Rauswurf aus dem Chat, beleidigende und bedrohliche Textnachrichten: Cybermobbing hinterlässt keine blauen Flecken, richtet aber bei betroffenen Kindern und Jugendlichen viel Leid an. So auch bei der 14-jährigen Laila*. Sie lässt ihre Mutter Renata Weiss* beschreiben, wie sehr Eltern mitleiden.
Mein Mann und ich haben uns oft gefragt: Was hätten wir besser machen können? Wir haben alles versucht: reden, schweigen, konfrontieren, vermitteln. Nichts nützte. Wir konnten als Eltern nur gemeinsam mit Laila durch diese Hölle gehen.
Die Anfänge
Es begann in der Unterstufe. Laila lud eine Schulkollegin nach Hause ein. Die beiden Mädchen verbrachten einen schönen Nachmittag. Am frühen Abend gingen sie ins Kinderturnen. Da drehte sich die Kollegin plötzlich um, kickte Laila mit dem Fuss in den Bauch und beschimpfte sie vor den anderen Kindern. Das kann doch nicht sein, dachte ich. Sie war den ganzen Nachmittag so lieb und dann plötzlich ein umgekehrter Handschuh. Daraufhin nahmen wir mit ihren Eltern Kontakt auf. Sie verstanden diese plötzliche Attacke ihrer Tochter nicht und redeten mit ihr. Ich spürte den Schmerz. Es tut weh, wenn das eigene Kind geplagt wird.
Laila: Eigentlich begann das Mobbing schon früher. Aus organisatorischen Gründen kam ich in eine neue Klasse. Ich fand den Anschluss nicht, weil alle schon in ihren Gruppen waren.
«Dass etwas nicht stimmte, merkte ich erst, als Laila ihren Geburtstag nicht mehr feiern wollte.»
Ich schenkte dem keine Bedeutung. Dass etwas nicht stimmte, merkte ich erst, als Laila ihren Geburtstag nicht mehr feiern wollte. Sie wurde auch nie an Geburtstagsfeste eingeladen. Als später mein Mann als Begleitperson auf eine Schulreise eingeladen wurde, realisierten wir, wie sehr unsere Tochter in der Schule litt. «Ich erkannte unsere Tochter nicht wieder», sagte er, «Laila war so still. Und wenn sie etwas sagte, hörte niemand zu.» Laila ist eigentlich ein lebhaftes Kind. Eine Weile ging sie an Gespräche mit der Schulsozialarbeiterin. Nicht lange.
Die Lehrer sagten, sie könnten nichts tun.
«Das macht alles nur noch schlimmer», sagte sie. «Die anderen Kinder lästern über mich.» Die Lehrer sagten, sie könnten nichts tun. Laila tat dann etwas. Sie wehrte sich. Eines Tages schlug sie zurück, als sie geschlagen wurde. Eine Lehrerin intervenierte: Sie liess die Klasse einen Kreis bilden, setzte Laila in die Mitte und sagte: «Ich kann dich nicht schützen, wenn du anderen wehtust.» Sie war so blossgestellt. Von da an entwickelte Laila ein neues Muster: «Wenn es wehtut, lache ich.»
Laila: Ich entschied mich, in der Schule die Starke zu sein. Bis in die sechste Klasse graute mir davor, morgens in die Schule zu gehen. Nachts heulte ich mich in den Schlaf. Das wollte ich nicht mehr.
Wie fühlt sich Cybermobbing an? Eine Informations-Kampagne der Stiftung Elternsein macht es erlebbar.
Mobbing rund um die Uhr
Kam sie dann nach Hause, war sie umso wütender und niedergeschlagener. Das nahm zu, als die Klasse auch im privaten Familienalltag präsenter wurde. Zunehmend nutzte sie die sozialen Medien, um Laila zu mobben.
Laila: Whatsapp, Instagram, Snapchat. Mit Snapchat kann man ein Bild für 24 Stunden hochladen, das für alle Follower sichtbar ist. Man kann auch Bilder aus einem privaten Chat schicken, die nach zehn Sekunden automatisch gelöscht werden.
Eines Tages sassen wir bei uns im Garten, da sagte Laila: «Du, Mami, jetzt haben sie mich gerade aus dem Klassenchat rausgeworfen.» Sie rief das Mädchen an und fragte nach dem Grund.
«Ich bringe unsere Tochter unter die Wölfe. So fühlte ich mich.»
Die Antwort war kurz und klar: «Dich hassen alle, darum habe ich dich rausgeworfen.» Die Lehrerin sagte, das sei ausserhalb der Schule, da könne sie nichts tun. Ich blieb beharrlich. Für mich ist ein Klassenchat nicht ausserhalb der Schule. Also bildete die Lehrerin erneut einen Kreis und setzte das Mädchen in die Mitte.
Laila: Es nützte nichts. Danach waren alle in der Klasse gegen mich. Ich wusste nicht, was tun, also ging ich auf die Toilette und weinte.
Wir verzichteten darauf, zur Polizei zu gehen
Das Mobbing nahm zu. Auf Instagram wurden Vergleichsspiele gemacht: Laila versus ein anderes Mädchen. Man kann verschiedenes ankreuzen: wer mehr Style, den schöneren Body oder die schöneren Augen hat. Die Kreuze wurden selten auf Lailas Seite gesetzt. Das sehen viele Leute. Mir drehte es fast den Magen um.
Laila: Dieselben Spiele gibt es auch zu anderen Themen: Charakter, zum Beispiel. Es ist grausam (lacht).
Eines sonntagabends erhielt sie einen Anruf von einem Mädchen. «Hey, Laila, es ist mega schlimm! Meine Eltern lassen sich scheiden. Ich brauche dich.» Laila war schockiert und bat uns um Hilfe. «Schreib, dass du für sie da bist», sagte ich. Laila tat es. Kurz darauf erhielt sie eine Nachricht: «Es war ein Witz. Du bist so doof, dass du darauf reinfällst.» Laila lachte. Solche Witze gehörten zu unserem Alltag. Einmal schickte ihr ein Junge ein Bild von einem kaputten Fuss und täuschte vor, er sei auf dem Notfall. Ein anderes Mal erhielt sie eine Drohnachricht: «Geh und schmeiss dich vor den Zug.»
Das haben wir in der Schule gemeldet. Der Schulsozialarbeiter riet, zur Polizei zu gehen. Darauf verzichteten wir. Wir leben in einem Dorf. Da wird viel geredet. Wir wollten zuerst abwarten, ob noch weitere solche Nachrichten kommen. Das war ein Fehler von uns. Es kamen keine Drohungen mehr, aber der Terror setzte sich dennoch fort. Einmal fuhr ich Laila in die Geigenstunde. Zwei Mädchen grüssten Laila freundlich. Kaum war sie im Gebäude verschwunden, lachten die Mädchen über Laila. Ich bringe unsere Tochter unter die Wölfe. So fühlte ich mich.
Nichts mehr spüren
Diesen Frühling ereignete sich etwas. Laila hatte sich in einen Jungen verliebt. Wir freuten uns mit ihr. Ein glückliches Kind ist etwas vom Schönsten. Das Glück währte so lange, bis der Junge eine Nachricht von einem Mädchen aus der Klasse erhielt.
Laila: «Was findest du an dieser Schlampe schön? Wenn du dich weiter mit ihr abgibst, rede ich nicht mehr mit dir.» Auf dem Pausenhof erhielt ich den Befehl, nicht in die Nähe dieses Jungen zu gehen. Ich durfte nicht zu ihm hinschauen und nicht an ihn denken.
«Der Lehrer war der Meinung, dass Laila viel zu lieb ist. Ich glaube, die Sache wuchs ihm über den Kopf.»
Sie hielt sich daran. Dem Frieden zuliebe. Sie hielt den Frieden selbst dann bei, als sie stolperte und sich den Ellbogen aufschlug. Die anderen Kinder lachten. Laila lachte mit. Als sie nach Hause kam, sah ich schon von Weitem, dass etwas nicht stimmte. Sie kam strahlend zur Tür herein. Am Arm klaffte ein grosses Loch. Überall war Blut. Ich war entsetzt.
Laila: Der Lehrer hat es abgewischt und ein Papier draufgetan. Ich spürte gar nichts.
Beim Zahnarzt war es, wo Laila schliesslich zusammenbrach und nicht mehr aufhörte zu weinen. Auch ich war am Ende mit meinem Latein und ging zum Lehrer. Der Lehrer fiel aus allen Wolken. Das Ausmass des Mobbings war ihm nicht bewusst. Er hatte seine Klasse bisher immer als Traumklasse betrachtet. Am nächsten Tag konfrontierte er die Schüler: «Laila geht es schlecht. Wer denkt, er habe etwas damit zu tun, bleibt sitzen. Die anderen können rausgehen.»
Laila: Drei gingen raus. Alle anderen blieben sitzen. Drei oder vier waren die Anführer, die anderen Mitläufer.
«In meiner Verzweiflung redete ich einer Mutter auf die Combox»
Sie äusserten ihren Unmut darüber, immer über Laila reden zu müssen. Sie erklärten, alles nur lustig und nicht ernst gemeint zu haben. Am nächsten Tag schon blockierten sie Laila erneut auf dem Handy. In meiner Verzweiflung redete ich einer Mutter auf die Combox: Bitte hilf, dass dieses Blockieren aufhört. Sie rief nie zurück. Der Lehrer war der Meinung, dass Laila viel zu lieb ist. Ich glaube, die Sache wuchs ihm über den Kopf. Wir vereinbarten ein Gespräch mit dem Schulpsychologen, der Schulsozialarbeiterin und mit Laila. Der Schulpsychologe leitete das Gespräch.
Laila: Am Anfang sagte er: «Wenn du nicht mehr magst, zeigst du ein Füchslein. So erkennen wir, dass du eine Pause brauchst.» Er behandelte mich wie eine Sechsjährige.
Laila ging es immer schlechter
Eine Stunde lang versuchte der Psychologe herauszufinden, was unsere Tochter wünscht. Dann klopfte mein Mann auf den Tisch: «Wir versuchen zu erklären, was in dieser Klasse mit unserer Tochter Schlimmes geschieht. Wir denken darüber nach, die Schule zu wechseln.» Dann müssten wir uns an den Schulleiter wenden, sagten sie. Wir standen auf und gingen. Wir wussten weder ein noch aus. Laila ging es zunehmend schlechter.
Laila: Ich hatte abgenommen, war böse gegen die Familie und tickte wegen Kleinigkeiten aus. Oft stellte ich mir die Frage, ob jemandem auffallen würde, wenn ich nicht mehr da wäre. Ich wollte nicht mehr sein.
Ich rief die Kinderärztin an. Sie schrieb Laila krank. Mir gab sie Schritt für Schritt vor, was ich tun musste: psychologische Betreuung für Laila und mich organisieren, den Schulleiter informieren, eine neue Schule suchen. Laila ging in Begleitung des Schulleiters ein letztes Mal in die Klasse, um Adieu zu sagen.
Neue Wege gehen
Sie geht nun auf eine Privatschule. Instagram ist gestrichen. Zwischen 12 und 18 Uhr schaltet sie Whatsapp aus. Nachts ab 21 Uhr ist das Handy im Flugmodus. Was mich frustriert, ist, dass alle über Mobbing sprechen, aber keiner weiss, wie damit umzugehen ist. Das zumindest ist unsere Erfahrung. Ich wünsche mir, dass etwas geschieht. Darum möchte ich diese Geschichte erzählen. Lehrer, Eltern und Kinder sollen für das Thema sensibilisiert werden. Das Wichtigste ist nun aber, dass Laila durch diese Situation gestärkt wird und ohne langfristige Verletzungen ihre Schulzeit beenden kann.
Laila: Im Moment bin ich noch wütend und enttäuscht. Ich kann mir aber vorstellen, dass ich irgendwann wieder glücklich und fähig bin, meinen alten Schulkolleginnen wieder zu begegnen.
* Pseudonym, Name der Redaktion bekannt
Dossier Cybermobbing:
In der Mai-Ausgabe 2017 berichtete Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi in einem Extra-Dossier über das Thema Cybermobbing. Heft bestellen: hier.
Sarah King. Die Psychologin und Autorin war beeindruckt von Lailas Mut, durch ihr Erzählen die Gewalt offenzulegen, die sich hinter dem Begriff Mobbing verbirgt. Denselben Mut wünscht sie allen, die im Moment noch lächeln, obwohl ihnen nach Weinen zumute ist.