Ich kann mich nicht entscheiden! - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Ich kann mich nicht entscheiden!

Lesedauer: 4 Minuten

Oft meinen wir, auf unseren Kopf hören zu müssen, wenn wichtige Entscheidungen anstehen. Dabei ist unsere Intuition kein schlechter Ratgeber, findet unsere Kolumnistin.

Wer Kinder hat, stellt sich viele Fragen: «Unser Bub ist gerade vier geworden. Sollen wir ihn bereits in den Kindergarten schicken oder noch ein Jahr warten?» «Können wir es unseren Kindern zumuten, wegen eines Jobangebots ins Ausland zu ziehen?» «Sollen wir unser Kind abklären lassen oder stecken wir es damit womöglich in eine Schublade?»

Immer wieder müssen wir überlegen, was das Beste für uns und unsere Kinder ist. Dabei gilt es Entscheidungen zu treffen, deren Folgen wir oft kaum abschätzen können. Wenn wir uns unsicher sind, suchen wir nach Informationen, fragen andere nach ihren Erfahrungen, bitten unser Umfeld um eine Einschätzung, gehen zum Schnuppertag oder schreiben Pro-und-­Contra-Listen und versuchen, die Argumente zu gewichten. Häufig reicht das aus, manchmal werden wir durch all die Informationen nur noch unsicherer.

Bauch oder Kopf 

Oft denken wir, dass wir Entscheidungen mit dem Verstand treffen und unsere Argumente schlüssig darlegen müssen. Gerade bei grösseren Entscheidungen entsteht der Druck, es sich «gut zu überlegen». Aber ist der Verstand wirklich immer unser bester Ratgeber?

Der portugiesisch-amerikanische Neurowissenschaftler António Damásio und sein Team führten dazu ein inzwischen berühmt gewordenes Experiment durch. Versuchspersonen sassen an einem Tisch, angeschlossen an ein Gerät, das die körperliche Stressreaktion messen konnte. Nun durften sie an einem Glücksspiel teilnehmen, bei dem sie aus zwei verdeckten Stapeln Karten ziehen konnten. Einer dieser Stapel war insgesamt vorteilhafter: Er bescherte zwar nur kleine Ge­­winne, aber nicht so grosse Verluste. Ungefähr nach zehn Zügen meldete das Messgerät eine Stressreaktion, wenn die Versuchspersonen die Hand nach dem schlechten Stapel ausstreckten. Sie nutzten diesen nun seltener. Nach etwa 50 Durchgängen entwickelte sich aus dieser körperlichen Reaktion ein Gefühl, das die Versuchspersonen als Abneigung benennen konnten. Es waren aber rund 30 weitere Durchgänge nötig, bis die Probanden das Spiel bewusst durchschauten und ihre Abneigung begründen konnten.

Wenn wir unsicher sind, suchen wir nach Informationen. Oft werden wir dadurch nur noch unsicherer.

Sogar bei Personen, die die Logik bis zum Ende nicht verstehen konnten, zeigte der Körper zuverlässig an, welcher Stapel der bessere ist – und auch sie begannen den schlechten Stapel zu vermeiden, ohne dies begründen zu können. 

Es lohnt sich also, bei Entscheidungen unsere Intuition miteinzubeziehen und nicht immer nur danach zu gehen, welche Alternative scheinbar mehr Pluspunkte auf der Pro-Liste verbuchen kann.

Unser Gehirn verarbeitet jede Sekunde Unmengen an Informationen, wobei nur ein sehr kleiner Teil bis in unser Bewusstsein vordringt. Dabei hat Intuition nichts mit Esoterik oder übersinnlichen Kräften zu tun – vielmehr beruht sie auf Erfahrungswerten, die uns bewusst oft nicht zugänglich sind. 

Doch wie zapfen wir diese ­Quelle an? 

Entscheidungsmethode Tetralemma

Das Tetralemma basiert auf einer traditionellen indischen Logik, die uns wegführt von der Enge und dem Druck, der entsteht, wenn man denkt, sich für die eine oder andere Alternative entscheiden zu müssen. Sie erweitert den Entscheidungsraum um drei Varianten: «Beides», «Keines von beidem» und «Etwas ganz Anderes». Der Philosoph Matthias Varga von Kibéd und die Psychotherapeutin Insa Sparrer haben daraus ein Coaching-Instrument entwickelt. 

Man braucht dazu nicht mehr als eine freie Fläche, fünf Blätter Papier und einen dicken Stift. Nun schreibt man die fünf Varianten auf die Blätter: Das Eine / Das Andere / Beides / Keines von beidem / Etwas ganz Anderes. 

Die ersten vier Varianten werden kreuzförmig auf den Boden gelegt. «Das Eine» und «Das Andere» stehen sich gegenüber. Die Variante «Etwas ganz Anderes» wird etwas ausserhalb platziert. 

Nun stellt man sich auf «Das Eine» und denkt an die Variante, die im Moment im Vordergrund steht. Zum Beispiel: Wir ziehen für das Jobangebot nach Singapur. Man spürt in sich hinein und achtet auf alle damit verbundenen Gefühle und Körperempfindungen. Das muss nicht lange dauern – das Ziel ist nicht, sich die Argumente für ­diese Variante ins Gedächtnis zu rufen, sondern kurz auf den Bauch zu hören. 

Als Zweites stellt man sich auf «Das Andere» und wiederholt den Vorgang.
Die dritte Variante «Beides» erscheint im ersten Moment oft unmöglich. Schliesslich kann man nicht hierbleiben und gehen, das Kind abklären und nicht abklären lassen. Lässt man sich allerdings einen Moment darauf ein, verschwindet das Gefühl der Irritation und neue Möglichkeiten tun sich auf. Vielleicht sagt man ja zu Singapur, verschiebt es aber auf einen anderen Zeitpunkt? Vielleicht merkt man, dass es vor allem um eine berufliche Veränderung geht? Vielleicht reizt der Auslandaufenthalt, aber die Zeitdauer erscheint der Familie zu lang und sollte verkürzt werden? Wenn sich diese Position am besten anfühlt, sollte im Nachhinein darüber gesprochen werden, wie sich die Vorteile beider Optionen in einer neuen Lösung verschmelzen oder ein Kompromiss finden lässt.

Mit der Entscheidungsmethode Tetralemma verlassen wir 
die starren Grenzen 
unserer ­Vernunft und geben uns ­unserer Intuition hin.

Manchmal fühlt man sich mit der Variante «Keines von beiden» am wohlsten. Man merkt, dass man sich im Moment vielleicht gar nicht entscheiden will oder dass beide Varianten sich nicht stimmig anfühlen und unbefriedigend sind.

Als Letztes stellt man sich ausserhalb des Kreuzes, etwas abseits, auf die letzte Option «Etwas ganz Anderes». Wenn man merkt, dass man auf dieser Position einen Energieschub erhält, sich die Brust weitet, der Körper sich entspannt oder es angenehm zu kribbeln beginnt, kann man im zweiten Schritt darüber nachdenken, ob nicht etwas völlig Anderes das Richtige wäre. Vielleicht kommen alte Träume, Sehnsüchte oder scheinbar verrückte Ideen zum Vorschein: Was wäre, wenn ich kündige und mich selbständig mache, anstatt hierzubleiben oder das Jobangebot in Singapur anzunehmen? Oder für ein halbes Jahr eine berufliche Auszeit nehme und mit der Familie reise oder meine künstlerische Ader wiederbelebe und eine Ausstellung vorbereite? 

Beim Tetralemma verlassen wir einen Moment die starren Grenzen unserer Vernunft und Logik und geben uns unserer Intuition hin. Wir achten darauf, welche Gefühle und körperlichen Empfindungen die einzelnen Varianten in uns auslösen und welche Bilder und Gedanken uns unser Unterbewusstsein dazu schickt. Manchmal hilft uns das dort weiter, wo der Kopf alleine überfordert ist.

Zur Autorin: 

Stefanie Rietzler ist Psychologin und Autorin («Geborgen, mutig, frei – wie Kinder zu innerer Stärke finden», «Erfolgreich lernen mit ADHS», «Clever lernen»). Gemeinsam mit Fabian Grolimund leitet sie die Akademie für Lerncoaching, ein Beratungs- und Weiterbildungsinstitut mit Sitz in Zürich: www.mit-kindern-lernen.ch, www.biber-blog.com. Stefanie Rietzler ist Mutter eines zwei Monate alten Sohnes und lebt mit ihrem Mann in Zürich. 

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