Herr Gfeller, wie arbeiten Lehrer und Eltern besser zusammen?  - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Herr Gfeller, wie arbeiten Lehrer und Eltern besser zusammen? 

Lesedauer: 8 Minuten

Vielen Lehrpersonen machen die hohen Anforderungen an ihren Beruf zu schaffen, sie sind Burn-out-gefährdet, steigen aus. «Es reicht heute nicht mehr, eine ambitionierte Lehrperson zu sein, die ihren Beruf liebt», sagt Urs Gfeller von der Pädagogischen Hochschule Bern. Der Pädagoge über den allgemeinen Autoritätsverlust, zu hohe Ideale und wichtige Sätze am ersten Elternabend.

Ein heller Raum in der Pädagogischen Hochschule Bern. Zusammengeschobene Tische sollen kleinen Gruppen die gemeinsame Arbeit ermöglichen, Loungemöbel das Entspannen. Hinter einem Raumteiler erwartet den Besucher das Herzstück des grossen Zimmers: ein alter, wunderschöner Holztisch. «So etwa soll der Klassenraum von morgen aussehen», sagt Urs Gfeller, Bereichsleiter Berufsbiografie, Beratung und Unterstützung an der PH Bern. «Wollen wir uns setzen?»

Herr Gfeller, Studien zufolge gibt jede fünfte Lehrperson in den ersten vier Jahren ihren Beruf auf. Sind es wirklich so viele? 

Ich kenne diese Studien auch. Ob dies viele sind oder ob dies vergleich­bar mit andern Berufsgattungen ist, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. 
Urs Gfeller, M.A., war Primar- und Sekundarlehrer, studierte Theologie und Psychologie und liess sich zum Coach/Supervisor BSO und zum Ehe- und Familientherapeuten weiterbilden. Heute leitet er den Bereich Berufsbiografie, Beratung und Unterstützung an der Pädagogischen Hochschule Bern. Er ist Vater dreier erwachsener Kinder und wohnt in Bern. 
Urs Gfeller, M.A., war Primar- und Sekundarlehrer, studierte Theologie und Psychologie und liess sich zum Coach/Supervisor BSO und zum Ehe- und Familientherapeuten weiterbilden. Heute leitet er den Bereich Berufsbiografie, Beratung und Unterstützung an der Pädagogischen Hochschule Bern. Er ist Vater dreier erwachsener Kinder und wohnt in Bern. 

Aber welches sind die Gründe für diesen frühen Ausstieg aus dem Beruf? 

Trotz einer guten Grundausbildung, trotz ausgebauten Praktika, trotz speziellen Angeboten für Berufsein­ steigende ist der Schritt zur selbst­ verantwortlich handelnden Lehrper­son noch immer gross. Viele fühlen sich all den Ansprüchen, die sie selbst an sich stellen und die von aussen auf sie zukommen, nicht gewachsen. Andere haben das Lehr­amtsstudium von Anfang an als Grundausbildung gesehen, auf der sie weiter aufbauen möchten. 

Sie leiten an der Pädagogischen Hochschule Bern den Bereich Berufsbiografie, Beratung und Unterstützung. Dieser bietet unter anderem ein Internetforum an, über das sich Lehrpersonen beraten lassen können. Mittlerweile sind dort rund 1700 Lehrpersonen registriert. Was brennt Lehrerinnen und Lehrern heute unter den Nägeln? 

Das Spektrum an Themen, mit denen Lehrpersonen auf uns zukom­men, ist sehr breit und reicht von schwierigem Schülerverhalten oder anspruchsvollen Unterrichtssitua­tionen, fehlender Unterstützung durch die Schulleitung über Rechts­fragen bis hin zu Fragen zur Eltern­arbeit. Leider machen wir die Beob­achtung, dass viele Lehrpersonen solche Beratungsangebote wie unse­res recht spät nutzen… 

«Viele Lehrer nutzen solche Beratungsangebote wie unsere recht spät.» 

Urs Gfeller, Pädagoge

… und diese tauchen dann in den Statistiken als diejenigen Lehrpersonen auf, die ihren Job nach 10 oder sogar 15 Jahren an den Nagel hängen. Warum? 

Sagen wir, manche von ihnen. Eini­ge haben das Gefühl, dass sie selbst immer älter und die Kinder immer jünger werden. Die Digitalisierung schreitet immer weiter voran, viele Lehrpersonen meinen, mit den neuen Fähigkeiten und Fertigkeiten ihrer Schüler diesbezüglich nicht Schritt halten zu können. Sie können sich schlichtweg nicht vorstellen, mit diesem Beruf in Pension zu gehen. Einen anderen Grund sehe ich in den gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte. 

Die da wären? 

Ich spreche insbesondere den allge­meinen Autoritätsverlust an. Früher galten Ärzte, Pfarrer und auch Lehr­personen als die unumstösslichen Instanzen auf ihrem Gebiet. Heute gibt es das Internet. Wir können uns zu jeder Zeit über alles infor­mieren und ausgewiesene Experten mit unserem (Halb-)Wissen konfrontieren.

Was bedeutet das für den Schulalltag?

Es reicht heute nicht mehr aus, eine ambitionierte Lehrperson zu sein, die ihren Beruf liebt. Lehrpersonen müssen sich als Fachkräfte, als Pädagoginnen und Pädagogen ausweisen. 

Gegenüber den Eltern?

Vor allem gegenüber den Eltern, ja. Als Lehrperson muss ich überzeugt sein von mir und meiner Art, zu unterrichten, und ich muss meinen Auftrag als Lehrperson klar kommunizieren können. Und das bereits am ersten Elternabend: «Liebe Eltern, von diesem Menschenbild gehe ich aus, dies verstehe ich unter Lernen, ich wende diese oder jene Didaktik an, dies erwarte ich von Ihnen, liebe Eltern, und das können Sie von mir erwarten. Meine Elterninformation ist wie folgt. Zu diesen Zeiten können Sie mich telefonisch erreichen, zu jenen nicht.» Wenn eine Lehrperson heute nicht genau sagen kann, was sie unter Lernen versteht, haben Eltern sehr schnell das Gefühl, dass sie es anstelle von ihr sagen müssen. Wer sich vor den Eltern nicht klar definiert, wird verständlicherweise von ihnen definiert.

Familien stehen heute unter einem hohen wirtschaftlichen Druck. Und viele Eltern haben Sorge, dass ihr Kind den Anschluss in dieser globalisierten Welt nicht schafft.

Das ist oft so. Dazu kommt noch, dass viele Eltern ein schlechtes Gewissen plagt, für ihre Kinder zu wenig Zeit zu haben. Und dieses schlechte Gewissen projiziert man auf die Schule: Wenigstens dort muss ihr Kind zu dem kommen, was es braucht. Dass dem so ist, ist absolut verständlich. 

Mit welchen Folgen? 

Sehen Sie, es geht darum, zum Wohle des Kindes ein Wir-Gefühl zu schaffen. Es braucht ein Bündnis mit den Eltern, das aufzeigt, was ihre Aufgabe und was Aufgabe der Schule ist. Wenn sich Eltern aber nur kritisch gegenüber der Schule positionieren, dann ist das eine sehr schwierige Aufgabe. Lehrpersonen müssen sich das Vertrauen der Eltern heute verdienen, es ist nicht mehr «kraft ihres Amtes» gegeben. 

Die Elternarbeit kommt heute immer noch zu kurz?

Meiner Ansicht nach ja. Dabei ist die Elternarbeit ein Schlüssel zum Lernerfolg der Kinder. Und zur Gesunderhaltung der Lehrperson. Es gilt, die Eltern in einem für sie möglichen Mass einzuladen, am Entwicklungsprozess ihrer Kinder im Rahmen der Schule teilzunehmen und Mitverantwortung zu übernehmen. Es gilt, die Eltern als Partner auf Augenhöhe ernst zu nehmen. Als Partner, der uns sein Liebstes anvertraut, seine Kinder. Das ist sehr wichtig. Dort verharren wir oft noch zu sehr in alten Formen. 

Nun stellen wir uns eine Klasse mit 20 Schülern vor, von denen sich 3 gegen die Lehrperson verschworen haben. Deren Eltern wollen die Fehler aber nicht beim eigenen Kind sehen. Was wollen Sie denn da machen? Das ist doch alles andere als einfach! 

Da haben Sie recht. Und so etwas kommt nicht selten vor. Aber es kommt auch auf das Verhalten der Lehrperson an. Kinder und Jugendliche sehnen sich danach, so angenommen zu werden, wie sie sind. Wenn ein Kind aggressiv handelt, dann ist das nicht per se ein aggressives Kind, sondern das Verhalten ist immer an ein Setting gebunden. Dieses Kind ist nicht rund um die Uhr aggressiv. Oft steht hinter der Aggression eine Not, die von der Lehrperson gesehen werden sollte. Wenn dies geschieht, ist im Verhältnis Lehrperson – Schüler oder Schülerin schon viel gewonnen. 
Urs Gfeller hat auf Primar- und -Sekundarstufe unterrichtet. 
Urs Gfeller hat auf Primar- und -Sekundarstufe unterrichtet. 

Können Sie ein Beispiel nennen? 

Als ich vor vielen Jahren selbst unterrichtet habe, gab es in meiner Klasse einmal einen Reto. Der 17-Jährige hat alles sabotiert, was ich gemacht habe, reingeschwatzt, die Klasse zur Unruhe verführt. Er hat meine komplette Aufmerksamkeit auf sich gezogen. 

Was haben Sie unternommen? 

Wir haben einen Lernvertrag aufgesetzt, den Reto, seine Eltern und ich unterschrieben haben. Doch das hat alles nichts gebracht. Irgendwann habe ich ihn dann durch Zufall Fussball spielen sehen. Am Wochenende, fernab vom Schulhaus. Ich war verblüfft. War dieser talentierte Bub der Reto, der mir das Lehrerleben so schwer macht? Am Montag habe ich ihn dann angesprochen: «Reto, ich habe dich Fussball spielen sehen und ich war tief beeindruckt.» Es mag kitschig klingen aber von diesem Moment an gab es keine Probleme mehr mit ihm. Ich hatte Reto dort erlebt, wo er jemand ist, wo er seine Begabung lebt. Er fühlte sich von mir in seinem Wert erkannt. Was heisst das für die Beziehung von Lehrpersonen zu ihren Schülern? Dort, wo Lehrpersonen in die Beziehung zu ihren Schülern investieren, können Dinge, die nicht gut laufen, undramatischer angesprochen und gelöst werden. Ein «Bis hierhin und nicht weiter» wird von Kindern und Jugendlichen letztendlich geschätzt. Es muss aber auf der Ebene des «Angenommenseins» passieren. Nicht umsonst heisst es, dass «Beziehung vor Erziehung kommt». Doch in unserer Kultur sind wir oft zu defizitorientiert. 

Wie meinen Sie das? 

Wir schauen vor allem auf das, was schlecht läuft. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass im Elternhaus zigmal mehr sanktioniert wird als gelobt. Wie oft weisen wir ein Kind zurecht, das sich beim Znacht unangepasst benimmt: «Zapple nicht so herum», «Benutz Messer und Gabel», «Sprich nicht mit vollem Mund» und so weiter. Ebenso in der Schule. Über das Kind, das unauffällig und fleissig seine Arbeit macht, weiss die Lehrperson oft wenig zu sagen – aber auch dieses Kind möchte wahrgenommen werden. Oder stellen Sie sich einen Elternabend vor: 18 Elternpaare sind zufrieden mit der Lehrerin, 2 beschweren sich über ihren Unterrichtsstil – worüber denkt die Lehrperson wohl nach, wenn sie nach Hause geht? 

Wahrscheinlich über das, was sie vermeintlich falsch gemacht hat – und eigentlich besser machen müsste.

Eine wesentliche Aufgabe von Lehr­personen ist, ein Kind zu beGUTach­ten, das Gelingende in den Fokus zu nehmen. Dadurch entstehen Bezie­hung und das Vertrauen, Defizitäres angehen zu können. So entsteht auch eine andere Stimmung in der Klasse. 

Sie erwähnten zu Beginn unseres Gesprächs das Verhältnis zwischen Lehrpersonen und Schulleitung. 

Das ist in unserer Beratung häufig ein Thema. Ich erlebe Lehrpersonen, die beklagen, dass die Schulleitungen vor den Eltern kuschen. Andere Lehrpersonen gehen Kollegen, die unter Beschuss stehen, aus dem Weg, weil sie nicht selbst in die Schusslinie geraten möchten. Wir raten betrof­fenen Lehrpersonen, sich in diesen Fällen Hilfe zu holen, damit das ge­klärt wird. Das passiert leider zu selten. 

Mit welchen Folgen? 

Es besteht die Gefahr, in die Einsam­keit abzudriften, weder von der Schulleitung noch von Kollegen oder den Eltern verstanden zu werden. Oft führt dies in die Krankschreibung. 

Sprechen Sie von Einzelfällen? 

Nein, eine von 15 Lehrpersonen fühlt ähnlich. Das Einzelkämpfer­tum ist immer noch ein grosses Thema. Dabei können nur in kooperie­renden Teams die vielfältigen Aufgaben erfüllt werden, die an die Schule gestellt werden. 

«Das Gefühl, ich werde von manchen Eltern nicht gemocht, weil ich in ihren Augen ihrem Kind nicht gerecht werde, tut weh.» 

Urs Gfeller leitet den Bereich Berufsbiografie, Beratung und Unterstützung an der Pädagogischen Hochschule in Bern. 

Welche Persönlichkeiten laufen am meisten Gefahr auszubrennen?

Diejenigen, die ihre Bestätigung hauptsächlich von aussen suchen. Die hohe Ideale haben, wenig Ambi­guitätstoleranz, das heisst, eine ge­wisse «Unsicherheitstoleranz», kaum selbstregulative Fähigkeiten und wenig soziale Kontakte. Ausserdem sind natürlich Menschen gefährdet, die perfektionistisch veranlagt sind, die es allen recht machen wollen. Das Gefühl, ich werde von manchen Eltern nicht gemocht, weil ich in ihren Augen ihrem Kind nicht gerecht werde, tut weh. Das muss man aushalten können. Wer das nicht kann, kommt ins Rechtfertigen. Ich kann erklären, informieren, aber wer rechtfertigt, der hat verloren. 

Was kann ich denn als Mutter beziehungsweise Vater für ein gutes Verhältnis zur Lehrperson meines Kindes tun? 

Wichtig ist, Achtung und Respekt zu zeigen. Auch vor der Grösse der Auf­gabe, mit 20 Kindern unterwegs zu sein. Das verdient höchste Achtung, vor allem wenn spürbar ist, dass die­se Lehrperson ihren Beruf – natür­lich – nicht fehlerfrei, aber doch von ganzem Herzen ausübt. Ich habe vor Kurzem mit einer Lehrperson ge­sprochen, die gesagt hat, es sei schon traurig, sie bekomme nur Anrufe von Eltern, wenn etwas nicht gut laufe. Es gebe nie eine positive Rückmeldung. 
Fritz+Fränzi-Autorin Evelin Hartmann im Gespräch mit Urs Gfeller an der Pädagogischen Hochschule in Bern.
Fritz+Fränzi-Autorin Evelin Hartmann im Gespräch mit Urs Gfeller an der Pädagogischen Hochschule in Bern.

Was haben Sie dieser Lehrperson gesagt? 

Ich habe sie gefragt, ob sie denn die Eltern anrufe, wenn etwas Schönes vorgefallen sei. Wie gesagt, Eltern haben nicht viel Zeit. Aber über einen Anruf im Jahr, in dem die Lehrperson ausschliesslich etwas Positives über ihr Kind berichtet, darüber würde sich jede Mutter, jeder Vater freuen. So würden Eltern die Schule auch noch einmal anders kennenlernen. Es ist doch so, dass wir die Schule über die Schilderungen unserer Kinder wahrnehmen. Und die Kinder erzählen auch manchmal Dinge, die objektiv betrachtet nicht so gelaufen sind. Weil sie dann gut dastehen oder sich Freiraum erkämpfen möchten. Das Bild von der Schule wird vom Kind vermittelt.

Ein Klassiker wäre der Satz: «Ich kann die Hausaufgaben nicht machen, weil  die Lehrerin das schlecht erklärt hat, erklär du es mir.» 

Dann geht es nicht darum, als Vater oder Mutter noch einmal die Aufgabe zu erklären, sondern zu sagen: «Dann geh doch morgen noch einmal zur Lehrerin und sag, du hättest es nicht begriffen.» Dies machen aber viele Eltern nicht. Was auch nachvollziehbar ist. In der Pubertät sind die Momente, in denen Eltern und Kinder gemeinsam über die Schule schimpfen, oftmals die einzigen, in denen sie sich noch einig sein können. 

Was längerfristig gesehen für das Wir-Gefühl zwischen Elternhaus und Schule nicht besonders förderlich ist.

Das ist so. Wenn es Eltern aber gelingen würde, der Lehrperson wertneutral zuzuhören und das ernst zu nehmen, was sie sagt, und wenn sich anderseits die Lehrperson bewusst machen würde, dass sie das Kostbarste dieser Eltern in die Zukunft hinein begleitet, dann wäre viel gewonnen. Denn Kinder brauchen eine Gemeinschaft, die sie trägt, sie brauchen Herausforderungen, an denen sie wachsen können, und sie brauchen Vorbilder, an denen sie sich orientieren können. 
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