«Geht es immer so weiter, dieses Leben?» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Merken
Drucken

«Geht es immer so weiter, dieses Leben?»

Lesedauer: 2 Minuten

Ich erzähle

Stefanie* hat diesen Sommer die Matura bestanden. Wer die aufgestellte 18-Jährige trifft, glaubt nicht, dass sie seit ihrer Kindheit unter Depressionen leidet. 

Stefanie lacht, als sie durch die Bilder auf ihrem Smartphone scrollt: «Und hier sind wir bei unserer Mini-Corona-Maturafeier.» Buben und Mädchen, die sich für ein Picknick im Park in Schale geworfen haben und sich mit Sektgläsern zuprosten, dabei herumalbern, ­Grimassen schneiden. Stefanie trägt auf den Bildern ein bodenlanges, dunkelgrünes Kleid, sie sieht glücklich aus, gelöst. 

Wer die 18-Jährige kennenlernt und sie nur eine halbe Stunde lang erlebt, mag gar nicht glauben, wie viele dunkle Monate es in ihrem jungen Leben schon gegeben hat. Stefanie leidet seit ihrer frühen Kindheit unter Depressionen. «Irgendwie war das Leben immer anstrengend und mühsam», erzählt sie. «Ich weiss noch, wie ich als Achtjährige mit meinem Bruder und meinen Eltern in den Europa-Park gefahren bin, auch meine Tante und mein Onkel waren dabei. Alle hatten einen Megaspass und wollten, dass ich den auch hatte. Aber ich dachte die ganze Zeit, was das eigentlich soll, dieses Herumgekreische. Ich habe mich dann eben in die ­Achterbahn und andere Bahnen gesetzt, um ihnen eine Freude zu machen. Spass gemacht hat mir das nicht.» 

In der Schule hat Stefanie keine Freunde. Sie ist eine gute Schülerin und keiner hat ein Problem mit ihr, sie wird nicht gemobbt. Aber sie ist still, spricht nur das Nötigste, bleibt in den Pausen für sich, liest und malt. Irgendwann fragt sie ihre Tante, ob das eigentlich immer so weitergehe, dieses Leben.

«Irgendwann war es, als würde jemand den Grauschleier anheben, und meine Welt wurde jeden Tag ein bisschen bunter.»

«Die wurde stutzig, aber sie war ja auch gewarnt.» Stefanies Oma war lange wegen Depressionen in stationärer Behandlung, ihr Vater hatte als Teenager einen Suizidversuch unternommen. Stefanies Eltern – sie Chemikerin, er Sachbearbeiter im örtlichen Rathaus – aber wollten nichts davon hören, dass auch ihre Tochter depressiv sein könnte, sie sei halt einfach ein zurückhaltendes Kind.

Doch die Tante lässt nicht locker, und als Stefanie mit elf Jahren nach der Schule meist in ihrem Zimmer auf dem Bett sitzt und vor sich hinstarrt, reagiert auch die Mutter. Sie suchen Hilfe bei einem Psychologen, dem Stefanie erzählt, sie wüsste gar nicht, wozu sie eigentlich leben solle. Er überweist sie an die stationäre Kinder- und Jugendpsychiatrie, wo sie zwölf Wochen lang wegen ihrer schweren Depression in Behandlung ist. Einzel- und Gruppensitzungen, Maltherapie, Musiktherapie und Medikamente. 

«Irgendwann war es, als würde jemand den Grauschleier anheben, und meine Welt wurde plötzlich jeden Tag ein bisschen bunter», erzählt Stefanie. Ihr Vater weigert sich bis heute, die Erkrankung seiner Tochter anzuerkennen. Ihre Mutter hat inzwischen akzeptiert, dass Stefanie immer wieder Hilfe brauchen wird – die von Psychologen und die von Medikamenten. In den ­vergangenen Jahren hat sie Stefanie regelmässig zur Therapie gefahren. Phasenweise haben die Sitzungen mehrmals die Woche ­stattgefunden, «dann, wenn die Gleichgültigkeit zurückkam», erinnert sich Stefanie. Doch die Abstände wurden immer grösser. Zurzeit braucht sie keine Medikamente, aber sie geht nach wie vor ­mindestens alle zwei Wochen zu einem Psychologen. Als Stigma sieht sie das nicht. «Andere haben ihren Stammcoiffeur, ich habe meinen Stammtherapeuten», sagt sie, «und der tut mir gut.» 

*Name der Redaktion bekannt

**Für das Dossier «Depression» durfte Gabi Vogt mit der Familie Wirth aus Zürich eine ­Bildstrecke inszenieren. Die darin gezeigten ­Personen haben keine Verbindung zu den Texten in diesem Heft. Die Fotografin hat für Fritz+Fränzi bereits mehrere Dossiers umgesetzt.


Lesen Sie mehr zum Thema Depression:

  • Depression: Schatten auf der Seele
    Die Pubertät ist eine Zeit der Veränderung. Psychische Erkrankungen wie Depressionen treten dann gehäuft auf. Geschätzte 10 bis 20 Prozent aller Jugendlichen leiden phasenweise an dieser psychischen Störung. Wie entsteht eine Depression, wie zeigt sie sich? Auf welche Warnsignale sollten Eltern achten und wann braucht es eine Therapie?
  • «Es tut Justus gut, wenn er mit jemandem reden kann»
    Als Bettina H.* mit ihrem Mann und ­ihren zwei Söhnen in den Kanton Bern gezügelt war, dachte sie erst, dass es allen gut gehe in der neuen Heimat. Bis sich ihr Sohn Justus*, 15, immer ­weiter von ihr entfernte.
  • «Anzahl Suizidversuche ist deutlich gestiegen»
    Laut dem Kinder- und Jugendpsychiater Gregor Berger litten 90 Prozent der Opfer im Jahr vor ihrem Suizid an einer psychischen Erkrankung wie einer Depression. Er rät Eltern, ihre Kinder bei ersten Anzeichen darauf anzusprechen.
  • Was tun, wenn die Tochter den Lebensmut verliert?
    Wenn ein Kind depressiv wird, stellt das die ganze Familie vor eine grosse Herausforderung. Die Suche nach der Ursache hilft oft wenig. Wichtig ist Vertrauen – und dass das Kind die Depression nicht zu seiner Identität macht.