Wenn sich Eltern trennen, Vater oder Mutter den Job verliert oder gar ein naher Verwandter stirbt, bedeutet dies eine grosse Belastung für die ganze Familie. Kinder spüren die Auswirkungen dieser Umbruchsituationen besonders stark. Wie können Eltern die negativen Folgen abschwächen oder gar verhindern?
Doron ist 8 Jahre alt, als er die Scheidung seiner Eltern erlebt. Als Michaels Mutter zum ersten Mal nach seiner Geburt wieder arbeiten geht, ist er 3 Jahre alt. Azrah ist 12 Jahre, als ihr Vater seinen Job verliert, und Marie 10 Jahre, als ihre Mutter erneut heiratet und die Patchworkfamilie in eine neue Stadt zieht.
Die Familiendynamik befindet sich in stetigem Wandel.
Jede Familie hat ihre eigene Dynamik, sprich, eine eigene Art und Weise, wie die einzelnen Familienmitglieder miteinander interagieren beziehungsweise miteinander in Beziehung stehen. Da sich Menschen beziehungsweise die Umstände, unter denen Familienmitglieder miteinander leben, ständig verändern, bleibt die Familiendynamik niemals genau gleich. Die Interaktionen zwischen Familienmitgliedern führen zu unterschiedlichen Verhaltensweisen, und diese ändern sich mit der Zeit.
Familienstrukturen sind komplex
Nun haben einige demografische und soziale Veränderungen innerhalb der letzten Jahrzehnte zu komplexeren und vielfältigeren Familienstrukturen geführt. Während 1970 beispielsweise nur 15 Prozent aller Ehen geschieden wurden, stieg die Scheidungsrate bis Ende der 90er Jahre auf über 40 Prozent und zeitweise auf bis zu 50 Prozent an.
Paare, die Kinder haben, haben ein höheres Trennungsrisiko als kinderlose Paare. Aus diesem Grund besteht für Kinder eine hohe Wahrscheinlichkeit, Trennungen mitzuerleben und mit einem alleinerziehenden Elternteil aufzuwachsen.
Darüber hinaus können viele weitere Lebensereignisse die Stabilität einer Familie gefährden, beispielsweise eine schwere chronische Erkrankung der Eltern oder Geschwister, der plötzliche Tod eines geliebten Menschen oder der Verlust eines Arbeitsplatzes, der sich negativ auf die finanzielle Situation der Familie auswirkt.
Ein weiterer zentraler gesellschaftlicher Wandel der letzten Jahrzehnte besteht darin, dass heute mehr Mütter einer Beschäftigung nachgehen als früher. War 1980 nur rund ein Drittel aller verheirateten Mütter mit Kindern unter 18 Jahren berufstätig – der Grossteil von ihnen alleinerziehend –, arbeiteten 2014 bereits gut 75 Prozent der Mütter mit Kleinkindern und 84 Prozent der Mütter mit schulpflichtigen Kindern, so der Familienbericht des Bundes von 2017.
Die Familiendynamik ändert sich
Studien deuten darauf hin, dass zwischen Veränderungen in der Familiendynamik und dem Wohlergehen der Kinder Zusammenhänge bestehen. Aber haben solche Veränderungen in erster Linie kurzfristige Auswirkungen oder haben sie auch nachhaltigere Folgen wie zum Beispiel psychische Probleme im Erwachsenenalter? Und auf welche Weise beeinflussen Veränderungen in der Familienstruktur das Wohlergehen der Kinder?
Veränderungen innerhalb der Familie beeinflussen alle Mitglieder.
Forscher, die sich mit dem Gleichgewicht innerhalb einer Familie sowie den Interaktionen zwischen ihren Mitgliedern befassen, haben bemerkt, dass Veränderungen innerhalb der Familie die bestehenden Rollen und Funktionsweisen aller Mitglieder beeinflussen. Solche Übergangszeiten können chaotisch und stressig sein und das Wohlbefinden der Kinder und der Eltern beeinträchtigen. Ein Familiensystem ist lebendig, es versucht, seine Organisation und Stabilität zu erhalten und gleichzeitig flexibel genug zu sein, um sich an herausfordernde Situationen anzupassen.
Ängste und Depressionen als Folge?
Es ist auch wichtig zu erkennen, dass zwischen den Mitgliedern gegenseitige Abhängigkeiten bestehen. Dies ist einer der Gründe, warum ein solches System komplex sein kann. Kommen Veränderungen der Familienform beziehungsweise der Rolle einzelner Familienmitglieder hinzu, steigert dies die Komplexität der Familie weiter.
Einige ausländische Studien haben gezeigt, dass Kinder auf verschiedene Weise von einer Veränderung der Familiendynamik betroffen sein können, etwa indem sie eine geringere soziale und psychologische Reife aufweisen. Die Forschung hat auch gezeigt, dass Ängste und Depressionen die Folge eines stressigen Ereignisses sein können.
Kinder geschiedener Eltern oder Kinder, die in Armut leben, haben möglicherweise ein geringeres Selbstbewusstsein und weniger soziale Beziehungen. Ausserdem kann das Kind das Gefühl von emotionaler Sicherheit verlieren. Nach einem Todesfall oder einer schweren Erkrankung in der Familie können sich Kinder unsicher fühlen und Angst vor weiteren Veränderungen entwickeln.
Kinder geschiedener Eltern haben tendenziell eine geringere Sprachstimulation und somit schlechtere Noten.
Ebenso erhöht der Verlust eines Jobs das Risiko, dass mit nachfolgendem Wohnortswechsel das Kind seine Freunde, seine Schulumgebung und andere Unterstützungssysteme verliert. Solche Kinder weisen zeitweise eine geringere schulische Leistungsfähigkeit auf. Kinder geschiedener Eltern haben tendenziell eine geringere Sprachstimulation und somit schlechtere Noten.
Intimität und Zuneigung sind die wichtigsten Faktoren für das Wohlbefinden in einer Familie.
Zudem sollte berücksichtigt werden, dass die Anpassung für das Kind umso schwieriger ist, je mehr Veränderungen innerhalb der Familienstruktur stattfinden. Veränderungen wie eine Trennung der Eltern führen oft auch zu anschliessendem Umzug aus dem Elternhaus oder dem Einzug eines neuen Partners, erneuter Heirat oder später wieder zu weiteren Trennungen der Eltern von neuen Lebenspartnern. In Kombination mit zusätzlichen stressigen Umständen, wie zum Beispiel Armut in der Familie, kann es zu kurzfristigen Krisen kommen.
Manchmal wird die Entwicklung eines Kindes auch nachhaltiger beeinträchtigt. Ein Grund dafür kann sein, dass der Stress und die Überforderung mit den Veränderungen zu einem verminderten Sicherheitsgefühl und Selbstvertrauen des Kindes führen. Dies kann die emotionale Entwicklung des Kindes insgesamt beeinträchtigen.
Ein geringes Selbstwertgefühl als Ursache?
Studien haben gezeigt, dass Kinder, die viele familiäre Veränderungen und stressige Ereignisse erleben, häufiger emotionale Schwierigkeiten und Verhaltensauffällligkeiten sowie psychische Störungen oder Alkoholabhängigkeit im Erwachsenenalter aufweisen.
Eine mögliche Erklärung hierfür könnte sein, dass diese Ereignisse gleichzeitig die Eltern betreffen und auch für diese sehr herausfordernd sind, was zu einer Überforderung der Eltern und damit einer beeinträchtigten Erziehung führen kann.
Häufig beschreiben sich geschiedene Mütter entsprechend als weniger liebevoll und kommunikativ sowie als strafender – insgesamt berichten sie zudem von einem geringeren Selbstwertgefühl.
Fast alle negativen Folgen können aber abgeschwächt oder gar verhindert werden, wenn es den Eltern gelingt, mit der neuen Situation konstruktiv umzugehen und ihren Kindern bei der Anpassung zu helfen.
Was können Eltern also tun, um das Familiengleichgewicht zu erhalten und die psychische Gesundheit der Kinder zu schützen? Eine erste Veränderung im Familienleben stösst häufig weitere Veränderungen an, einschliesslich solcher in der Familienstruktur. Eltern und Kinder sind zunehmend gefordert, die notwendigen Fähigkeiten zu entwickeln, um diesen Veränderungen und Übergängen gewachsen zu sein.
Wichtig scheint, dass jedes Familienmitglied für sich sowie alle Beziehungen untereinander ausreichend beachtet werden.
Eltern, Partner und Kinder müssen nicht nur neue Wege im Zusammenleben finden, sondern auch ihre Identität in einem neuen Umfeld definieren.
Manche Schwierigkeiten haben tiefe Wurzeln.
Elterliches Verhalten vor und nach dem auslösenden Stressfaktor, Alter und Geschlecht der Kinder sowie die Lebensumstände, beispielsweise nach einer Trennung, sind nur einige der Faktoren, die eine Rolle für die Auswirkungen der Veränderungen spielen. Und damit für das Wohlergehen der Kinder. Einige der Schwierigkeiten, die nach einem Strukturwandel der Familie auftauchen, haben aber auch tiefere Wurzeln, die sich bereits viele Jahre davor gebildet haben.
Auch wenn Familienstrukturen heute komplexer geworden sind, bleiben Intimität und Zuneigung in familiären Beziehungen, egal in welcher Form des Zusammenlebens, die wichtigsten Faktoren für das Wohlbefinden einer Familie – und damit für das Wohlbefinden ihres Kindes.
Gina Kouri ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für klinische Familienpsychologie am Departement für Psychologie der Universität Freiburg.
So helfen Sie Ihrem Kind in Umbruchsituationen
1. Emotional nah am Kind sein
Menschliche Gefühle sind die wichtigste Informationsquelle für unseren psychischen Zustand. Ein Mensch kann seine Gedanken bewusst steuern, aber er kann seine Gefühle nicht in der gleichen Art und Weise kontrollieren. Gefühle sind ein Teil unseres Selbst und müssen deshalb ernst genommen werden. Das Gleiche gilt für die Gefühle der Kinder. Emotional beim Kind zu sein, bedeutet in diesem Sinn, sich für die Gefühle des Kindes zu interessieren. Lassen Sie Ihr Kind vorhandene Gefühle leben und ausdrücken, beispielsweise durch Gespräche, jedoch auch durch Malen, Spielen und so weiter.
2. Die Gefühle akzeptieren
Manchmal fällt es Eltern schwer, sich der Tatsache zu stellen, dass ihr Kind wütend, ängstlich oder zutiefst traurig ist. Es ist jedoch in diesem Fall besser, diese Gefühle zu akzeptieren und sie nicht zu ignorieren. Jedes Kind ist einzigartig im Umgang mit Veränderungen und Komplexität in der Familie. Die Eltern sollten geduldig sein, dem Kind die Zeit geben, die es braucht, und ihm beistehen.
Eltern sollten ebenfalls den Kindern mitteilen, wie sie sich selbst fühlen. Obwohl Menschen manchmal Angst vor negativen Gefühlen haben, sind sie doch sehr wichtig und nötig, um mit Schwierigkeiten fertigzuwerden. Zeigen Sie das Ihren Kindern.
Wenn Sie sich erschöpft fühlen und Schwierigkeiten haben, alltägliche Aktivitäten und Anforderungen zu bewältigen, dann ist es wahrscheinlich an der Zeit, um Hilfe zu bitten. Haben Sie keine Angst davor, sich Unterstützung zu holen. Es ist verständlich, wenn es Ihnen als Elternteil manchmal schwerfällt, mit starken Stressfaktoren und ständigen Veränderungen fertigzuwerden. Viele Studien haben gezeigt, dass das soziale Netzwerk (z.B. Freunde, Familie) und die damit verbundene Unterstützung helfen, stressige Lebensereignisse erfolgreich zu bewältigen.
5. Die neue Situation erklären
Veränderungen, die sich auf die alltäglichen Aktivitäten und Gewohnheiten einer Familie auswirken, können das innere Gleichgewicht des Kindes beeinträchtigen. Kinder haben manchmal Angst und sind unsicher, wenn sie nicht wissen, welche Auswirkungen eine Veränderung auf ihr Leben hat. Es ist daher wichtig, den Kindern zu erklären, wie die neue Situation aussehen wird, und mit ihnen die wichtigsten möglichen Veränderungen für die nächste Zeit zu besprechen. Dies vermittelt dem Kind Kontrolle und Sicherheit.
6. Vertrauen haben in das Kind
Jedes Kind muss seinen eigenen Weg haben, um mit diesen Veränderungen umzugehen.
Welche ist die Rolle der Eltern? Welche die Rolle des Kindes? Eine klare Rollenklärung trägt zur Sicherheit des Kindes bei.
Dieser Artikel ist Teil 4 unserer laufenden Serie WAS KINDER KRANK MACHT aus dem Magazin 08/18. Verpassen Sie keinen Teil der Serie mehr, indem sie
unser Magazin abonnieren.