Aggressionen und negative Gefühle zulassen - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Merken
Drucken

Aggressionen und negative Gefühle zulassen

Lesedauer: 6 Minuten

In vielen Lebenssituationen tun Eltern alles, damit die Kinder in einem harmonischen Zuhause aufwachsen können. Aber es ist nicht angebracht, vor Kindern Konflikte zu vermeiden, «negative» Gefühle zu verdrängen, ihnen eine heile Welt vorzumachen.

Text: Jesper Juul
Illustration: Petra Dufkova/Die Illustratoren

Aggressionen sind für mich keine negativen Gefühle. Ich weiss nicht, wie es kam, dass sie zu negativen Gefühlen gemacht worden sind. Sie sind Signale, die zeigen, dass etwas los ist – was würden wir ohne sie tun?

Viele Eltern sind sehr darauf bedacht, Konflikte zwischen den Kindern zu unterbinden. Auch im Kindergarten werden oft Regeln aufgestellt, die es den Kindern verbieten sollen, zu raufen oder zu streiten. Ich meine, dass in den Familien, im Kindergarten, aber auch in vielen Therapien und alternativen Richtungen wie der Öko-Szene nur sogenannte «weibliche» Werte den Sieg davongetragen haben, wogegen nichts einzuwenden ist − aber sie lassen den Kindern zu wenig Entfaltungsraum. Es ist keine gute Idee, Aggressionen zu unterbinden: Du versuchst, ein Symptom loszuwerden, statt zu fragen, was sich dahinter verbirgt.

Die meisten Kinder sind fähig, ihre Konflikte selbständig zu bewältigen; sie brauchen die Supervision der Erwachsenen nicht.

Alle Konflikte, die von Bedeutung sind, werden in einem aggressiven Ton hervorgebracht. Unseren Ärger, unseren Frust, unsere Wut müssen wir zunächst ausdrücken, um sie dann verwandeln zu können – wir brauchen diese Emotionen genauso, wie wir Glück und Zufriedenheit brauchen, um die Realität zu verdauen. In jeder Liebesbeziehung kann man das beobachten: Ein Paar kann erst vernünftig über einen Konflikt sprechen, nachdem es diesen mehrere Male in völlig irrationaler Weise ausgelebt hat. Viele Frauen tun heute etwas, was früher getan wurde, um ihre Urgrossmütter und Grossmütter kleinzuhalten – und sie merken es gar nicht.

Die erste psychiatrische Diagnose war die Hysterie: Frauen, in denen so viele Emotionen mit einem Mal aufkamen, dass sie vor lauter innerem Druck überreagierten, galten sofort als Hysterikerinnen, das heisst als nicht mehr ernst zu nehmende Personen. So wurden Frauen und Töchter von ihren Männern und Vätern über Jahrzehnte kleingehalten: «Wenn wir darüber nicht ruhig sprechen können, hat es keinen Sinn, sich zu unterhalten!» Heute halten Frauen genau diese Werte hoch, mit denen sie auf subtile Weise unterdrückt worden sind,  – man möge sich friedlich und ruhig und sanft mit ihnen unterhalten. Sie erwarten dies von ihren Männern, Kindern und Enkelkindern – und das ist für mich schockierend! Ein norwegischer Regisseur hatte einmal eine wunderbare Idee für einen Dokumentarfilm. Er zog durch die Lande, um Kinder zu befragen: Wie erlebt ihr die Machtausübung seitens der Erwachsenen? Er bat mich danach, mir diese Interviews anzuschauen und sie zu kommentieren.

Ich erinnere mich an ein fünf Jahre altes Mädchen. Auf die Frage: «Was ist das Schlimmste für dich, was Erwachsene im Kindergarten beschliessen?», antwortete das Mädchen, nachdem es eine ganze Weile nachgedacht hatte: «Das Schlimmste ist, dass sie uns nicht erlauben, sauer zu sein.» Die Antwort erstaunte den Interviewer sehr, und er hakte nach: «Aber ist das wirklich wahr, ist es nicht erlaubt, dass du sauer bist?» Das Mädchen dachte wieder lange nach: «Ja. Aber wenn ich einen Grund habe, möchte ich sauer sein!»

Der Interviewer meinte, er sei nun fertig, aber der Kameramann schwenkte die Kamera nicht weg, denn er hatte den Eindruck, dass das Mädchen noch etwas sagen wollte. Und nach dreizehn Sekunden fügte das Mädchen tatsächlich noch etwas Entscheidendes hinzu: «Und die Erwachsenen entscheiden darüber, ob mein Grund gut ist oder nicht.» Wenn man als Erwachsener versucht, Aggression zu verbieten, werden die Kinder eine Zeitlang mit dir kooperieren, aber wenn sie dann 16 Jahre alt sind, ist es vorbei, dann explodieren sie. Diese weibliche Attitüde, nicht aggressiv reagieren zu wollen, kann also verheerende Konsequenzen haben. Das heisst, wir müssen sie gerade heute ausbalancieren, indem wir Kindern ganz bewusst Raum geben, ihre Konflikte selber auszutragen.

Auch ein blaues Auge ist notwendig

Früher, in meiner Generation, gab es die Möglichkeit, einige Stunden im Wald oder auf der Strasse mit den Nachbarskindern zu verbringen, ohne dass Erwachsene dabei waren. Niemand überwachte uns. Wir mussten uns unter uns arrangieren, Hierarchien bestimmen, Probleme lösen – und ich meine, wir haben das ganz gut gemeistert, selbst wenn es manchmal ein blaues Auge gab. Aber auch das ist im Leben notwendig. Natürlich müssen Eltern manchmal in Konflikte eingreifen, etwa wenn es bei einem Geschwisterstreit so aussieht, dass der Jüngere physisch gefährdet ist, beispielsweise weil der Ältere mit dem Hammer auf ihn losgeht.

Ich sage gewiss nicht, dass sich Erwachsene nicht um ihre Kinder kümmern sollen. Was ich Erwachsenen mitteilen möchte, ist nur: Macht eure Kinder nicht schlecht, weil sie Aggressionen haben! Denn das ist es, was sie unter anderem von euch lernen müssen: wie sie damit umgehen können. Du kannst zum Beispiel einem kleinen Jungen, der auf seine kleine Schwester wütend ist, nicht böse sein. Er ist seit zwei Stunden mit seinen Legosteinen beschäftigt und baut ganz konzentriert einen tollen, hohen Turm. Seine kleine Schwester steht seit 15 Minuten neben ihm und schaut neugierig zu. Sie will plötzlich auch mitmachen, wirft dabei aber den ganzen Turm um. Natürlich ist der Junge stinksauer. Seine zweistündige Arbeit war umsonst – sie hat alles zunichtegemacht. All das, was er gemacht hat, hat nun keinen Wert mehr. Klar ist er nun aggressiv!

Eltern! Macht eure Kinder nicht schlecht, nur weil sie Aggressionen haben. Lehrt sie, wie sie damit umgehen können.

Die Eltern sagen ihm in so einer Situation meist Folgendes: «Du musst deine kleine Schwester verstehen. Sie wollte ja nichts Böses anrichten!» Aber das ist kein guter Einfall. Es wäre besser, ihm mitzuteilen: «Ich kann verstehen, dass du böse bist auf sie – das war ja auch ein wunderschöner Turm. Aber schlag sie deswegen nicht. Wir beide müssen uns darüber unterhalten, wie du dich in solchen Fällen vor deiner Schwester schützen kannst und wie ich dir dabei helfen kann. Sie wollte deinen Turm bestimmt nicht zerstören, aber das ist halt passiert!»

Das wäre eine fruchtbare Intervention. Der kleine Junge erfährt, dass er, wie wir alle, lernen muss, seine Grenzen zu verteidigen. Aber ihm zu sagen: «Du bist ein grosser, vernünftiger Junge und musst deine kleine Schwester verstehen!» – das ist unproduktiv! Erwachsene sollten sich immer wieder daran erinnern, dass Kinder nicht von dem klüger werden, was du ihnen sagst. Du kannst sie belehren, soviel du willst, es wird sie nicht besonders berühren oder beeindrucken. Vielleicht folgen sie dir sogar aufs Wort, aber sie sind trotzdem innerlich nicht davon überzeugt.

Vorleben statt belehren

Überzeugen kannst du sie nur durch dein Handeln. Sie lernen mehr von dir, indem sie dich beobachten. Wenn du etwa deine Frühlingsblumen gerade gepflanzt hast und dein Mann wenige Minuten später mit dem Rasenmäher darüberfährt, hoffe ich, dass du böse wirst. Du musst durch diese Frustration hindurch, und du kannst gar nicht anders als laut werden, sonst müsstest du von dir selbst erwarten, ein Übermensch zu sein. Wie solltest du ihn, da er gerade deine Blumen niedergewalzt hat, lächelnd anschauen und zu ihm sagen: «Ich verzeihe dir!» Niemand ist so, es sei denn Grosseltern, die bringen dieses Kunststück ab und zu fertig, ruhig und gelassen zu bleiben.

Aber auch nur, weil sie ein ganzes Leben hinter sich gebracht haben, in dem sie gelernt haben, mit Aggressionen, Konflikten, Auseinandersetzungen umzugehen. Sie haben dafür 80 Jahre gebraucht, also kannst du nicht erwarten, dass ein achtjähriger Junge diese Weisheit hat. Er muss seinen Weg selber durch all das hindurch finden. Als Erwachsene meinen wir immer, den Kindern ein gewisses Leid ersparen zu können, wenn wir sie über die Folgen eines bestimmten Handelns unterrichten. Sie müssen aber ihre eigenen Erfahrungen machen.

Wenn sich zum Beispiel deine 18-jährige Tochter unsterblich in einen 25-jährigen Mann verliebt hat und du versuchst ihr klarzumachen, dass dieser nicht zu ihr passt − das haut nie und nimmer hin. Im Gegenteil: Je mehr du betonst, wie unpassend das alles ist, desto mehr wird sie sich zu ihm hingezogen fühlen. Denn sie selbst muss ihre Schlussfolgerung aus dieser Begegnung ziehen, nicht du für sie. Es ist schrecklich, aber es ist wahr: Jeder muss das Leben leben, um es zu verstehen. Aber Eltern und Erzieher versuchen noch immer, die Kinder vor dem Leben zu schützen: Die armen Kinder sollen sich nicht verletzen, nicht traurig sein, nicht streiten. Eltern schaffen so ein künstliches Paradies für Kinder, das sie letztlich unglücklich macht, weil sie dabei lebensunfähig werden.

Jesper Juul
Der dänische Familientherapeut Jesper Juul hat wie kein anderer in den vergangenen Jahrzehnten Menschen mit seinen Erziehungs- und Beziehungsprinzipien geprägt. Der Gründer von familylab, einem Beratungsnetzwerk für Familien, und Autor von über 40 Büchern («Dein kompetentes Kind», «Aus Erziehung wird Beziehung») starb am 25. Juli 2019 im Alter von 71 Jahren nach langer Krankheit in Odder, Dänemark. Er war zweimal verheiratet und hinterlässt einen Sohn aus erster Ehe und zwei Enkelkinder.

Alle Artikel von Jesper Juul