Guerilla-Eltern: Warum Kinder mehr Widerstand brauchen
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Guerilla-Eltern: Warum Kinder mehr Widerstand brauchen

Lesedauer: 2 Minuten

Viele Kinder leiden unter falsch verstandener Förderung, schreibt Michèle Binswanger und übt sich als Mutter in mehr Widerstand.

Text: Michèle Binswanger
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren

Ein Kind zu erziehen heisst nach meiner bescheidenen Erfahrung, alles möglichst richtig machen zu wollen und dabei konstant zu scheitern. Moderne Erziehungspsychologen haben denn auch die grösste Schwäche heutiger Eltern längst verortet: Sie wollen zu viel und zu wenig zugleich. Zeichnen den Kleinen ihren Weg ganz genau vor und räumen ihnen dann alle Steine aus dem Weg. 

Das jedenfalls erläuterte mir neulich ein Erziehungspsychologe in einem Interview: «Wissen Sie, die Kinder heute leiden eigentlich am meisten unter falsch verstandener Förderung. Es ist die Aufgabe der Eltern, Widerstand zu leisten, und die Aufgabe der Kinder, sich an diesen Widerständen zu reiben und sich Freiräume zu erkämpfen.» Nicht, dass man nicht mit den besten Vorsätzen in das «Abenteuer Elternschaft» gestartet wäre. Man denkt von sich gerne als Streiterin für Recht und Ordnung, als souveräne Mutter aller Prinzipien, eine heilige Jeanne d᾿Arc von Triple-Ps Gnaden (Triple P: «Positive Parenting Program», Anm. d. Redaktion). 

Die Tochter will in den Ausgang, hat aber die Wäsche nicht gemacht, wie sie versprochen hatte? Widerstand. 

Aber die Schlacht stellt sich als verdammter Zermürbungskrieg heraus und der Gegner verfügt über eine Allzweckwaffe: Liebe. Man versucht also, mit den bescheidenen Mitteln, die man hat, zurechtzukommen. Es irgendwie richtig zu machen, nicht immer nachgeben, aber den Kindern trotzdem genug Raum zur Entfaltung zu lassen. Dauernd hat man aber ein schlechtes Gewissen, schon viel zu viel falsch gemacht zu haben, und gibt dann eben doch nach. Und macht damit alles noch falscher. 

Es geht nicht um richtig oder falsch

Deshalb trafen mich die Worte des Psychologen wie eine Erkenntnis. Ich hätte ihm die Füsse küssen mögen. Widerstand – das evoziert Bilder von bärtigen Rebellen, die in den Kampf ziehen für Menschen, an die sie glauben, die den Geruch von Schweiss ebenso lieben wie die Peitsche des Adrenalins. Die sich abends im Dschungel um ein Feuer versammeln und ohne Sarkasmus über Freiheit und Gerechtigkeit reden. Mehr noch, die das Prinzip des Widerstandes zum dominierenden Gestaltungsprinzip des eigenen Lebens gemacht haben.

Widerstand! Das bildet den Charakter. Wo sollen die Kleinen sonst lernen, den Mächtigen dereinst in den Hintern zu treten?

Es geht gar nicht um richtig oder falsch. Es gibt gar kein höheres Gesetz, dem ich Kraft meiner Elternschaft zu entsprechen versuchen muss. Was Kinder brauchen, ist Widerstand. Na, wenn es weiter nichts ist. Das ist Guerilla-Erziehung. Das Taschengeld reicht nicht für den neuen Sneaker? Widerstand. Die Tochter will in den Ausgang, hat aber die Wäsche nicht gemacht, wie sie versprochen hatte? Widerstand. Der Sohn will das Abendessen nicht zubereiten, weil er angeblich nicht weiss, wie man Risotto macht? Widerstand. 

Und selbst wenn der neue Partner einen Überraschungsangriff startet, um Erziehungsgrundsätze seiner eigenen Herkunft in Stellung zu bringen, kann man sich getrost zurückhalten. Er kämpft auf der richtigen Seite. Er kämpft für die richtige Sache. Widerstand! Auch gegen die eigenen Mutterinstinkte, die Kinder vor allem Unangenehmen schützen zu wollen. Widerstand! Das bildet den Charakter. Wo sollen die lieben Kleinen sonst lernen, den Mächtigen dereinst in den Hintern zu treten? Es lebe die Revolution! Und jetzt zurück zur Tagesordnung.  

Michèle Binswanger
Die studierte Philosophin ist Journalistin und Buchautorin. Sie schreibt zu Gesellschaftsthemen, ist Mutter zweier Kinder und lebt in Basel.

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