Frau Schwager, wie schützt man Kinder vor sexuellem Missbrauch? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Frau Schwager, wie schützt man Kinder vor sexuellem Missbrauch?

Lesedauer: 9 Minuten

Die Psychotherapeutin Regula Schwager sagt, jedes dritte bis fünfte Mädchen werde im Laufe seiner Kindheit sexuell missbraucht. Die Co-Leiterin der Beratungsstelle Castagna über erschreckend hohe Opferzahlen, Traumafolgestörungen und die Frage, was Eltern tun können, um ihre Kinder vor sexuellem Missbrauch zu schützen. 

Ein unauffällig wirkendes Haus in der Zürcher Universitätsstrasse vis-à-vis der Tramhaltestelle. Eine schmale Treppe führt in den zweiten Stock hinauf. Hier sollen Mädchen und Buben, Frauen und Männer Hilfe finden, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind. Ebenso wie Eltern, die sich fragen, ob ihrem Kind solches Leid zugefügt wird. Regula Schwager steht lächelnd am Eingang der Beratungsstelle Castagna und bittet wenig später, für dieses Gespräch auf einem Sofa Platz zu nehmen. 

Frau Schwager, ab wann spricht man von sexuellem Missbrauch? 

Sobald hinter einer Handlung sexuelle Absichten stecken. Wenn Sie Ihr Kind umarmen, weil sie es gernhaben, ist das kein Übergriff. Sobald diese Umarmung aber sexuell motiviert ist, entspricht das einer sexualisierten Grenzverletzung. Sexueller Missbrauch fängt dort an, wo man sich am Anblick eines Kindes erregt, dem Kind gegenüber Worte benutzt, die sexualisiert sind, ihm Pornofilme zeigt, vor dem Kind sexuelle Handlungen vollzieht, bis hin zu Penetration von Körperöffnungen des Buben oder Mädchens.

Viele Täter sagen, dass sie dem Kind nichts Böses tun, es keinen Schaden nimmt, weil es zum Teil gar nichts von ihren Absichten weiss. 

Die meisten Menschen, die Kinder missbrauchen, tun dies unter dem Deckmantel von Zuneigung und Zärtlichkeit. Die Behauptung, den Kindern dabei nicht zu schaden, ist eine kognitive Verzerrung, mit denen sich die tätlichen Personen erklären, um ihre Taten vor sich selbst zu rechtfertigen. Fakt ist, dass schon die minderschweren Taten für Kinder schädlich sind. Auch für kleine Kinder. Sie spüren, dass sich die Atmosphäre sexualisiert hat. «Und dann hat er auf einmal so schnell geatmet» ist ein Satz, den man von Opfern häufig hört. Kinder können dies anders als Erwachsene nicht einordnen, aber sie spüren die Veränderung beziehungsweise die Sexualisierung des Kontaktes. 
Regula Schwager ist Psychotherapeutin und Co-Leiterin der Beratungsstelle Castagna. Castagna berät sexuell ausgebeutete Kinder und Jugendliche oder Erwachsene, die in ihrer Kindheit missbraucht worden sind. www.castagna-zh.ch
Regula Schwager ist Psychotherapeutin und Co-Leiterin der Beratungsstelle Castagna. Castagna berät sexuell ausgebeutete Kinder und Jugendliche oder Erwachsene, die in ihrer Kindheit missbraucht worden sind. www.castagna-zh.ch

Wie viele Kinder werden hierzulande sexuell missbraucht?

Man geht davon aus, dass in Westeuropa jede dritte bis fünfte Frau und jeder sechste bis zehnte Mann als Kind missbraucht worden ist. Und wir müssen davon ausgehen, dass dies nicht die leichten, sondern die mittelschweren bis schweren Fälle sind. 

So viele? Dann müsste jeder von uns ein bis mehrere Personen in seinem Umfeld kennen. 

Natürlich, aber wir wissen nicht, wer betroffen ist. Weil diejenigen nicht darüber sprechen können oder weil sie sich selbst nicht daran erinnern. Letzteres nennt man eine traumatische Amnesie. Das Erlebte, das nicht bewältigt werden kann, wird weggespalten. Es ist dann, als ob es nicht geschehen wäre. Viele Kinder können ihre traumatischen Erlebnisse nur auf diese Art überleben. 

Wie meinen Sie das? 

Über 90 Prozent der Kinder werden von einer nahen Bezugsperson missbraucht, vom Sporttrainer, vom Onkel, vom eigenen Vater. Die Kinder wollen den Täter schützen, ihre Lebenswelt erhalten, weil sie dem Täter auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind. Deshalb interpretieren sie diese Taten ganz anders, viele sagen sich: Das, was mir widerfährt, geschieht aus Liebe. Die Statistik zeigt, dass viele Täter sehr junge Kinder und sogar Kleinkinder sexuell ausbeuten: Über 50 Prozent aller Opfer sind unter zehn Jahre. Das überrascht nicht, wenn man bedenkt, dass gerade junge Kinder stark an ihre Bezugspersonen gebunden und somit von ihnen abhängig sind. Es sind die «perfekten Opfer». Sie reden nicht und sie sind extrem loyal gegenüber den Tätern. 

Vater, Onkel, Sporttrainer, Sie haben nur männliche Beispiele aufgezählt.

Auch Frauen begehen sexuellen Missbrauch, und diese Übergriffe sind keineswegs weniger schädlich oder weniger schlimm. Aber weit über 90 Prozent der Täter sind männlich. 

Haben all diese Männer eine pädophile Neigung? 

Nein, von dieser Gruppe sind nur etwa 20 bis 30 Prozent pädophil veranlagt. Das heisst, sexuell ausgerichtet auf Kinder, und das seit ihrer Geburt. Die anderen 70 bis 80 Prozent machen dies aus einem Machtaspekt heraus. Sie kompensieren Schwäche- oder Ohnmachtsgefühle, indem sie Gewalt ausüben. Hinter der Gewalt steckt immer ein Machtanspruch. Man macht ein Kind schwach, demütigt es, was einem den «Kick» gibt, den man sucht. Und am stärksten ist dieser Machtkick bei der Ausübung sexueller Gewalt. 

«Man macht ein Kind schwach, demütigt es, und das gibt einem den Kick.» 

In welcher Lebensphase wird jemand zum Täter? 

Das ist eine spannende Frage, die schwer zu beantworten ist. Es gibt Studien, in denen Biografien von Sexualstraftätern untersucht wurden. Aus denen geht hervor, dass die überwiegende Mehrheit bereits als Kind oder als Jugendlicher sexuelle Taten begangen hat. Das heisst: Die Kompensation der eigenen Ohnmachtsgefühle durch sexuelle Gewalt fängt früh an. 

Mädchen sind doppelt so häufig betroffen wie Buben. Gibt es das typische Opfer? 

Grundsätzlich kann jedes Kind ein Opfer werden, denn alle Kinder sind in höchstem Masse von Erwachsenen abhängig. Sexuelle Ausbeutung von Kindern findet in sämtlichen Gesellschaftsschichten statt. Sie ist also kein «Unterschichtenthema». 

Welche Folgen hat sexueller Missbrauch für die Entwicklung eines Kindes und sein späteres Leben?

Sexuelle Handlungen an einem Kind sind immer traumatische Ereignisse und haben schwere Auswirkungen, ganz besonders, wenn sie in einem engen Beziehungsgeflecht passieren. Das kindliche Vertrauen wird auf eine Art missbraucht, die ein Kind nicht deuten kann. Fast immer leiden die betroffenen Kinder als Folge davon unter Traumafolgestörungen. Wie schwer diese ausfallen, hängt von der Häufigkeit und Dauer ab und wie schwerwiegend die sexuellen Handlungen waren. 

Welches sind die typischen Symptome? 

Immer wieder kommen Erinnerungen bei den Betroffenen hoch, ausgelöst durch Menschen, Gegenstände, Gerüche, Geräusche und so weiter. Sie leiden unter Schlafstörungen, Ängsten, innerer Anspannung, Konzentrationsstörungen und sie erleben die traumatischen Szenen immer und immer wieder in Form von Bildern, Empfindungen oder Alpträumen. 

Aber wie können solche Übergriffe über Jahre hinweg stattfinden? Gibt es tatsächlich Mütter, die nicht mitbekommen, dass der Ehemann beziehungsweise Partner das eigene Kind missbraucht? 

Es gibt viele Varianten. Viele Frauen bekommen diese Handlungen tatsächlich nicht mit beziehungsweise deuten die Signale des Kindes falsch. Andere schauen weg, wollen oder «dürfen» es nicht wahrhaben und wieder andere unterstützen den Partner sogar, indem sie ihm die Kinder ins Schlafzimmer bringen. Diese Fälle sind krass und zum Glück sehr selten.

Wie gehen Sie vor, wenn Angehörige mit einem Verdacht zu Ihnen in die Beratung kommen? 

Wir schauen uns die Hinweise an, welche zu dem Verdacht geführt haben. Manchmal sind das Veränderungen im Verhalten des Kindes. Oft hat man lange, bevor ein Beweis vorliegt, eine Ahnung, dass etwas nicht stimmt. Dieses Bauchgefühl muss man ernst nehmen. 

Wie wird ein Missbrauch bewiesen? 

Man kann einen sexuellen Missbrauch nicht beweisen, wenn ein Kind nicht darüber spricht. Doch aufgrund ihrer emotionalen Abhängigkeit äussern sich Kinder in der Regel nicht. Sie schützen die tätliche Person, weil sie eine enge Bindung an diese haben. Eindeutige Hinweise sind nur gegeben, wenn ein Kind von seinem Horror spricht oder wenn es Zeugen der sexuellen Handlungen gibt, was leider fast nie der Fall ist. Die meisten Kinder reagieren entgegen allen Erwartungen nicht mit sexualisiertem Verhalten. 

Wie sähe ein solches Verhalten aus? 

Ein Mädchen hat einmal vor seinen Mitschülern in der ersten Klasse seine Unterhose runtergezogen, sich gebückt und gesagt: «Da kann man das Schnäbi reinstecken.» Das ist schon ein sehr deutlicher Hinweis, dass etwas nicht stimmt. Dieses Kind ist offenbar mindestens Zeugin erwachsener sexueller Handlungen geworden. Dies direkt oder indirekt, etwa durch Pornos. Ob das Mädchen noch mehr erlitten hat, weiss man aufgrund dieses Verhaltens nicht. 

«Kein Kind hat ein Interesse daran, die tätliche Person zu verraten.»

Sie sagen, dass solche klaren Hinweise sehr selten sind. 

Richtig. Kinder, die sexuell ausgebeutet werden, zeigen am ehesten Symptome einer Belastung, einer inneren Not. Sie wollen zum Beispiel plötzlich nicht mehr raus zum Spielen, machen auf einmal wieder ins Bett, können nicht mehr alleine im Dunklen schlafen und so weiter. 

Das sind Auffälligkeiten, die viele andere Ursachen haben können. 

Das macht die Aufklärung solcher Fälle so schwer. Kinder haben immer wieder entwicklungsbedingte Krisen. Wenn diese Symptome in zwei bis drei Monaten wieder verschwinden, gehört das zur normalen Entwicklung. Falls dieses Verhalten jedoch anhält oder noch weitere Symptome hinzukommen, sollten sich Eltern an eine Beratungsstelle wenden. Denn dann sind diese Ängste ein Ausdruck innerer Not und das Kind braucht spezialisierte Hilfe, um diese zu bewältigen. 

Welche Möglichkeiten haben Eltern, ihre Kinder vor sexuellen Übergriffen zu schützen?

Wirksame Prävention von sexueller Gewalt setzt immer auf mehreren Ebenen an. Zum einen müssen die Kinder durch eine angemessene Begleitung in ihrer psychosexuellen Entwicklung unterstützt und in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt werden. So sollen Kinder beispielsweise Bezeichnungen für alle Körperteile kennenlernen, auch für ihre Geschlechtsteile, und ihnen sollte – natürlich altersgerecht – Wissen über Sexualität vermittelt werden. Zum anderen kommt den Eltern eine wichtige Vorbildfunktion zu. 

Inwiefern? 

Mütter und Väter sollten ihren Kindern vermitteln, dass Sexualität und Körperlichkeit etwas Positives ist, aber dass es in Bezug auf den eigenen Körper Grenzen gibt, die andere zu respektieren haben. Wie man diese Grenzen zieht, sollten Väter und Mütter in der Familie vorleben. Zum Beispiel, indem er oder sie klar und deutlich äussert, wenn ihn oder ihr etwas Unbehagen bereitet. «Stopp, ich möchte alleine aufs WC.» Wenn das Kind erlebt, dass auf diese Weise Grenzen gesetzt werden dürfen und dass diese respektiert werden, hat es das Wichtigste schon gelernt, nämlich dass es Grenzen gibt, die eingehalten werden müssen. 

Sexueller Missbrauch, und der Schutz vor diesem, wird in vielen Kinderbeziehungsweise Bilderbüchern thematisiert. Ist das sinnvoll? 

Prinzipiell schon, doch die Art und Weise scheint mir häufig nicht hilfreich oder sogar kontraproduktiv. In der Regel werden dort Kinderfiguren gezeigt, die zu einem potenziellen Täter laut und deutlich «Nein» sagen sollen. 

Was ist daran falsch? 

Es wird dabei ausgeklammert, dass der überwiegende Teil der Täter aus dem nahen Umfeld des Kindes stammt. Das Kind hat eine enge Bindung an diese Person, ist von ihr abhängig. Aufgrund dieser Abhängigkeit und des logischerweise sehr grossen Machtgefälles zwischen Erwachsenem und Kind ist kein Kind in der Lage, dem Ansinnen eines Erwachsenen etwas entgegenzusetzen. Wenn Sie also ein Kind darauf trainieren, Nein zu sagen, werden Sie ein grosses Problem im Kind produzieren. Es wird nämlich in der konkreten Ausbeutungssituation nicht Nein sagen können. Und so wird es das Gefühl entwickeln, etwas falsch gemacht zu haben, selbst schuld zu sein an dem Schlimmen, das dieser vertraute Mensch mit ihm macht. 

Was ist also stattdessen zu tun? 

Verantwortlich für den Schutz der Kinder sind die Erwachsenen. Ein Kind kann sich nicht wirksam vor sexueller Ausbeutung schützen. Ich halte es daher für sehr viel sinnvoller, wenn die Kinder zu Hause und in der Krippe, im Hort klare Botschaften bekommen: «Schau, an diesen Stellen darf dich überhaupt niemand anfassen – ausser bis zu einem gewissen Alter Mama oder Papa. Die Kleider bleiben beim Spielen an.» 

Mit einem Schulkind kann man so etwas besprechen. Aber wie redet man über dieses Thema mit einem jüngeren Kind? 

Es ist nicht die Aufgabe eines kleinen Kindes, sich zu schützen, das müssen die Eltern tun. So darf das Kind beispielsweise nur vertrauten Personen zum Hüten gegeben werden. Vater oder Mutter sollten dabei sein, wenn grössere Kinder mit dem kleinen Kind zusammen sind. Und wenn der 13-jährige Nachbarsbub immer wieder mit dem Kleinkind spielen will, kann das auffällig sein und sollte in einem kontrollierbaren Kontext stattfinden. 

Gesetzt den Fall, ein 7-jähriges Mädchen ist einmal pro Woche über Mittag bei einer Freundin, wo sie von deren Eltern beaufsichtigt wird, bis die eigenen Eltern von der Arbeit kommen. Nach einem halben Jahr bittet die Tochter ihre Eltern immer häufiger und vehementer, nicht hin zu müssen. Wann sollten diese handeln?

Natürlich kann das viele Gründe haben. Den Wunsch zum Beispiel, die Zeit lieber an einem anderen Ort zu verbringen. Ich würde nachfragen: Warum gehst du nicht mehr gerne da hin? Wenn die Eltern das Gefühl haben, dass diese Situation für das Kind wirklich belastend ist, würde ich eine andere Betreuungslösung suchen. Wichtig ist auch da, dass Eltern ihr Bauchgefühl ernst nehmen. Auf keinen Fall sollten Eltern, deren Kinder solche Belastungssymptome zeigen, infrage stellen, was das Kind sagt. Ein ausgebeutetes Kind redet in der Regel nicht, und wenn doch, sind diese Aussagen meist nicht eindeutig. 

Häufig werden kindliche Äusserungen mit Begründungen abgetan wie «das Mädchen hat eine blühende Fantasie, es möchte nur die Aufmerksamkeit auf sich lenken». 

Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Viele Menschen können sich schlichtweg nicht vorstellen, dass solche Handlungen an Kindern vollzogen werden – noch dazu von einer Person, die man unter Umständen sehr schätzt. Natürlich gibt es Kinder, die fantasieren. Jedoch hat kein Kind ein Interesse, die tätliche Person zu verraten. Also sind Aussagen von Kindern über sexuelle Handlungen sehr ernst zu nehmen. 

Nun hat sich der Erziehungsstil in den letzten Jahrzehnten sehr gewandelt, Kinder erleben sich heute als selbstwirksamer, dürfen stärker ihre Meinung vertreten. Hat dies Einfluss auf die Zahlen oder anders gefragt: Gehen die Fälle von sexuellem Missbrauch tendenziell zurück? 

Leider nein. Natürlich ist es wichtig, dass die Bedürfnisse von Kindern heute ernst genommen werden, dass sie mehr Rechte haben. Auf das Ausmass von sexueller Gewalt an Kindern hat dies leider keinen Einfluss. Wir müssen weiterhin wachsam bleiben. 

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