übungszimmer der Heilpädagogin. 

Irene Baselgia übt dasselbe wie im Klassenzimmer nebenan. Trotzdem gibt es Unterschiede. Die Lehrperson im Klassenzimmer lässt den Schülerinnen und Schülern mehr Freiräume beim Einteilen der Lernziele fürs Bruchrechnen. Sie müssen nach zwei Beispielen selbständig weiterarbeiten. 

Irene Baselgia lässt den Kindern hingegen mehr Zeit. Sie geht mit ihnen noch einmal alle Denkschritte durch und stellt sie dann vor eine erste Aufgabe: «½ ist kleiner als 2/4. Stimmt das?» Die Kinder überlegen, Arme schiessen in die Luft. Irene Baselgia holt ein Kistchen mit den farbigen Kreis-Tortenstücken hervor. Die Viertel sind gelb. Die Hälften rot. Sie legt die Teile vor den Kindern auf dem Tisch aus. Jetzt verbindet sich das Bild vom Viertel und der Hälfte mit der abstrakten Zahl. Die Antwort ergibt sich von selbst und wird allen klar. Sie erarbeitet das Prinzip der Bruchzahlen mit den Buben und Mädchen in der kleinen Gruppe noch einmal von Grund auf. Wie kommt es, dass 1/9 kleiner als 1/8 ist? Wo doch 9 grösser ist als 8! Die Kreis-Tortenstücke in den verschiedenen Grössen helfen dabei, diese Logik zu erfassen. 

Kind und Therapie – die Serie Mehr als die Hälfte der Schweizer Schulkinder wird im Laufe ihrer schulischen ­Laufbahn einmal therapiert. Viel zu viele, sagen manche Kinderärzte und Experten, und plädieren für mehr Gelassenheit bei Schul- und Lernschwierigkeiten. Eltern wiederum sind oft ratlos, hinterfragen ihre Ansprüche, fürchten sich vor Stigmatisierung. In dieser fünfteiligen Serie möchten wir das Feld des schulischen Therapieangebots ­beleuchten. Was ist das Ziel der sogenannten sonderpädagogischen Massnahmen? Wann sind sie nötig? Was macht eine Heilpädagogin im Unterricht? Wie arbeitet eine Logopädin? Was bedeutet Psychomotorik? Und haben wir nicht vielleicht einfach falsche Vorstellungen davon, was der Norm entspricht und was nicht? Alle bisher erschienen Artikel finden Sie hier: Kind und Therapie – die Serie
Kind und Therapie – die Serie
Mehr als die Hälfte der Schweizer Schulkinder wird im Laufe ihrer schulischen ­Laufbahn einmal therapiert. Viel zu viele, sagen manche Kinderärzte und Experten, und plädieren für mehr Gelassenheit bei Schul- und Lernschwierigkeiten. Eltern wiederum sind oft ratlos, hinterfragen ihre Ansprüche, fürchten sich vor Stigmatisierung. In dieser fünfteiligen Serie möchten wir das Feld des schulischen Therapieangebots ­beleuchten. Was ist das Ziel der sogenannten sonderpädagogischen Massnahmen? Wann sind sie nötig? Was macht eine Heilpädagogin im Unterricht? Wie arbeitet eine Logopädin? Was bedeutet Psychomotorik? Und haben wir nicht vielleicht einfach falsche Vorstellungen davon, was der Norm entspricht und was nicht?
Alle bisher erschienen Artikel finden Sie hier: Kind und Therapie – die Serie
In der Kleingruppe kann Baselgia auch überprüfen, wo die Schülerinnen und Schüler stehen. Die Grundbegriffe des Bruchrechnens sind bei allen verankert. 

Bei der Frage nach Zähler und Nenner schnellen die Arme der Kinder gestreckt in die Luft. Also steigert die Heilpädagogin den Schwierigkeitsgrad der Aufgaben: «Was ist grösser, 7/8 oder 8/9?» Zur Unterstützung malt sie Kreise an die Tafel und färbt die Tortenstücke der Kreise ein. Zusammen erarbeiten sie sich die Antwort. Jetzt ist es an den Kindern, die Kreisstücke einzufärben: «Was ist grösser, 4/6 oder 3/4?» Alle fünf Kinder kommen zum selben, richtigen Resultat. Jetzt ist Üben angesagt. Fünf Köpfe beugen sich über die Aufgaben im Heft. Baselgia beobachtet, geht zu jedem Kind und kann in Ruhe alle Fragen der Kinder beantworten.

Arbeiten im integrativen Unterricht

Irene Baselgia ist schon lange Heilpädagogin. So hat sie noch erlebt, wie früher Kinder mit einer Lernzielanpassung zu einer Kleinklasse zusammengenommen und separat unterrichtet wurden. Nur Kinder mit einer Lese- und Rechtschreibschwäche (Legasthenie) oder einer Rechenschwäche (Dyskalkulie) unterrichtete sie im Einzelsetting. «Diese Legasthenie- und Dyskalkulie- Einzellektionen erlebten die betroffenen Kinder als wunderschöne Lerninseln. Zurück in der Klasse wurden diese Kinder aber immer wieder knallhart mit der Leistungsrealität konfrontiert», erzählt sie.
 
Heute arbeitet sie im integrativen Unterricht als Heilpädagogin viel enger mit den Klassenlehrpersonen zusammen. Die Arbeit in der Kleingruppe wie oben beschrieben ist nur ein kleiner Teil ihres Auftrages. Für jede Klasse sind ihr Stunden im Teamteaching zugeteilt. «Gemeinsam schauen wir, welches Kind welche Unterstützung braucht. Vier Augen sehen besser, als zwei», sagt Baselgia. In Zusammenarbeit mit den Lehrpersonen achtet die Heilpädagogin darauf, welche Schwächen, aber vor allem auch welche Stärken die Kinder einer Klasse haben. «Unser Ziel ist es, die besonderen Bedürfnisse einer Klasse respektive jedes Schülers und jeder Schülerin zu erkennen und aufzufangen.»  Das Ziel des integrativen Unterrichts ist die Prävention. Stärken und Schwächen können früher erkannt werden, denn ihre Ausbildung macht Heilpädagogen zu Spezialisten des Lernens und der kognitiven Entwicklung von Kindern. Heilpädagogen beobachten die Hör- und Seh-Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler, sind aber auch geschult in Kooperation, Beratung und der Entwicklung von Schulen oder Organisationen.

Das Schreiben üben

Vergleicht man mit früheren Zeiten,  haben die Kinder in den Fächern Deutsch und Mathematik heute keine höheren Grundanforderungen. Aber sie haben mehr Fächer als früher: eine Fremdsprache in der dritten Klasse, eine zweite Fremdsprache sowie Medien und Informatik in der fünften Klasse. Das ist anspruchsvoll. 

Dank der Kompetenzorientierung, die der Lehrplan 21 beschreibt, sollte es möglich sein, dass jedes Kind anspruchsvolle, aber seiner Entwicklung entsprechende Aufgaben bekommt, die es auch bewältigen kann. Einige Fächer fielen auch weg oder wurden reduziert. Das spürt die Heilpädagogin: Das Wegfallen oder die Kürzung der Schreiblektionen und des Zeichenunterrichts bedeutet nämlich, dass diese Fertigkeiten nun in anderen Lektionen geübt werden müssen. Je nach Klasse und Fach setzt Irene Baselgia gemeinsam mit der Lehrperson einen Schwerpunkt. «In den 1. und 2. Klassen trainieren wir Lesen und Schreiben, um die Sicherheit zu haben, dass diese Grundfertigkeiten da sind.» Wie und in welchem Rahmen die Förderung ausgestaltet wird, liegt in der Kompetenz der Heilpädagogen und Lehrpersonen. In der Schule Felsberg findet sie in der Klasse, in den unterschiedlich zusammengesetzten Kleingruppen und für Kinder mit angepassten Lernzielen je nach Bedarf auch in kurzen Einzelsettings statt. 

«Die Chemie muss stimmen» 

Baselgia schätzt das Teamteaching sehr. Sie ist sich allerdings auch bewusst, dass es seine Tücken haben kann. «Die Chemie zwischen Lehrperson und Heilpädagogin muss stimmen», sagt sie. Meinungsverschiedenheiten dürfen, ja müssen vorkommen. Für Baselgia sind sie die Grundlage für gute Diskussionen. «Wir können durch diesen Austausch über das Lehren und Lernen reflektieren», sagt sie. Der Austausch zwischen Lehrpersonen und Heilpädagogen findet nicht nur zwischen Tür und Angel statt, sondern ist als Besprechungslektion respektive Halblektion im wöchentlichen Stundenplan klar festgelegt und bezahlt. «Das ist ein wichtiger Teil unserer Arbeit.» Die Schulglocke läutet. Die Lektion in der Kleingruppe ist zu Ende. Irene Baselgia trifft sich mit der Klassenlehrerin zu einer kurzen Absprache. Und für die Schülerinnen und Schüler heisst es nun: zu Hause weiterüben.

Zur Autorin

Ursina Trautmannist Journalistin und Autorin, schreibt Bücher sowie für Zeitschriften und Bühne. Sie hat zwei Töchter (15 und 10) und interessiert sich für Psychologie und Entwicklungsfragen.
Ursina Trautmannist Journalistin und Autorin, schreibt Bücher sowie für Zeitschriften und Bühne. Sie hat zwei Töchter (15 und 10) und interessiert sich für Psychologie und Entwicklungsfragen.


Serie: Kind und Therapie

TEIL 1 Das Therapie-Dilemma
TEIL 2 Logopädie
TEIL 3 Heilpädagogik
TEIL 4 Psychomotorik
TEIL 5 Ergotherapie

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