Müttermobbing: Warum werden gerade Mütter so oft kritisiert?
Die Therapeutin Katharina Pommer hat ein Buch über Müttermobbing geschrieben. Sie erklärt, warum Mütter so oft kritisiert, herabgewürdigt oder angegriffen werden, wenn es um die Erziehung ihrer Kinder geht – und appelliert an ein solidarisches Miteinander.
Frau Pommer, Sie haben das Buch «Stop Momshaming» geschrieben. Was genau verstehen Sie darunter?
Es bedeutet Müttermobbing. Wann immer Mütter soziale oder wirtschaftliche Benachteiligung aufgrund ihrer Mutterschaft erfahren, harsche und ungerechtfertigte Kritik oder ungebetene und übergriffige Ratschläge erhalten, geht es um Momshaming.
Bitte erklären Sie.
Mütter im 21. Jahrhundert sind zerrissen zwischen den eigenen und gesellschaftlichen Perfektionsansprüchen und absurden Zielen, wie eine Mutter zu sein hat: Man soll der werdenden Mutter die Schwangerschaft nicht anmerken, darüber hinaus wird vorausgesetzt, dass sie stets gut gelaunt und topfit ist. Natürlich hat sie einen engagierten Ehemann, der ihre Emanzipation mag und einen «soften» Feminismus unterstützt. Ist das Baby da, nimmt er sich Zeit, wickelt, wo immer er kann, das Baby und steht mit Tragetuch am Spielplatz.
Verlässt eine Frau die Klischees, wie eine vorbildliche Mutter zu sein hat, beginnt das Momshaming
Sie arbeitet, aber nicht zu viel, denn sonst wäre sie eine Rabenmutter. Doch sie ist nicht «nur» bei den Kindern zu Hause, denn dies wäre eine Art «Schmarotzerdasein». Verlässt sie diese Klischees, wie eine vorbildliche Mutter zu sein hat, beginnt das Momshaming. Man wirft ihr vor, dass sie «ihr Ding» macht, sie sei eine Mutter, die womöglich die Ordnung in ihrer Familie durcheinanderbringt.
Haben Sie das getan?
Sozusagen. Ich habe zahlreiche dieser sogenannten Mainstream-Schubladen verlassen. Angefangen damit, dass ich mit 18 Jahren schwanger wurde. Mein Abitur absolvierte ich dann mit meiner Tochter im Tragetuch. Was musste ich mir von meinem Mathelehrer anhören: «Eine Mutter macht bei mir kein Abitur.» Er liess mich erst beim dritten Anlauf bestehen, und das nicht deshalb, weil ich eine schlechte Schülerin war, sondern es ging ihm gegen sein Prinzip.
Ich bot überhaupt eine breite Mainstream-Momshamingfläche, weil ich vier weitere grossartige Kinder von drei Vätern bekam. Darüber hinaus bin ich erfolgreiche Unternehmerin, habe eine Praxis und bekomme von Anfang an Familie und Beruf unter einen Hut. Oft wurde ich besonders von Frauen gefragt: «Wie macht man das eigentlich, fünf Kinder und zwei Unternehmen? Schiebst du die Kinder ab oder managt dein Mann alles?»
Sie sagen, dass Müttermobbing vor allem von Frauen ausgeht. Welche Ursache sehen Sie darin, dass Mütter so hart miteinander ins Gericht gehen?
Diese Frage habe ich mir schon in vielen Situationen gestellt. Zum Beispiel, wenn ich auf dem Spielplatz zum Fläschchen gegriffen habe, weil mir das Stillen in der Öffentlichkeit unangenehm war. Von Lästereien über Sticheleien bis hin zu öffentlichen Beschimpfungen habe ich alles erlebt. «Sowas gab es zu meiner Zeit nicht!», kommentiert meine Mutter meine Erzählungen. Ihre Erklärung leuchtet mir ein: «Wir waren uns eben einig. Beim Füttern zum Beispiel gab es eine Regel: Gestillt wird alle vier Stunden. Da gab es gar keinen Grund zum Lästern. Das haben schliesslich alle so gemacht.» Heute, mit zahlreichen neuen Erkenntnissen beispielsweise zum Thema Säuglingsernährung, müssen Eltern sich ganz anders positionieren, sie müssen viel mehr Entscheidungen fällen. Und diese dann auch rechtfertigen. Die Folge: Es wird mehr gelästert und verurteilt.
Welche Gründe sehen Sie ausserdem?
Hinzu kommt, dass durch Social Media immer mehr unterschiedliche Meinungen und Erziehungsansichten im Umlauf sind. Das verunsichert und manch eine Frau stellt ihre eigene Intuition und mütterliche Kompetenz hintenan. Die Instagram-Generation legt die Latte des Vergleiches sehr hoch. Das macht Müttern gehörig Druck.
Das Problem ist, dass viele den Massstab der anderen zum eigenen machen und dadurch immer mehr an der eigenen Kompetenz zweifeln.
Woher kommt dieser hohe Leistungsanspruch?
Im Grunde ist Vergleichen und Bewerten an sich nichts Verwerfliches, sondern zutiefst menschlich und auch wichtig für eigene Überzeugungen. Das Problem liegt aber darin, dass viele den Massstab der anderen zum eigenen machen und dadurch immer mehr an der eigenen Kompetenz zweifeln. Wenn zum Beispiel eine Frau sagt: «Meine beste Freundin hat in der Klinik entbunden. Das sollte ich auch tun», obwohl ihr eine Hausgeburt eigentlich lieber wäre. Oder wenn Mütter stillen wollen, es aber aus gesund-heitlichen Gründen nicht können und sich trotzdem mies fühlen. Oder diese massive Verunsicherung beim Thema Impfen, die einen raten zu, die anderen warnen davor. Das führt dazu, dass Mütter sich unnötig stressen, an ihren Entscheidungen zweifeln oder sich permanent rechtfertigen. Im schlimmsten Fall kann dies in eine Depression führen.
Ist es so, dass Mütter sich heutzutage mehr vergleichen als früher?
Ja. Die Digitalisierung hat wesentlich dazu beigetragen mit schier unbegrenzten Auswahlmöglichkeiten. Früher gab es einen kleinen Kreis von Bekannten, die um Rat gefragt wurden. Heute gibt es «Dr. Google», Mütterapps, Mamablogs und Instagramprofile. Auf Social Media ist die Hemmschwelle von negativen Bewertungen niedrig und es hagelt schnell Hasskommentare, sobald es um emotional besetzte Themen wie Stillen, Kita oder Impfen geht.
Wie können Frauen souveräner mit «Momshaming» umgehen?
Auf jeden Fall ist es wichtig, Müttermobbing direkt anzusprechen und seine eigenen Gefühle, Eindrücke und Wünsche darzulegen. Wer dauerhaft negative Emotionen runterschluckt, kann davon psychisch krank werden. Deshalb machen Sie sich klar: «Momshaming» wird oft von Menschen betrieben, die ihr eigenes Verhalten beschönigen und im Gegenzug Mütter, die den Umgang mit ihren Kindern anders handhaben, beschämen wollen.
Auch wenn Sie sich gerade heftig ärgern, schauen Sie nach vorne, in einer Woche denken Sie vielleicht gar nicht mehr an die kränkende Bemerkung. Eine gesunde Portion Humor hilft. Und sich bewusst zu machen, dass es eben unzählig viele Meinungen gibt.
Die eigene kritische Stimme ist meistens genauso belastend wie jene, die von aussen auf uns einprasselt.
Ein Gedankenspiel: Wenn wir uns vorstellen, wir stehen einer anderen Mutter mit einer konträren Meinung gegenüber und zeichnen auf den Boden vor uns die Zahl Sechs. Was sieht sie? Eine Neun. Jetzt gibt es die Möglichkeit, ewig darüber zu debattieren, wer nun recht hat oder die Perspektive zu wechseln und zu erkennen, dass jeder eine andere Sicht auf die Dinge hat und niemand im Grunde falsch liegt. Das zu erkennen, entlastet enorm. Es geht darum, den eigenen Weg zu finden, was eine Orientierung an aktuellen Erziehungsmethoden und -erkenntnissen einschliesst.
Es sind ja nicht nur die anderen, die Kritik üben, es ist auch die eigene innere Kritikerin, die sich meldet. Wie kann man ihr begegnen?
Die eigene kritische Stimme ist meistens genauso belastend wie jene, die von aussen auf uns einprasselt. Es hilft, einen Schritt zurückzugehen, Abstand zu finden, tief ein- und auszuatmen. Und sich zu fragen: Was muss passieren, damit ich mich als Mama gut und glücklich fühle? Je komplizierter die Antwort ausfällt, umso wahrscheinlicher ist es, dass schlechte Gefühle mitschwingen.
Zum Beispiel: «Ich fühle mich als Mutter dann gut, wenn meine Kinder mir täglich sagen, dass sie mich lieben, sie nie unglücklich sind, tolle Noten und mindestens fünf gute Freunde nach Hause bringen. Wenn sie ein Instrument spielen und interessante Hobbys haben. Wenn mein Haushalt aufgeräumt ist, das Essen, das ich koche, jedem schmeckt, und ich ausreichend Geld verdiene, um niemandem auf der Tasche zu liegen.»
Schon beim Lesen fühlt man den Stress, nicht wahr? Es ist kaum möglich, all diese Ansprüche zu erfüllen, vor allem, weil sie auch von externen Gegebenheiten abhängig sind. Meine Grossmutter, eine wunderbare Frau und Mutter, sagte: «Ich bin happy, wenn ich morgens über und nicht unter der Erde aufwache, und für die Menschen sorgen kann, die ich liebe.» Sie hatte eine sehr einfache Regel für ihr Mutterglück und erledigte täglich, was sie erledigen konnte, und mehr ging einfach nicht.
Dieser Beitrag erschien zuerst im November 2020 im Elternmagazin «kizz».