Hochsensible Kinder verstehen
Hochsensible Kinder wirken oft zurückhaltend, ängstlich, kontaktscheu. In ihrem Umfeld werden sie häufig als Mimose oder Sensibelchen abgestempelt; ihre Potenziale werden übergangen. Erst bei näherem Kennenlernen wird ersichtlich, wie einfühlsam und verlässlich sie sind, wie gut sie beobachten können, wie bedacht sie handeln.
Lena hat sich im Kindergarten nach einer längeren Eingewöhnungsphase gut integriert. Die Loslösung von der Mutter fiel ihr schwer. In den ersten Monaten stand sie meist unsicher, beobachtend und scheinbar teilnahmslos im Raum, ohne sich Spielpartner zu suchen. Erst mit der Zeit fasste Lena Vertrauen, gesellte sich zu anderen, meist ruhigen Kindern und ging den lauten, forschen und fordernden Kindern aus dem Weg.
Hochsensible Kinder brauchen Ruhephasen und die Möglichkeit, aufzutanken.
Seit klar ist, dass sie in die Schule soll, klagt sie über Einschlafschwierigkeiten. Der neue Lebensabschnitt bereitet dem Mädchen grosses Kopfzerbrechen, Ängste tauchen auf. Auch im Alltag beschreibt Lenas Mutter ihre Tochter als besonders unsicher in unbekannten Situationen und mit extrem starkem Rückzugsverhalten, sobald Stress und Hektik aufkommen. Über viele Kleinigkeiten zerbreche sich ihre Tochter den Kopf. Bezüglich der Einschulung macht sich die Mutter inzwischen Sorgen. Wird ihre Tochter die Umstellung schaffen? Wie wird sie mit ihren Mitschülern, mit den Lehrern und den schulischen Anforderungen zurechtkommen? So wie Lena geht es vielen Kindern.
Wissen über Hochsensibilität kann den Alltag erleichtern
Oft wird ihr zurückhaltendes, vorsichtiges Verhalten missverstanden und falsch interpretiert. Stossen Hilfe suchende Eltern beim Ergründen von Verhaltensweisen ihres Kindes auf das Thema Hochsensibilität, fällt ihnen nicht selten ein Stein vom Herzen. «Jetzt verstehe ich endlich, warum mein Kind sich so verhält», ist einer der meistgehörten Sätze in der Beratung.
Die Auseinandersetzung mit diesem Thema lohnt sich. Laut der amerikanischen Psychologin Elaine Aron sind 15 bis 20 Prozent aller Kinder und Erwachsenen hochsensibel. Hat das eigene Kind eine hochsensible Persönlichkeitsstruktur, kann das Wissen darüber helfen, den Alltag zu meistern und so zu gestalten, dass das Kind in seiner Entwicklung optimal gefördert wird und seine Fähigkeiten ausschöpfen kann.
Was ist Hochsensibilität?
Laut Elaine Aron ist die Hochsensibilität ein angeborenes und damit auch vererbtes Persönlichkeitsmerkmal. Eine hochsensible Veranlagung zeigt sich in der Regel bereits im Säuglingsalter, unter anderem durch ein intensives und aufmerksames Beobachten des Umfeldes, durch ein schnelles Quengeln bei zu vielen Aktivitäten und durch ein geringeres Bedürfnis, das Umfeld zu erkunden – Aron spricht hier von einem Verhaltenshemmsystem, das bei hochsensiblen Kindern verstärkt aktiv ist.
Hochsensible Kinder, kurz HSK, haben von Geburt an ein empfindsameres Nervensystem. Sie nehmen Sinneseindrücke viel intensiver wahr als andere. Kaum etwas prallt einfach an ihnen ab. Was sie beobachten, spüren und wahrnehmen, wollen sie verarbeiten, durchdenken, verstehen. HSK nehmen dabei viel mehr Details auf als die Mehrzahl ihrer Mitmenschen und denken intensiver über das nach, was sie erleben.
Hochsensibilität betrifft 15 bis 20 Prozent aller Kinder.
Verständlich, dass hochsensiblen Kindern schnell alles zu viel wird. Die Menge an wahrgenommenen Informationen, wie etwa Stimmungen von Mitmenschen, Geräusche, Gerüche, sorgt dafür, dass diese Kinder viel Zeit brauchen, um Geschehnisse zu verarbeiten. Strömen zu viele Eindrücke auf diese Kinder ein, kann es zu einer Reizüberflutung kommen. Sie fühlen sich in der Folge erschöpft, geraten unter Stress, möchten sich von der Aussenwelt abschirmen oder sind gereizt. Entgegen ihrer sonst so ruhigen und freundlichen Art beginnen HSK zu quengeln, zu weinen oder mittels Wutausbrüchen zu signalisieren, dass ihnen alles zu viel ist.
Auch Schlafprobleme, Kopf- und Bauchschmerzen können Warnsignale für eine Überreizung sein. Neuen Situationen stehen HSK zunächst sehr vorsichtig und beobachtend gegenüber. Sie durchdenken alle Risiken, und erst wenn sie sich sicher fühlen und Vertrauen gewinnen, werden sie aktiv und handeln.
Hochsensibilität ist keine Störung
Meist bemerken Eltern schon sehr früh, dass ihr Kind sich anders verhält als andere Kinder, haben dafür aber keine Erklärung. Nicht selten stellt sich die Frage: Ist das Verhalten meines Kindes noch normal oder zeigt sich eine Störung, die einer Therapie bedarf?
Die Psychologin Elaine Aron verdeutlicht, dass Hochsensibilität ein positiv zu bewertendes Persönlichkeitsmerkmal und kein Krankheitsbild ist. Je besser Eltern, Bezugspersonen und Pädagogen auf die Eigenart der HSK eingehen, desto grösser die Chance, dass das Kind die Herausforderungen des Lebens meistert. Der Versuch einer Desensibilisierung oder ein Umfeld, das der Hochsensibilität keinen Raum lässt, kann in Folge Störungsbilder hervorrufen.
Eltern sind in der Entwicklung ihres hochsensiblen Kindes immer wieder vor Herausforderungen gestellt, die unter Umständen alleine nicht zu bewältigen sind. Was, wenn die Schlafprobleme überhandnehmen, wenn das Kind beginnt, jegliche Kontakte zu meiden? Wenn es mit seiner Andersartigkeit nicht zurechtkommt? Wenn es in der Pubertät die notwendige Ablösung nicht schafft, weil dadurch Sicherheit und Struktur wegdrehen? Hier kann es hilfreich sein, wenn Eltern sich Unterstützung bei Psychologen oder Therapeuten suchen, die sich auf das Thema Hochsensibilität spezialisiert haben.
Die Stärken im Blick behalten
Hochsensible Kinder haben eine Vielzahl an Fähigkeiten, die sehr wertvoll sind. Dazu gehören unter anderem ein gutes Einfühlungsvermögen, eine ausgeprägte Intuition, ein starkes Gerechtigkeitsempfinden, Verlässlichkeit, Kreativität und eine hoch entwickelte Detailwahrnehmung. In der Schule zeigen HSK oft gute Leistungen. Sie möchten ihre Aufgaben so gut wie möglich lösen, nehmen schulische Inhalte detailliert auf und erkennen komplexe Zusammenhänge schnell.
Durch die hohe sensorische Wahrnehmung zeigt sich oft eine hohe musische oder künstlerische Begabung. Ebenso zeigt sich ein feiner Geruchs-, Geschmacks- und Tastsinn. Damit sich dieses Potenzial entfalten kann, ist es notwendig, den Kindern Ruhephasen zu ermöglichen und ihr Bedürfnis nach Rückzug ernst zu nehmen. Auf diese Weise können sie Tagesgeschehnisse und Informationen in Ruhe verarbeiten.
Hochsensible Kinder klagen bei Überreizung über Kopf- und Bauchschmerzen.
Spontanaktionen lösen bei HSK regelrecht Stress aus und belasten das Kind unnötig. Jedes Gespräch, jeder Hinweis, jede zusätzliche Information über das, was die Kinder erwartet, bedeutet für Hochsensible mehr Sicherheit und damit weniger Grund zur Angst. Das kann heissen, die Menükarte eines neuen Restaurants im Vorfeld mit dem Kind schon durchzulesen, um ihm dann bei der Familienfeier vor vielen Personen eine Blamage zu ersparen.
Es kann auch heissen, vor der Einschulung bereits einen Schulbesuch abzustatten, sich über den zukünftigen Lehrer zu informieren, den Ablauf eines Schulvormittags im Vorfeld durchzuspielen. Je mehr Zeit hierfür im Vorfeld investiert wird, umso gelassener kann das Kind auf die unbekannte Situation zugehen.
- Elaine Aron: Das hochsensible Kind. mvg, 2012, 350 S., Fr 25.90 Christa und Dirk Lüling: Mit feinen Sensoren. ASAPH, 2014, 160 S., Fr. 21.90
- Brigitte Schorr: Hochsensibilität – Empfindsamkeit leben und verstehen. SCM Hänssler, 2015, 79 S., Fr. 11.90 Georg Parlow: Zart besaitet. Festland, 2015, 248 S., Fr. 32.90
Fragebogen: Folgende Aussagen können helfen, ein Kind auf seine hochsensible Persönlichkeit einzuschätzen:
Mein Kind …
- erschrickt leicht
- hat eine empfindliche Haut, verträgt keine kratzenden Stoffe oder keine Nähte in Socken oder Etiketten in T-Shirts
- mag keine Überraschungen
- profitiert beim Lernen eher durch sanfte Belehrung als harte Strafe
- hat einen für sein Alter ungewöhnlich gehobenen Wortschatz
- scheint meine Gedanken lesen zu können
- ist geruchsempfindlich, sogar bei sehr schwachen Gerüchen
- hat einen klugen Sinn für Humor
- scheint sehr einfühlsam zu sein
- kann nach einem aufregenden Tag schlecht einschlafen
- hat Mühe mit grossen Veränderungen
- findet nasse oder schmutzige Kleidung unangenehm
- stellt viele Fragen
- ist ein Perfektionist
- bemerkt, wenn andere unglücklich sind
- bevorzugt leise Spiele
- stellt tiefgründige Fragen, die nachdenklich stimmen
- ist sehr schmerzempfindlich
- ist lärmempfindlich
- registriert Details (Veränderungen in der Einrichtung oder im Erscheinungsbild eines Menschen usw.)
- denkt über mögliche Gefahren nach, bevor es ein Risiko eingeht
- erzielt die beste Leistung, wenn keine Fremden dabei sind
- hat ein intensives Gefühlsleben
Auswertung:
Treffen mindestens 13 Aussagen auf das Kind zu, kann davon ausgegangen werden, dass es hochsensibel ist. Quelle: E. Aron, «Das hochsensible Kind»
Wichtiger Hinweis:
Der Fragebogen dient als Orientierungshilfe für Eltern und Bezugspersonen und kann nicht mit einer psychologischen Testdiagnostik verglichen werden. Ziel der Einschätzung ist es, ein tieferes Verständnis für das Kind und seine Verhaltensweisen zu bekommen. Viele Situationen können so verstanden und neu beurteilt werden.