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Das aggressive Kind

Lesedauer: 10 Minuten

Aggression hat viele Gesichter und viele Ursachen. Frustration und Provokation sind Grundpfeiler für die grosse Wut im Bauch. Warum ist Aggression wichtig? Wie sollen Eltern und Lehrpersonen reagieren, wenn Kinder schreien, drohen, schlagen?

Text: Sandra Casalini
Bild: Ute Grabowsky

Bei Phillippe, 16, passiert es immer wieder. Oft genügt eine Bemerkung, ein Blick. «Dann spüre ich, wie die Hitze in mir aufsteigt», sagt der Zehntklässler. «Es brodelt, bis es explodiert.» Dann schlägt Phillippe zu. Meist gegen eine Tür oder eine Wand. Manchmal schlägt er auch andere Jugendliche. Phillippe ist kein Einzelfall. 2014 gaben rund 16 Prozent der Teilnehmer einer Gewalt-Studie der Universität Zürich und der ETH Zürich an, Opfer von Gewalt geworden zu sein.

Aggression ist eine Reaktion darauf, dass eine Grenze überschritten wurde.

Der Bundesratsbericht «Jugend und Gewalt» von 2015 kommt zum Schluss, dass im Kanton Zürich fast jeder Dritte in einem Zeitraum von anderthalb Jahren schon einmal Opfer von Gewalt wurde – und jeder Fünfte hat in diesem Zeitraum Gewalt ausgeübt. Woran liegt das? Wie viel Aggression ist normal? Was muss man als Eltern aushalten, wann soll man einschreiten? Und wie?

Warum werden Kinder aggressiv?

Begibt man sich auf Ursachensuche danach, was Kinder wie Phillippe aggressiv macht, wird schnell klar: Es sind nicht die Gene oder die Erziehung oder die Medien – es ist eine Kombination aus allem. «Gene per se können kein Verhalten vorbestimmen», schreibt der deutsche Hirnforscher Gerhard Roth in einem seiner Werke. Entscheidend sei das Wechselspiel mit den Lebensumständen.

Auffällig ist, dass viele Kinder, die schnell aggressiv reagieren, gleichzeitig sehr sensibel sind. «Ich bin anders als andere», sagt Phillippe über sich. «Ich kann mich total über Sachen freuen, bei denen meine Kollegen nur die Schultern zucken.»

Der offensichtlichste Auslöser von Aggression ist körperlicher Schmerz: Wer geschlagen wird, schlägt zurück. Wenn sich nun aber «die durch den Schmerz hervorgerufene Aggression nicht gegen die Schmerzursache selbst richten kann, richtet sie sich oft gegen beliebige, zufällig anwesende Artgenossen», so der Neurowissenschaftler Joachim Bauer. Wird ein Kind von einem älteren Kind attackiert, gegen das es sich nicht wehren kann, richtet sich seine Aggression nicht gegen den Aggressor, sondern eventuell gegen ein kleineres Kind – das kann an einem anderen Ort und zu einem anderen Zeitpunkt geschehen. So entsteht schnell der Eindruck, das schlagende Kind sei «aus dem Blauen heraus» aggressiv.

Bild: iStockphoto
Bild: iStockphoto

Die Schmerzzentren des Gehirns reagieren aber nicht nur auf physischen, sondern auch auf psychischen Schmerz. So fand die amerikanische Hirnforscherin Naomi Eisenberger heraus, dass soziale Zurückweisung, Ausgrenzung, Verachtung oder Ungerechtigkeit gleich wahrgenommen werden wie körperlicher Schmerz. Der verachtende Blick, der Phillippe trifft, oder die ungerechte Bemerkung löst bei ihm das Gleiche aus wie ein Schlag gegen den Körper.

Ist Aggression ein Hilfeschrei?

Psychische Grenzüberschreitungen gibt es überall: in der Schule, in der Freizeit, auf dem Spielplatz. Und in der Familie. Dort hat sie besonders verheerende Konsequenzen. «Kinder, die keine zuverlässige Bindung zu ihren Bezugspersonen haben, und für die nie jemand Zeit hat, leben im Zustand der Ausgrenzung», sagt Joachim Bauer. Aggressives Verhalten bei Kindern sei immer ein Appell – im Falle eines chronisch aggressiven Kindes die Botschaft, sich ihm zuzuwenden, Zeit mit ihm zu verbringen. Sein Vater, sagt Phillippe, verbringe seine Zeit lieber mit Zocken am Computer als mit ihm.

«Ich möchte nicht mehr so schnell aggressiv werden, ich möchte mehr Kontrolle über mich», sagt Phillippe, 16.
«Ich möchte nicht mehr so schnell aggressiv werden, ich möchte mehr Kontrolle über mich», sagt Phillippe, 16.

Welche Rolle spielt Gewalt in den Medien?

Unser Gehirn reagiert nicht nur auf das eigene Erleben von körperlichem und seelischem Schmerz, es reagiert auch, wenn wir beobachten, wie er anderen zugefügt wird. Dies gilt nicht nur für das reale Leben, sondern auch für das virtuelle. «Eltern haben oft keine Ahnung, was ihre Kinder online so treiben», sagt Monika C., seit 15 Jahren Lehrerin, «welche Videos sie anschauen, welche Spiele sie spielen.»

Die Berner Psychologin und Familien­therapeutin Christine Harzheim gibt jedoch zu bedenken: «Gleichzeitig haben Kinder kaum mehr Freiräume. Sie befinden sich in ständiger Begleitung der Eltern, Lehrpersonen, Erzieher und Vereins­trainer.» So können Heranwachsende Gefühle wie Wut, Frust oder Trauer selten unbeobachtet zeigen, die Aggressionen stauen sich an. Und gerade Jugendliche suchen sich ihre Freiräume woanders, beispielsweise in der virtuelle Welt – wo sie dann alles Aufgestaute ungefiltert rauslassen.

Verunsicherung der Eltern kann eine Ursache für Aggressionen sein

«Eltern sind heute aber auch extrem unsicher», sagt Christine Harzheim. «Schon die Attacken eines trotzenden 3-Jährigen werden als persönliche Angriffe erlebt.» Und manche Eltern hätten schon das Gefühl, ein um sich schlagendes Kind festzuhalten, sei Gewalt, sagt Britta Went vom Elternnotruf. Auch der israelische Psychologieprofessor und Autor Haim Omer sieht in der Verunsicherung der Eltern einen möglichen Grund für kindliche Aggression. «Es gibt kaum noch allgemeingültige Regeln in der Erziehung. Die traditionelle Autorität, die auf Distanz und Gehorsam basiert, ist heute nicht mehr akzeptabel.»

Ihr setzt Omer die sogenannte «neue Autorität» entgegen, die auf Nähe und elterliche Präsenz setzt. Starke, konsequente, aber liebevolle Eltern sorgen dafür, dass Kinder sich zu Hause sicher fühlen. Gerade kindliche Aggressionen haben sehr oft mit Unsicherheit zu tun. «Um dem Kind Sicherheit zu geben, sind – neben viel elterlicher Nähe und Zuneigung – eine klare Haltung und Grenzen unabdingbar», sagt Haim Omer. «Für ein Kind sind fehlende persönliche Grenzen bei Erwachsenen sehr beunruhigend», bestätigt Familientherapeutin Harzheim. «Wenn es sich stärker erlebt als seine Eltern – wer soll es dann beschützen?» 

Einmal, erzählt Phillippe, habe er sein ganzes Zimmer zusammengeschlagen. Der Papa? «Hat geschrien.» Die Mama? «Hat geweint.» Seine Eltern würde Phillippe niemals anrühren, auch verbal nicht: «Die Familie ist unantastbar.»  

Wenn Kinder ihre Eltern bedrohen und angreifen – Parent Battering

Das ist nicht in allen Familien so. Rund 20 Prozent der Anrufe, die beim Elternnotruf eingehen, kommen von Eltern, die sich von ihren eigenen Kindern bedroht fühlen. «Parent Battering», Elternmisshandlung, nennt sich dieses Phänomen.

«Wir schätzen, dass hierzulande in jeder zehnten Familie ein Elternteil schon mindestens einmal von einem Kind angegriffen wurde», sagt Britta Went vom Elternnotruf. Das reicht vom 14-Jährigen, der seine Mutter regelmässig «Schlampe» nennt über die 16-Jährige, die die Mama herumschubst, bis zum 17-Jährigen, der den Vater im Streit mit den Fäusten attackiert. Zuverlässig sind diese Zahlen jedoch nicht. «Die Dunkelziffer ist hoch, da sich die meisten Eltern in einer solchen Situation sehr schämen», sagt Britta Went.

Allgemein geht die Zahl an gewalttätigen Jugendlichen laut dem Bundesratsbericht «Jugend und Gewalt» von 2015 zurück. Der Kriminologe Manuel Eisner von der Universtität Zürich und der Soziologe Denis Ribaud von der ETH Zürich haben zwischen 1999 und 2014 Jugendliche im Kanton Zürich zu Opfer- sowie zu Tätererfahrungen befragt. Eine ihrer Schlussfolgerungen: weniger Jugendliche werden Opfer von Gewalt, die Opfer erleiden aber im Durchschnitt mehr Gewalttaten.

In Zahlen ausgedrückt: Wurde vor einigen Jahren jemand ein Mal im Jahr gemobbt, macht er diese Erfahrung heute vielleicht zwei oder drei Mal. 2007 gaben 27,6 Prozent der 12- bis 19-Jährigen an, Opfer von Gewalt geworden zu sein, 2014 waren es noch 16,3 Prozent. Trotz Rückgang sind die Zahlen relativ hoch, zum Beispiel bei Mobbing. So gaben in der aktuellsten Befragung gut 40 Prozent an, dass sie schon einmal ausgelacht oder beleidigt wurden.

Cybermobbing  tauchte erst 2014 in der Befragung auf. 32,9 Prozent haben schon bedrohliche Nachrichten erhalten, 29,3 Prozent waren Opfer von bedrohlichen Nachrichten, die an Dritte geschickt wurden. Besonders auffällig: Die Täter- und Opfertypen bei Cybermobbing sind die gleichen wie bei «normalem» Mobbing.

Sind Buben aggressiver als Mädchen?

Auch die Zahl der straffälligen Kinder und Jugendlichen geht zurück. Gab es laut Jugendstrafurteils­statistik JUSUS 2009 noch 250 Verurteilungen auf 100’000 Minderjährige, waren es 2013 nur noch 150. Dies könnte zum einen daran liegen, dass die Präventionsmassnahmen von Schulen, Polizei und Behörden greifen. Zum anderen daran, dass Jugendliche heute wissen, dass sie relativ schnell der Jugendanwaltschaft vorgeführt werden und welche Sanktionen ihnen drohen, wie die Zürcher Oberjugendanwaltschaft in einem Beitrag des SRF mutmasste. 

Mit jungen Straftäterinnen und Straftätern zwischen 12 und 17 Jahren hat es Christine Harzheim in ihrer Funktion als Fachrichterin am Jugendgericht Bern zu tun. «Jede Straftat hat eine Logik, eine biografische Vorgeschichte und passiert nicht wegen Charakterschwäche», sagt sie. «Oft spielen zum Beispiel ein geringes Selbstwertgefühl oder Einsamkeit bis hin zur Isolation eine Rolle.» Der grösste Teil der Straftäter sind Buben. Joachim Bauer zufolge beeinflusst das männliche Sexualhormon Testosteron (das in geringeren Mengen auch bei Frauen vorkommt) den neurobiologischen Aggressionsapparat: Männer mit hohen Testosteronwerten zeigen häufiger Aggressionen.

Buben richten ihre Aggressionen eher nach aussen, Mädchen sehr oft gegen sich selbst.

Schulsozialarbeiter Christian Zbinden

Die Unterschiede sind aber nicht nur biologisch, sondern auch sozial bedingt. «Buben haben ja auch medial jede Menge prügelnder Superhelden als Vorbilder, weibliche Heldinnen sind selten aggressiv», sagt der Schulsozialarbeiter Christian Zbinden. Dabei seien Mädchen nicht friedlicher als Jungs, meint Christine Harzheim. «Sie sind verbal genauso brutal.» Sozialarbeiter Zbinden berät etwa gleich viele Buben wie Mädchen. «Buben richten ihre Aggressionen eher nach aussen, Mädchen sehr oft gegen sich selbst. So sind von den Jugendlichen, die mir von Selbstverletzung und Suizidgedanken erzählen, die allermeisten Mädchen.»

Ist Aggression eine Frage der Kultur? 

Der kulturelle Hintergrund scheint bei aggressiven Kindern kaum eine Rolle zu spielen. Weder beim Elternnotruf noch beim Jugendgericht gibt es signifikant mehr Fälle mit Migrationshintergrund als andere. Primarlehrerin Monika C. macht in ihrer Arbeitspraxis andere Erfahrungen: «Viele der ‹Problemkinder› haben Migrationshintergrund, das ist nicht wegzudiskutieren», sagt sie, relativiert aber auch: «Das Problem sind nicht die Kinder an und für sich, sondern dass wir Lehrpersonen oft nicht die Ressourcen und die Ausbildung haben, um sie aufzufangen.» Gerade bei Kindern aus Kriegs­gebieten sei nachvollziehbar, dass sie Aggressionen zeigten. Dem stimmt Britta Went vom Elternnotruf zu: «Es ist eine Frage der Biografie, nicht der Kultur.»

Wieviel Aggression ist zu viel?

Dabei ist die Äusserung von Aggression nicht per se schlecht. «Wer auf körperliche oder seelische Schmerzen nicht mit einer kommunikativ angemessenen Form der Aggression reagieren kann, wird krank», so Neurobiologe Bauer. Dabei darf man auch mal schreien oder auf einen Boxsack einschlagen. Die Grenzen liegen dort, wo man sich selbst oder andere körperlich oder seelisch verletzt. Wenn man aber immer alles in sich «hineinfrisst», bleiben die Komponenten des Aggressionsapparates neurobiologisch «geladen», was zum Beispiel zu Angststörungen oder depressiven Erkrankungen führen kann.

Die Frage, die sich jede Mutter, jeder Vater stellt, lautet: Was ist normal? Wie viel kindliche Aggression soll man zulassen? Sozialarbeiter Christian Zbinden findet, gerade bei jüngeren Kindern werde oft zu früh eingegriffen: «So lernt das Kind, dass es mit Gewalt Aufmerksamkeit erhält, und wendet das immer wieder an. Dabei müsste es Gewalt eher als Misserfolg erleben.» So dürfe man eine kleine Rangelei auch einfach mal bewusst beobachtenund laufen lassen, solange sie noch fair verläuft. Zbinden: «Und wenn man interveniert, soll man den Kindern nicht einfach sagen, sie sollen aufhören, sondern ihnen erklären, was genau jetzt nicht okay war. Zum Beispiel, wenn einer richtig zugeschlagen hat oder man merkt, dass jemand total unterlegen ist.»

«Buben haben medial jede Menge prügelnder Superhelden als Vorbilder, weibliche Heldinnen sind selten aggressiv», sagt der Schulsozialarbeiter Christian Zbinden. Bild: Maryanne Gobble / Plainpicture
«Buben haben medial jede Menge prügelnder Superhelden als Vorbilder, weibliche Heldinnen sind selten aggressiv», sagt der Schulsozialarbeiter Christian Zbinden.
Bild: Maryanne Gobble / Plainpicture

Wichtig sei, dass Eltern oder Schule einen Rahmen vorgeben, innerhalb dessen sich das Kind bewegen kann, sagt Christine Harzheim. «Dabei muss nicht jedes freche Wort Konsequenzen haben, aber wer den Rahmen durchbricht, muss damit rechnen.» Dann ist wichtig, das Verhalten zu kritisieren, nicht das Kind selbst. 

Die Person und ihre Gefühle von deren Taten zu trennen, ist nicht immer einfach. Das weiss Christine Harzheim von ihrer Tätigkeit beim Jugendgericht. Gerade bei schweren Delikten wie Mord oder sexuellen Übergriffen. Letztere sind übrigens die einzigen von Jugendlichen begangenen Delikte, die sich in den letzten 20 Jahren verdoppelt haben.

Sexuelle Übergriffe durch andere Jugendliche

Laut einer UBS-Optimus-Befragung unter Neuntklässlern von 2009 hat fast jeder und jede Dritte schon einmal einen sexuellen Übergriff in der einen oder anderen Form erlebt, die meisten davon durch andere Jugendliche. «Wenn es sich um schwere Übergriffe handelt, ist in der Biografie des Täters fast immer etwas gravierend schiefgelaufen und er oder sie hat selbst Gewalt oder Verwahrlosung erlebt», sagt Christine Harzheim. «Das ist keine Entschuldigung und die Tat muss bestraft werden. Aber der Täter oder die Täterin ist nicht einfach böse. Und die Geschichte und das Umfeld sollten beim Urteil ebenfalls eine
 Rolle spielen.» 

Damit es nicht so weit kommt, rät Britta Went allen Betroffenen, lieber früher als später um Hilfe zu bitten. «Vorzeichen, dass es irgendwann eskaliert, gibt es schon sehr früh», sagt Psychologe Haim Omer. «Wem es jeweils nicht gelingt, die Situation zu entschärfen, sollte sich auf jeden Fall jemandem anvertrauen.»

Er habe schon als Knirps geschrien und geschlagen, sagt Phillippe. Dieses alte Muster abzulegen, sei schwierig. «Ich habs halt schon immer so gemacht.» Seit zwei Jahren geht er regelmässig zu Schulsozial­arbeiter Christian Zbinden. «Er hört mir zu, ohne mich zu verurteilen. Das ist gut.» Phillippe weiss, dass er sich nicht ewig durchs Leben schlagen kann. Noch fällt es ihm schwer, sich Alternativen zu überlegen. Aber irgendwann, das weiss er, muss er dazu bereit sein. Vielleicht erfüllt sich dann sein grosser Traum, nämlich Kampfsporttrainer zu werden. «Dafür», meint Phillippe, «muss ich noch viel lernen.» Mit dieser Erkenntnis hat der 16-Jährige einen wichtigen Schritt bereits getan.

Das Prinzip des gewaltlosen Widerstandes

Die Idee zum gewaltlosen Widerstand (GLW) kommt aus der Friedenspolitik: Unterlegene oder gewaltkritische Gruppen entwickelten gewaltlose Methoden, um Aggressionen entgegenzutreten. Psychologen wie Haim Omer adaptierten das Prinzip auf die Familie.

Das Konzept setzt auf den Verzicht jeglicher verbaler oder körperlicher Gewalt und aller Handlungen, die das aggressive Kind beleidigen oder demütigen. Das Kind soll die Eltern wieder als entschlossen und präsent erleben. 

Die wichtigsten Schritte:

Bewusstsein schaffen

Mit dem Programm wird den Eltern zuerst geholfen, sich bewusst zu werden, dass sie sich in einer gewalttätigen Situation befinden, und dass sie sich dieser ohne Gewalt entgegensetzen können. «Genau wie gewalttätige Eltern sehen sich auch gewaltbetroffene Eltern in einer schwächeren Position als das Kind», sagt Haim Omer. «Nur schon das Wissen, sich wehren zu können, kann viel ausmachen.»

Das Verhindern einer Eskalation

Eltern, die sich immer wieder in Auseinandersetzungen mit ihren Kindern hineinziehen lassen, neigen zum Diskutieren, Predigen, Drohen, Entschuldigen, Rechtfertigen – und lassen sich in etwas hineinziehen, bis die Situation eskaliert. Um dies zu verhindern helfen drei Dinge:

  1. Warten, bis sich die Wogen geglättet haben: Auf Provokationen nicht sofort reagieren, sondern später das Gespräch suchen. 
  2. Das Kind kann ich nicht kontrollieren – aber mich selbst. Wenn jeder versucht, den anderen zu dominieren, führt das zu einer Gewaltspirale. Wem es gelingt, sich selbst zu kontrollieren, verhindert eine Eskalation. 
  3. Es geht um Widerstand, nicht um Sieg. Man muss das aggressive Kind nicht besiegen, aber ihm klarmachen, dass man sich nicht alles gefallen lässt. Das geht auch durch Schweigen. 

Kündigen Sie dem Kind an, was Sie vorhaben

Sind sich die Eltern der Situation bewusst und gelingt es ihnen zumindest ab und zu, Eskalationen zu verhindern, folgt der nächste Schritt: Sie kündigen dem Kind – mündlich oder schriftlich – an, dass sie nicht mehr bereit sind, die Situation hinzunehmen. Weil sie auch nicht bereit sind, das Kind zu verlieren.

Suchen Sie sich Unterstützer

«Wer Aggression geheim hält, wird zu ihrem Komplizen», sagt Haim Omer. Sich jemandem anzuvertrauen, ist deshalb essenziell. Unterstützer können zum Beispiel Familienmitglieder oder Freunde sein, in jedem Fall jemand, den das Kind respektiert.

Sit-in: Sitzen und warten als Zeichen des Widerstands 

Wenn sich eine gewalttätige Situation ereignet hat, wenden sich die Eltern an die unterstützenden Personen, die ihrerseits dem Kind mitteilen, dass sie davon gehört haben und sein Verhalten nicht gutheissen. Als wirkungsvoll hat sich auch das sogenannte «Sit-in» herausgestellt: Man sitzt – eventuell mit (telefonischer) Unterstützung – beim Kind im Zimmer und erwartet schweigend einen Vorschlag, wie es die Situation lösen möchte. Dies ist vor allem für die Eltern wichtig, die sich so als stark, unnachgiebig, aber gewaltlos erleben.

Versöhnung zeigen

Hier geht es nicht darum, sich für Taten oder sein Verhalten zu entschuldigen, sondern um Zeichen bedingungsloser Zuneigung und Übernehmen der Verantwortung. Kleine Schritte wie ein ehrlich gemeintes Lob oder eine gemeinsame Aktivität verbessern die Stimmung. Dass Narben zurückbleiben, ist kaum zu verhindern.

Sandra Casalini
ist Journalistin, Texterin, Geschichtensucherin und -erzählerin. Ihre Schwerpunkte sind Familie, Lifestyle, Reisen, Alpin und Unterhaltung/People. Sie lebt mit ihren zwei Kindern in Thalwil.

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