Was ist ein Erziehungsfehler? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Was ist ein Erziehungsfehler?

Lesedauer: 4 Minuten

Kürzlich fragte mich jemand: «Fabian, ich habe gelesen, dass Eltern nichts mehr stresst als der Gedanke, bei der Erziehung gravierende Fehler gemacht zu haben. Aber gibt es das tatsächlich, Erziehungsfehler? Wer definiert, was als Fehler gilt? Und lassen sich solche Fehler wieder ausbügeln?» Drei gute Fragen.

Text: Fabian Grolimund
Illustration:  Petra Dufkova / Die Illustratoren

Ich bin kein Verfechter einer bestimmten Erziehungsideologie oder -methode. Für mich ist Erziehung dann gelungen, wenn sie dazu beiträgt, dass Kinder als Erwachsene sagen können: Ich kenne mich, ich kann mich selbst annehmen, ich weiss, was ich möchte, ich bin in der Lage, mit anderen Menschen gute Beziehungen aufzubauen und die Welt um mich herum in positiver Weise mitzugestalten.

Was ein Erziehungsfehler ist, möchte ich daher auch nicht an einer bestimmten Erziehungsideologie festmachen. Aber wir können einen Blick in die Therapiezimmer werfen und uns fragen: Welche Erfahrungen mit den eigenen Eltern waren so verletzend, dass sie Menschen auch als Erwachsene nicht loslassen, ihnen die Lebensfreude stehlen und sie psychisch krank machen?

Wenn wir uns diese Frage stellen, stossen wir fast unweigerlich auf eine Reihe von psychologischen Grundbedürfnissen, die jeder Mensch hat. Werden diese über längere Zeit verletzt, kann dies gravierende Folgen für die Entwicklung eines Menschen haben. Zu diesen Grundbedürfnissen zählen beispielsweise das Bedürfnis nach Sicherheit, Bindung, Autonomie, Wertschätzung und Kompetenz.

Kinder müssen sich in der Beziehung zu ihren Eltern sicher fühlen. 

Aus diesen Bedürfnissen können wir eine Reihe von Grundüberzeugungen ableiten, die ein Kind entwickeln sollte. Und ich glaube, wir dürfen von einem Fehler sprechen, wenn Eltern mit einem Kind auf eine Art und Weise in Kontakt treten, die das Gegenteil bewirkt.

Eltern als Quelle der Angst?

Kinder müssen sich in der Beziehung zu ihren Eltern sicher fühlen. Dazu gehört, dass das Kind weiss, dass die Eltern es vor Gefahren schützen, da sind, wenn sie gebraucht werden und verlässlich reagieren. Eltern, die in der Erziehung physische oder psychische Gewalt anwenden, verletzen dieses Bedürfnis und werden für das Kind zu einer Quelle der Angst. Besonders gravierend wirkt sich dies aus, wenn die Eltern unberechenbar sind und das Kind die Gewalt damit nicht ein­mal vorhersehen kann.

Kinder fühlen sich auch dann unsicher, wenn ihre Eltern psychisch zu labil sind, um die Elternrolle aus­zufüllen. So übernehmen beispiels­weise Kinder von depressiven oder alkoholkranken Eltern oft sehr früh viel Verantwortung und passen sogar auf die eigenen Eltern auf. Manchmal geht dies so weit, dass die Kinder oder Jugendlichen die Eltern nicht aus den Augen lassen wollen, weil sie Angst haben, diese würden sich in einem unbeobachteten Moment das Leben nehmen.

Es kommt auch immer wieder vor, dass Eltern ihre Stimmung und ihre Gefühle ungefiltert auf die Beziehung zum Kind übertragen: Wenn sie gut gelaunt sind, über­häufen sie das Kind mit Liebe und Zuneigung, sind aber am nächsten Tag schon wieder so mit sich selbst beschäftigt, dass sie distanziert wir­ken und ungeduldig sind. Derartige Muster schüren beim Kind eine grundlegende Unsicherheit. Sie sind in der Folge permanent damit beschäftigt, sich an die Eltern und deren Launen anzupassen.

Eine Liebe, die an Bedingungen geknüpft ist

Für eine gesunde Entwicklung sollte sich ein Kind nicht nur sicher fühlen. Es sollte wissen, dass es geliebt wird. Wenn ein Kind die Erfahrung machen darf, dass es nicht allein ist, die Eltern sich Zeit nehmen, das Zusammensein mit ihm geniessen, zuhören und sich freuen, dass es da ist, machen sie ihrem Kind ein wich­tiges Geschenk.

Nicht alle Kinder dürfen diese Erfahrung machen. Manche Eltern geben ihren Kindern zu verstehen, dass sie ein Klotz am Bein sind. Sie sagen ihnen ganz offen Sätze wie «Du bist einfach unmöglich! Wegen dir haben wir ständig Probleme!» oder «Ich muss für dich auf so vieles verzichten!». Ein Kind möchte nicht nur geliebt werden. Es möchte als der Mensch geliebt werden, der es nun einmal ist. Und es möchte sein Leben selbst gestalten und eigene Entscheidungen treffen können.

Ich liebe dich, wenn du dich brav an die Regeln hältst.

Manchen Eltern fällt es nicht leicht, ihr Kind so anzunehmen, wie es ist, und es eigene Wege gehen zu lassen. Sie haben eine Vorstellung im Kopf, von der sie sich nicht lösen können, und knüpfen ihre Liebe an Bedingungen. Sie zeigen dem Kind: Ich liebe dich, wenn du herausragende Leistungen erbringst/etwas Besonderes bist/dich brav an die Regeln hältst/meine Meinungen oder religiösen Überzeugungen teilst. Sie bestrafen das Kind mit Liebesentzug, wenn es die Bedin­gungen nicht erfüllt.

Schliesslich haben wir alle ein Bedürfnis nach Kompetenz. Wir möchten die Erfahrung machen, dass wir Herausforderungen meis­tern, unsere Umwelt gestalten und unsere Stärken zum Ausdruck bringen können. Eltern, die ihre Kinder vor anderen lächerlich machen, sie als dumm bezeichnen («Du bist so eine Chaotin! Lernst du es eigentlich nie!?», «Du wirst es nie zu etwas bringen!»), verhindern, dass ihr Kind genügend Selbstvertrauen aufbauen kann.

Wann ist es zu spät?

Ich habe mich in meinem Bekanntenkreis umgehört – und bin erschrocken, wie viele Menschen Eltern haben, denen es nicht gelang, diese grundlegenden Bedürfnisse ihrer Kinder zu achten. Die meisten von ihnen meistern ihr Leben den­noch und – das freut mich ganz besonders – bieten ihren eigenen Kindern das, was sie vermissen mussten.

Eltern, die sich in diesem Text wiederfinden, möchte ich sagen: Es ist nie zu spät, sich eigene Fehler ein­zugestehen und dazuzulernen. Nicht alles lässt sich wiedergutmachen, aber einiges lässt sich reparieren. Kinder können ihren Eltern vieles verzeihen, wenn sie einen echten Wandel sehen, die Eltern sich Hilfe holen und destruktive Muster erfolgreich verändern.

Kinder können ihren Eltern vieles verzeihen.

Manchmal profitieren sogar Erwachsene, wenn ihre Eltern Fehler eingestehen, sich offen und ehr­lich entschuldigen und sie neue Beziehungserfahrungen machen dürfen. Eine Bekannte um die 50 meinte zu meiner Frau: «Meine Mutter hat seit einigen Jahren Alz­heimer. Seither ist sie ein anderer Mensch. An die Stelle der kontrol­lierten, frommen, gefühlskalten Frau ist ein warmer, herzlicher und humorvoller Mensch getreten. Es ist, als dürfte ich sie neu kennenlernen – und es tut mir unglaublich gut.»

Auf der anderen Seite kenne ich Erwachsene, die noch immer auf eine Entschuldigung ihrer Eltern warten und sich mit Fragen quälen wie: Haben meine Eltern wenigstens bemerkt, was sie mir angetan haben? Tut es ihnen manchmal leid? Ihnen würde es helfen, mit diesen Fragen abzuschliessen, wenn sie eine Ant­wort erhielten.

Fabian Grolimund
ist Psychologe und Buchautor. Gemeinsam mit ­Stefanie Rietzler leitet er die Akademie für Lerncoaching in Zürich. Er ist verheiratet, Vater eines Sohnes und einer Tochter und lebt mit seiner Familie in Fribourg.

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