«Mir war bewusst, dass ich meinen Tod in Kauf nehme»  - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Merken
Drucken

«Mir war bewusst, dass ich meinen Tod in Kauf nehme» 

Lesedauer: 3 Minuten

Der Weg eines Teenagers in die Abhängigkeit und zurück: Zuerst kifft und trinkt er, dann werden Ecstasy, LSD und Kokain seine Partyfreunde, schliesslich wird er abhängig von ­Psychopharmaka. Erst der Satz einer Freundin rüttelt ihn auf. 

Als Rafael* mit 15 Jahren zu kiffen anfängt, findet das niemand schlimm. Er hat gerade eine Lehre zum Elektriker begonnen, ein bisschen Gras zu rauchen ist bei Kollegen verbreitet. «Rauchen, kiffen, später kam noch der Alkohol hinzu – das war absolut okay, da hat keiner was gesagt», erinnert sich der heute 26-Jährige, der im Kanton Aargau lebt. Der Konsum ist damals noch halbwegs kontrolliert: Unter der Woche trinkt Rafael nur Bier. Davon durchaus eine Menge, aber nicht zu viel, er will arbeitsfähig bleiben. Am Wochenende aber ist die Selbstbeherrschung vergessen. Wodka, Schnaps, alles, was für die jungen Leute irgendwie erschwinglich ist, rinnt die Kehlen hinunter. 

Rafael wird etwa alle drei Monate krank und fällt für ein paar Wochen aus, doch der Gedanke, dass das mit seinem Substanzkonsum zu tun haben könnte, kommt ihm nie. Als seine Mutter das Gespräch sucht, blockt er ab. «Sie rauchte und trank ja selber, also habe ich das nicht ernst genommen. Unser Verhältnis war angespannt, daher war mir mehr oder weniger egal, was sie sagte. Ich war bei diesem Thema generell nicht sehr aufnahmefähig, habe nicht realisiert, was da gerade passierte.»

Mit 17 probiert Rafael Ecstasy. «Ich wollte das eigentlich nicht nehmen. Wir waren betrunken und auf einmal war es da.» Die Nacht ist eine einzige lange Party. Und am nächsten Morgen hat er keine Nachwehen, der junge Körper steckt das problemlos weg. LSD, Ecstasy und Speed werden zu Rafaels Partyfreunden. Er ist wieder betrunken, als er kurz darauf zum ersten Mal Kokain kauft. «Plötzlich hatte ein Kollege was, ­keine Ahnung woher.»

Ein breites Spektrum an Substanzen hilft Rafael bei dem, was er am meisten will: Abschalten. «Ich bin mit zig Sachen nicht klargekommen. Bei meiner Arbeit herrschte ein ­raues Klima, ich war meist mit einem Kollegen unterwegs, der keinerlei Einfühlungsvermögen für junge Leute hatte. Wir hatten politische Differenzen und er hat auch Schläge ausgeteilt. Mit meiner Mutter gab es daheim hauptsächlich Streit, sie war dann später auch depressiv und eigentlich immer nur mit sich beschäftigt. Ihr Freund war zwar nett, aber der hat sich auch vor allem um sich selbst gekümmert.» Das Trinken, erinnert er sich, habe ihn entspannt und locker gemacht, dann war er offener bei Kollegen, wie alle. 

Als seine Mutter das Gespräch sucht, blockt er ab. «Sie rauchte und trank ja selber, also habe ich das nicht ernst genommen.»

Mit Anfang 20 hört Rafael auf zu kiffen. «Ich fühlte mich ständig verfolgt, wurde paranoid. Das Aufhören fiel mir leichter als gedacht. Ich habe auch weniger Alkohol getrunken.» Dafür kommt jetzt eine andere Abhängigkeit in sein Leben: Benzodiazepine, Psychopharmaka. «Das ging sehr schnell sehr steil. Ich habe die von einer Kollegin und von meinem Hausarzt bekommen, sie waren ja verschreibungspflichtig. Sie halfen mir, den Alltag zu überstehen, ich war da gerade in einer Weiterbildung. Am Wochenende verschaffte ich mir meine Blackouts dann zusätzlich mit Alkohol und Kokain.»

Dass Rafael sich schliesslich selbst einweist und acht Wochen lang einen harten Entzug macht, hat er einem einzigen Wort von einer Kollegin zu verdanken, die ihm sagt: Rafael, die Kombination aus Benzos, Alkohol und Kokain ist Selbstmord. «Mir war klar, dass es in diese Richtung geht, mir war bewusst, dass ich meinen Tod in Kauf nehme. Mir war vieles egal – aber so egal war ich mir selbst dann doch nicht.»

Seit April 2017 ist Rafael clean. Er hat – unter anderem in der Psychotherapie – gelernt, ehrlich zu sich selbst zu sein und sich Probleme einzugestehen. Er arbeitet noch nicht wieder, doch er hat einen Traum: ein Psychologiestudium. Um dafür zugelassen zu werden, muss er noch einiges nachholen, doch das hält ihn nicht ab. «Ich möchte Menschen helfen, und dafür arbeite ich. Es ist das erste Mal überhaupt, dass ich nicht einfach Dinge mache, ohne zu wissen wofür, sondern eine Perspektive habe.»

*Name geändert

Dieser Artikel gehört zum
Dieser Artikel gehört zum Online-Dossier Sucht. Lesen Sie mehr zu folgenden Fragen: Wann müssen Eltern hellhörig ­werden? Wie sollen Mütter und Väter reagieren, wenn der Sohn rund um die Uhr am Gamen ist oder die Tochter ­volltrunken heimkommt? Wann ist viel zu viel? 


Thema Sucht, Drogen und Alkohol: Rat und Hilfe 

  • Umfassende Informationen für Betroffene, Angehörige oder Nahestehende sowie Lehrpersonal finden sich auf der Website von Sucht Schweiz: www.suchtschweiz.ch Unter der Gratisnummer 0800 104 104 von Sucht Schweiz finden Sie dienstags bis donnerstags von 9 bis 12 Uhr sowie von 14 bis 16.30 Uhr ein offenes Ohr und Unterstützung.Unter praevention@suchtschweiz.ch reagieren die Mitarbeiterinnen und ­Mitarbeiter von Sucht Schweiz in der Regel innerhalb von drei Arbeitstagen auf Anfragen per Mail. Diese Form der Kontaktaufnahme ist nicht verschlüsselt.Auf www.safezone.ch beraten Expertinnen und Experten über ein gesichertes Mailsystem kostenlos und anonym online zu Suchtfragen. Unter www.suchtindex.ch finden Sie Adressen regionaler Beratungsstellen.