«Du gehst jetzt raus, bis du dich wieder beruhigt hast»
Die Drittklässlerin ist zu einer Diagnostiksitzung bei mir. Noch vor einer Viertelstunde haben wir vergnügt Uno gespielt, nun scheint die Luft zu knistern. «Dir wird gerade alles zu viel», sage ich. Tränen steigen ihr in die Augen. «ICH. HASSE. AUFGABEN. LÖSEN», schreit sie. Mit einem Satz springt das Mädchen auf, wischt das Material vom Tisch und stürzt sich in die Puppenecke.
Immer wieder erzählen mir Eltern und Lehrpersonen von ähnlichen Situationen, von Kindern und Jugendlichen, die bei vermeintlichen «Kleinigkeiten in die Luft gehen und ausrasten» und «überhaupt nicht mit Frust umgehen können». Und immer wieder wird in solchen Situationen ein einfaches Erziehungsmittel propagiert: die Auszeit (Time-out).
Das Kind soll lernen, sich selbst zu beruhigen
Lernen Kinder, mit ihren Gefühlen umzugehen, wenn wir sie damit alleine lassen oder diese bewusst ignorieren? Wendy Middlemiss, Psychologin an der Universität Nordtexas, wollte es genau wissen. In einer Studie liess sie Mütter ihre Säuglinge abends zu Bett bringen. Das Schreien wurde ignoriert. Die Babys sollten lernen, sich selbst zu beruhigen und alleine einzuschlafen. Bereits am dritten Tag hörten die Säuglinge auf zu schreien und fanden selbst in den Schlaf.
Die Forscherinnen massen aber auch das Stresshormon Cortisol im Speichel der Kinder. Dabei zeigte sich, dass die Säuglinge lediglich äusserlich ruhig wirkten, innerlich jedoch sehr gestresst waren. Der Cortisolspiegel war nicht nur vor dem Einschlafen erhöht, sondern auch noch während des Schlafens.
Dieses Ergebnis unterstreicht die These vieler Bindungsforscherinnen und -forscher: Die Säuglinge lernen nicht, sich selbst zu beruhigen. Sie lernen, dass ihnen in der Not sowieso niemand zu Hilfe kommt und sie sich nicht voll auf ihre Bezugsperson verlassen können.
Auszeiten folgen einer ähnlichen Logik: «Unerwünschte Verhaltensweisen» des Kindes sollen «gelöscht werden». Solche Programme bergen immer die Gefahr, dass wir Erwachsenen es verpassen, nach dem guten Grund für die Gefühle und das Verhalten der Kinder zu suchen. Und dass sie zwar äusserlich zu funktionieren scheinen, das Kind aber lediglich lernt, seine Gefühle nicht mehr zu zeigen.
Ziel hindert, das uns wichtig ist.
- verharren wir eher in Situationen, die uns langfristig nicht guttun,
- verlieren wir die Energie, eigene Grenzen zu setzen und für diese einzustehen,
- entwickeln wir keine Wege, um konstruktiv mit diesen Empfindungen umzugehen.