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«Man kann die Persönlichkeit eines Kindes nicht verändern»

Lesedauer: 8 Minuten

Der Kinder- und Jugendpsychiater Michael Schulte-Markwort beschreibt ein neues Phänomen der «mutlosen Mädchen». Der Autor über ­gestresste Mütter, ambitionierte Väter und Kinder, die sich an der Schwelle zur Eigenständigkeit der Welt verweigern.

Interview: Evelin Hartmann
Bilder: Julia Steinigeweg

Herr Schulte-Markwort, Sie haben ein Buch über «mutlose Mädchen» geschrieben, die Sie in Ihrer ­therapeutischen Praxis erleben. Wodurch zeichnen sich diese aus? 

Es handelt sich meist um jugendliche Mädchen oder junge Frauen, denen allen eine Art Mutlosigkeit gemein ist. Sie fühlen sich von nichts in die Welt hineingezogen, bezeichnen alles als uninteressant und langweilig. Sie scheinen in ihrer Entwicklung stecken geblieben. 

Wie äussert sich das konkret? 

Diese Mädchen haben sich in sich selbst zurückgezogen, fühlen sich leer, kraftlos und ängstlich, aber können nicht sagen warum. Sie pflegen keine realen sozialen Kontakte und gehen irgendwann auch nicht mehr in die Schule. Manche verletzen sich selbst oder äussern Suizidgedanken. Diese Mädchen sind im Schnitt 15 oder 16 Jahre alt, wenn dieses Verhalten meist schleichend beginnt. Und das in einer Lebensphase, in der es eigentlich darum geht, Perspektiven für das eigene Leben zu entwickeln, sich von zu Hause beziehungsweise den Eltern abzunabeln. 

Michael Schulte-Markwort ist Facharzt für Kinder- und ­Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. Der Ärztliche Direktor ist besonders bekannt für seine Arbeiten zur Erschöpfungs­depression bei Kindern und Jugendlichen. Er lebt mit seiner Familie in Hamburg.

Sind dies Anzeichen für eine Kinder- beziehungsweise Jugenddepression? 

Wir haben im Kollegenkreis lange Zeit darüber diskutiert, ob es sich nicht einfach um eine Unterform der Depression handeln könnte. Doch eine medikamentöse Behandlung schlägt bei diesen Patientinnen nicht an. Sie zeigen ein depressives Verhalten, wofür eine Depression oder eine andere psychische Erkrankung nicht die Ursache ist. Dies betrifft etwa fünf Prozent unserer Patientinnen. Wir sprechen also über eine kleine Gruppe, die mir aber sehr bemerkenswert erscheint, da sie eine gesellschaftliche Wunde aufzeigt. 

Wie meinen Sie das? 

Diese Mädchen stammen in der Regel aus einer auf den ersten Blick intakten Familie, in der beide Elternteile berufstätig sind – und vor allem die Mutter stark gefordert, mitunter überfordert ist, da sie alles unter einen Hut bringen muss: Haushalt, Kinderbetreuung und Erziehung sowie ihren Beruf. 70 Jahre emanzipatorische Entwicklung sind zulasten der Frauen gegangen.

Diese Gruppe sagt: Meine erfolgreiche, aber erschöpfte Mutter ist für mich kein Vorbild.

Frauen sollen Kinder zur Welt bringen, versorgen und gleichzeitig finanziell auf eigenen Füssen stehen – so die gesellschaftliche Forderung. Für das Gelingen dieses Spagats zwischen Erwerbstätigkeit und privater Carearbeit sind sie aber überwiegend selbst verantwortlich. Mütter werden in unserer Gesellschaft alleingelassen. Ihre Töchter haben scheinbar alle Möglichkeiten, in ein selbst­bestimmtes Leben zu starten, und doch verweigert sich eine kleine Gruppe und sagt: «Den Weg ­meiner Mutter möchte ich nicht gehen. Meine erfolgreiche, aber erschöpfte Mutter ist für mich kein Vorbild.» 

Warum schaffen diese ­Mädchen keinen Gegenentwurf?

Für junge Mädchen ist der Lebensentwurf ‹Hausfrau› keine Option. Diese Rolle hat einen viel zu tiefen Stellenwert in unserer Gesellschaft. Stattdessen entwickeln sie verschiedene Abwehrmechanismen, mit denen sie sozusagen die Welt entleeren, indem sie sagen «das interessiert mich alles nicht». Das Kennzeichen dieser Mädchen ist das Schulterzucken. Aber ich möchte noch einmal betonen, dass es sich bei diesen Mädchen um eine Minderheit handelt.

Grundsätzlich beobachte ich, dass sich die Kinder heute gut entwickeln – sie werden emotional immer klüger, kompetenter sowie zugänglicher. Die Mädchen schneiden bei dieser Bewertung sogar etwas besser ab als die Buben. Trotzdem sollten wir zu dieser kleinen Gruppe gut schauen. Ich wollte daher auf ihre Problematik aufmerksam machen und einen gesellschaftlichen Diskurs in Gang bringen. 

Sie sprechen von einem neuen ­Phänomen. Spielen die derzeitigen Krisen wie die Corona-Pandemie oder der Ukrainekrieg eine Rolle? 

Tatsächlich beobachten wir das Phänomen dieser «mutlosen Mädchen» bereits seit mehr als fünf Jahren, also prä-pandemisch und auch vor Ausbruch des Ukrainekriegs. Es gibt übrigens auch mutlose Buben, doch diese Gruppe bleibt seit Jahrzehnten etwa konstant gross. 

Bei Ihren Patientinnen handelt es sich meist um Teenager beziehungsweise junge Erwachsene. Wie waren diese als kleine Mädchen, oder anders gefragt: War diese Entwicklung schon in der Kindheit absehbar? 

Natürlich gibt es eine Persönlichkeitskomponente. Wenn man bei den Eltern nachfragt, beschreiben sie ihre Töchter als von klein auf eher ängstlich und schüchtern, aber vordergründig unauffällig. Das waren Mädchen, die ihr Leben ausreichend fröhlich und zufrieden gelebt haben. Und die ihren Eltern und Lehrern nie grosse Probleme bereitet haben. 

Und diese angepassten Mädchen ­bleiben auf einmal in ihrer Entwicklung stecken. Auf der Suche nach der ­Ursache thematisieren Sie im Buch neben dem familiären Umfeld noch zwei weitere wichtige Lebensbereiche von Kindern und Jugendlichen: die Schule und die sozialen Medien. 

Die Schulen scheinen mir in diesem Zusammenhang eine bedeutende Rolle zu spielen, da sie wenig darauf ausgerichtet sind, die stillen, immer leiser werdenden Mädchen abzuholen. Ganz nach dem Motto «Wer sich nicht meldet, hat selber Schuld» anstatt «Wer sich nicht meldet, hat vielleicht ein Problem, um das ich mich als Lehrperson kümmern muss».

Die stilleren, ­zurückhaltenden Mädchen haben Angst, auf dem ­Catwalk der ­sozialen Medien unterzugehen.

Das Schulsystem – jedenfalls das deutsche – ist extrem defizitorientiert und somit nicht geeignet, Kinder zu motivieren und bei der Sache zu halten. Wenn ein Kind eine schlechte Note geschrieben hat, ist die Vermutung gleich: «Dann hat es eben nicht gelernt, es war zu faul.» Wenn das in England passiert, geht der Lehrer zu dem Kind und sagt: «Es tut mir leid, ich habe dir den Stoff offensichtlich nicht gut genug erklärt.» Ausserdem führt der Lärm in den viel zu grossen Klassen zu einem schlechten Arbeitsklima. 

Während der Corona-Pandemie ist der Unterricht oft ausgefallen. Die Kinder und Jugendlichen waren zu Hause, was ihnen nicht gutgetan hat. 

Für eine grosse Gruppe trifft diese Einschätzung zu. Die stilleren und ruhigeren Schülerinnen und Schüler haben das Homeschooling beziehungsweise den digitalen Fernunterricht durchaus geschätzt. Wir haben es meiner Meinung nach versäumt, diese Chance zu ergreifen und Kinder auch nach der Öffnung der Schulen viel selbstbestimmter und digital in ihrem eigenen Arbeitstempo lernen zu lassen. Man hätte den Hybridunterricht – da wo es möglich ist – beibehalten sollen. 

Welche Rolle spielen die sozialen Medien?

Die stilleren, zurückhaltenden Mädchen haben Angst, nicht zu bestehen, sie haben Angst, auf dem Catwalk des sozialen Lebens unterzugehen, nicht selbstbewusst genug zu sein. Dieser Catwalk findet in den sozialen Medien natürlich noch verschärfter statt und die Mädchen vergleichen sich in einer Welt, die nicht der Realität entspricht. Das kann negative Gefühle und damit Mutlosigkeit verstärken.

«Mütter werden in unserer Gesellschaft alleingelassen», sagt Michael ­Schulte-Markwort.

Andererseits bleiben die sozialen Medien für ein Mädchen, das sich in sich selbst zurückgezogen hat und reale Kontakte meidet, das Tor zur Aussenwelt. Wir Erwachsenen unterschätzen diesen Aspekt oftmals, auch bei den Jungs. Wenn sich der Sohn in virtuellen Räumen mit anderen Gamern trifft und austauscht, ist er unter Menschen. 

Wie werden die beschriebenen ­mutlosen Mädchen ­therapiert? 

Es handelt sich in jedem Fall um eine mehrjährige ambulante oder stationäre Langzeitpsychotherapie in Kombination mit sozialpsychiatrischen Elementen. Letztere können beispielsweise eine Schulbegleitung oder die Platzierung in einer Wohngruppe sein, wenn es zu Hause nicht funktioniert. Es geht darum, sehr konkrete Schritte mit dem Mädchen zu gehen, für die man jemanden wie einen Sozialarbeiter oder eine Sozialarbeiterin braucht, der beziehungsweise die das Mädchen an die Hand nimmt und in der realen Welt begleitet.

Und im Rahmen der Psychotherapie wird es immer eine Mischung sein aus Verstehenwollen: «Warum entleerst du diese Welt, was hast du davon, dass du dich für nichts interessierst? Was ist dein psychischer Gewinn dadurch?» Und einem Einfordern: «Schau, ich mache zwei Drittel des Weges zu dir, den Rest musst du kommen. Wenn du meine Hand jetzt wegschlägst, kann ich nichts machen.» Das ist oft eine zentrale Metapher in unseren Therapiesitzungen. 

Wie reagieren die Mädchen auf diese Forderung?

Meist mit grosser Verzweiflung, da sie sich eigentlich nicht öffnen wollen. Das ist eine extrem schwierige Situation. Doch aus dieser Verzweiflung speist sich manchmal eine Energie, die eine Veränderung erst möglich macht.

Eltern müssen ­verstehen, dass ­Vorschläge nicht hilfreich sind, sie müssen quasi die Bühne verlassen.

Und wenn die Mädchen realisieren, dass man bereit ist, diesen Marathonlauf mitzumachen und nicht aufzugeben, gehen sie Mikroschritte und sind irgendwann auch in der Lage, so etwas wie Lebenszufriedenheit zu bestimmen. «Woraus speist sich ­deine Zufriedenheit im Leben?» ist ja eine zentrale Frage. 

Wie geht es den Eltern dieser ­Mädchen? 

Sie sind zutiefst verzweifelt. Insbesondere, wenn ein solches Mädchen einen regelrechten «Macher-Vater» an seiner Seite hat, der völlig überfordert ist, weil er nur einen Vorschlag nach dem nächsten bringen kann und gleichzeitig wenig Verständnis für das Verhalten seiner Tochter hat. Sein Lebensmotto «Es gibt für alles eine Lösung» greift hier nicht und führt nur dazu, dass sich die Tochter noch mehr einigelt. Die Mütter sind meist hin- und hergerissen zwischen ebenfalls Handelnwollen und der Einsicht, dass sie sich – wenn sie ihr Kind nicht komplett verlieren wollen – auf sein Tempo einstellen müssen. 

Was können diese Mütter und Väter tun, um ihrem Kind zu helfen? 

Das Wichtigste ist, dass Eltern verstehen, dass Vorschläge nicht konstruktiv und hilfreich sind. Sie müssen sozusagen die Bühne verlassen und aufhören, den Mädchen Regieanweisungen zu geben. Diese Jugendlichen brauchen einen eigenen Entwicklungsraum, in dem sie in ihrem Schneckentempo agieren können. Das müssen wir ihnen zugestehen.

In der Therapie der mutlosen Mädchen fragt Schulte-Markwort:  «Warum entleerst du diese Welt?»

Erst wenn ich als Mutter beziehungsweise Vater oder auch als Therapeut authentisch anerkennen kann, dass sie wirklich zutiefst ratlos und mutlos sind und nicht weiterwissen, entsteht manchmal etwas. Und wichtig scheint mir für die Eltern, dass sie nicht meinen, Schuld an dieser Entwicklung zu haben.

Nun ist es für Eltern oft sehr schwer, ein beginnendes psychisches Problem von normalem pubertärem Verhalten zu unterscheiden. Wann ist der ­richtige Zeitpunkt, professionelle Hilfe zu suchen?

Wenn sich ein Kind immer mehr in sich zurückzieht, sich zu fast nichts mehr motivieren lässt, soziale Kontakte meidet, sollten Eltern hellhörig werden und sich beraten lassen. Allerspätestens dann, wenn das Kind nicht mehr zur Schule geht.

Meine Töchter sind nun sieben und zehn Jahre alt. Worauf sollte ich ­achten, damit sie in der Pubertät nicht in eine solche Mutlosigkeit geraten? 

Es kommt sehr darauf an, was Sie vorleben, wie Ihre Work-Life-Ba­lance aussieht. Verzicht zugunsten der Kinder scheint mir etwas zutiefst Mütterliches. Das ist auch bis zu einem gewissen Grad gut und biologisch notwendig. Doch die Frage lautet: Wo bleibe ich als Person dabei und wann muss ich bei meinem Partner eine gerechtere Arbeitsverteilung einfordern? Und wann ist der Zeitpunkt gekommen, an dem ich meinem Kind sagen kann: «Diese Aufgabe traue ich dir jetzt zu, dass schaffst du ohne mich.»?

Eltern sollten ein Profil anlegen: Was habe ich für ein Kind vor mir? Was sind seine Merkmale?

Selbstfürsorge ist ein grosses ­Thema. Und dann sollten Sie das tun, was die meisten Eltern sowieso schon intuitiv machen: ein Profil Ihrer Kinder anlegen. Was habe ich für ein Kind vor mir? Was sind seine Persönlichkeitsmerkmale? Was mache ich, wenn ich so ein aktiver, erfolgreicher Mensch bin, aber ein kleines, schüchternes Mädchen habe? Es ist die beste Prävention, nicht zu denken, die Persönlichkeit eines Kindes verändern zu können. Es geht nicht darum, aus einem zurückhaltenden Mädchen ein aktives zu machen, sondern sich seinem Tempo anzupassen. 

Was können die Väter tun? 

Erfolgreiche Väterlichkeit und Schüchternheit beziehungsweise Ängstlichkeit des Kindes passen nicht gut zusammen. Und gerade diese Väter sind besonders aufgerufen, sich um ihre zurückhaltenden Töchter zu kümmern, anstatt sich gleich zurückzuziehen, wenn das Kind nach Mama verlangt – und nicht nach Papa. Ich glaube, dass viele Väter ihre Rolle und ihre Bedeutung für ihre Töchter unterschätzen. Das ist die persönliche Ebene. Es gibt aber auch die gesellschaftliche.  

Buchtipp:

 

Michael Schulte-Markwort: Mutlose Mädchen. Ein neues Phänomen besser verstehen – Hilfe für die seelische Gesundheit unserer Töchter Kösel 2022, 256 Seiten, 34 Fr.

Wie sieht diese aus?

Wir sollten uns die Frage stellen, ob wir wirklich wollen, dass Frauen nicht alle Wahlmöglichkeit haben. Ist es tatsächlich unser Wunsch, dass Carearbeit und Mutterschaft in unserer Zeit nicht viel wert sind, Frauen nur im Beruflichen die Freiheit haben, sich zu emanzipieren und erfolgreich zu sein? Und dann sollten wir uns ernsthaft der Auf­gabe widmen, Bedingungen zu schaffen, die Familie und Beruf miteinander vereinbar machen.

Ich als Klinikleiter habe beispielsweise überhaupt kein Problem damit, wenn Mitarbeitende bei einem Betreuungsengpass ihre Kinder mit zur Arbeit bringen. Aber es herrscht eine unglaubliche Scheu, dies zu tun. Meiner Meinung nach müssen wir das Thema Arbeit und Lastenverteilung in unserer Gesellschaft nochmal neu diskutieren.

Evelin Hartmann
ist stellvertretende Chefredaktorin von Fritz+Fränzi. Sie wohnt mit ihrem Mann und den zwei Töchtern in Luzern.

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