Das aggressive Kind

Aggression hat viele Gesichter und viele Ursachen. Frustration und Provokation sind Grundpfeiler für die grosse Wut im Bauch. Warum ist Aggression wichtig? Wie sollen Eltern und Lehrpersonen reagieren, wenn Kinder schreien, drohen, schlagen?
Das Wichtigste zum Thema
- Phillippe ist 16 Jahre alt und wird oft aggressiv. Ein einziger falscher Blick kann den Zehntklässler zum Brodeln bringen. Dann ist es um ihn geschehen und er schlägt zu.
- Das Beispiel von Phillippe zeigt, dass (s)eine Grenze überschritten wurde. Hirnforscher sind sich einig, dass die Kombination aus Genen, Erziehung und Medien zu einem aggressiven Verhalten führen können. Was können Eltern konkret dagegen tun?
- «Ich bin anders als andere», sagt Phillippe über sich. Interessant ist, dass aggressive Kinder gleichzeitig oft sehr sensibel sind.
- Wo liegen die Unterschiede zwischen aggressiven Mädchen und aggressiven Buben? Dazu sagt Schulsozialarbeiter Christian Zbinden: «Buben richten ihre Aggressionen eher nach aussen, Mädchen sehr oft gegen sich selbst. So sind von den Jugendlichen, die mir von Selbstverletzung und Suizidgedanken erzählen, die allermeisten Mädchen.»
- So verhindern Eltern konkret eine Eskalation: 3 Tipps
Vertiefte Hilfestellungen und Tipps für Eltern von aggressiven Kindern lesen Sie im vollständigen Text.
Aggression ist eine Reaktion darauf, dass eine Grenze überschritten wurde.
Warum werden Kinder aggressiv?

Die Schmerzzentren des Gehirns reagieren aber nicht nur auf physischen, sondern auch auf psychischen Schmerz. So fand die amerikanische Hirnforscherin Naomi Eisenberger heraus, dass soziale Zurückweisung, Ausgrenzung, Verachtung oder Ungerechtigkeit gleich wahrgenommen werden wie körperlicher Schmerz. Der verachtende Blick, der Phillippe trifft, oder die ungerechte Bemerkung löst bei ihm das Gleiche aus wie ein Schlag gegen den Körper.
Ist Aggression ein Hilfeschrei?

Welche Rolle spielt Gewalt in den Medien?
Die Berner Psychologin und Familientherapeutin Christine Harzheim gibt jedoch zu bedenken: «Gleichzeitig haben Kinder kaum mehr Freiräume. Sie befinden sich in ständiger Begleitung der Eltern, Lehrpersonen, Erzieher und Vereinstrainer.» So können Heranwachsende Gefühle wie Wut, Frust oder Trauer selten unbeobachtet zeigen, die Aggressionen stauen sich an. Und gerade Jugendliche suchen sich ihre Freiräume woanders, beispielsweise in der virtuelle Welt – wo sie dann alles Aufgestaute ungefiltert rauslassen.
Verunsicherung der Eltern kann eine Ursache für Aggressionen sein
Ihr setzt Omer die sogenannte «neue Autorität» entgegen, die auf Nähe und elterliche Präsenz setzt. Starke, konsequente, aber liebevolle Eltern sorgen dafür, dass Kinder sich zu Hause sicher fühlen. Gerade kindliche Aggressionen haben sehr oft mit Unsicherheit zu tun. «Um dem Kind Sicherheit zu geben, sind – neben viel elterlicher Nähe und Zuneigung – eine klare Haltung und Grenzen unabdingbar», sagt Haim Omer. «Für ein Kind sind fehlende persönliche Grenzen bei Erwachsenen sehr beunruhigend», bestätigt Familientherapeutin Harzheim. «Wenn es sich stärker erlebt als seine Eltern – wer soll es dann beschützen?»
Einmal, erzählt Phillippe, habe er sein ganzes Zimmer zusammengeschlagen. Der Papa? «Hat geschrien.» Die Mama? «Hat geweint.» Seine Eltern würde Phillippe niemals anrühren, auch verbal nicht: «Die Familie ist unantastbar.»
Wenn Kinder ihre Eltern bedrohen und angreifen – Parent Battering
«Wir schätzen, dass hierzulande in jeder zehnten Familie ein Elternteil schon mindestens einmal von einem Kind angegriffen wurde», sagt Britta Went vom Elternnotruf. Das reicht vom 14-Jährigen, der seine Mutter regelmässig «Schlampe» nennt über die 16-Jährige, die die Mama herumschubst, bis zum 17-Jährigen, der den Vater im Streit mit den Fäusten attackiert. Zuverlässig sind diese Zahlen jedoch nicht. «Die Dunkelziffer ist hoch, da sich die meisten Eltern in einer solchen Situation sehr schämen», sagt Britta Went.
In Zahlen ausgedrückt: Wurde vor einigen Jahren jemand ein Mal im Jahr gemobbt, macht er diese Erfahrung heute vielleicht zwei oder drei Mal. 2007 gaben 27,6 Prozent der 12- bis 19-Jährigen an, Opfer von Gewalt geworden zu sein, 2014 waren es noch 16,3 Prozent. Trotz Rückgang sind die Zahlen relativ hoch, zum Beispiel bei Mobbing. So gaben in der aktuellsten Befragung gut 40 Prozent an, dass sie schon einmal ausgelacht oder beleidigt wurden.
Cybermobbing tauchte erst 2014 in der Befragung auf. 32,9 Prozent haben schon bedrohliche Nachrichten erhalten, 29,3 Prozent waren Opfer von bedrohlichen Nachrichten, die an Dritte geschickt wurden. Besonders auffällig: Die Täter- und Opfertypen bei Cybermobbing sind die gleichen wie bei «normalem» Mobbing.
Sind Buben aggressiver als Mädchen?
Mit jungen Straftäterinnen und Straftätern zwischen 12 und 17 Jahren hat es Christine Harzheim in ihrer Funktion als Fachrichterin am Jugendgericht Bern zu tun. «Jede Straftat hat eine Logik, eine biografische Vorgeschichte und passiert nicht wegen Charakterschwäche», sagt sie. «Oft spielen zum Beispiel ein geringes Selbstwertgefühl oder Einsamkeit bis hin zur Isolation eine Rolle.» Der grösste Teil der Straftäter sind Buben. Joachim Bauer zufolge beeinflusst das männliche Sexualhormon Testosteron (das in geringeren Mengen auch bei Frauen vorkommt) den neurobiologischen Aggressionsapparat: Männer mit hohen Testosteronwerten zeigen häufiger Aggressionen.
Die Unterschiede sind aber nicht nur biologisch, sondern auch sozial bedingt. «Buben haben ja auch medial jede Menge prügelnder Superhelden als Vorbilder, weibliche Heldinnen sind selten aggressiv», sagt der Schulsozialarbeiter Christian Zbinden. Dabei seien Mädchen nicht friedlicher als Jungs, meint Christine Harzheim. «Sie sind verbal genauso brutal.» Sozialarbeiter Zbinden berät etwa gleich viele Buben wie Mädchen. «Buben richten ihre Aggressionen eher nach aussen, Mädchen sehr oft gegen sich selbst. So sind von den Jugendlichen, die mir von Selbstverletzung und Suizidgedanken erzählen, die allermeisten Mädchen.»
Buben richten ihre Aggressionen eher nach aussen, Mädchen sehr oft gegen sich selbst.
Schulsozialarbeiter Christian Zbinden
Ist Aggression eine Frage der Kultur?
Wieviel Aggression ist zu viel?
Die Frage, die sich jede Mutter, jeder Vater stellt, lautet: Was ist normal? Wie viel kindliche Aggression soll man zulassen? Sozialarbeiter Christian Zbinden findet, gerade bei jüngeren Kindern werde oft zu früh eingegriffen: «So lernt das Kind, dass es mit Gewalt Aufmerksamkeit erhält, und wendet das immer wieder an. Dabei müsste es Gewalt eher als Misserfolg erleben.» So dürfe man eine kleine Rangelei auch einfach mal bewusst beobachtenund laufen lassen, solange sie noch fair verläuft. Zbinden: «Und wenn man interveniert, soll man den Kindern nicht einfach sagen, sie sollen aufhören, sondern ihnen erklären, was genau jetzt nicht okay war. Zum Beispiel, wenn einer richtig zugeschlagen hat oder man merkt, dass jemand total unterlegen ist.»

Bild: Maryanne Gobble / Plainpicture
Die Person und ihre Gefühle von deren Taten zu trennen, ist nicht immer einfach. Das weiss Christine Harzheim von ihrer Tätigkeit beim Jugendgericht. Gerade bei schweren Delikten wie Mord oder sexuellen Übergriffen. Letztere sind übrigens die einzigen von Jugendlichen begangenen Delikte, die sich in den letzten 20 Jahren verdoppelt haben.
Sexuelle Übergriffe durch andere Jugendliche
Rolle spielen.»
Damit es nicht so weit kommt, rät Britta Went allen Betroffenen, lieber früher als später um Hilfe zu bitten. «Vorzeichen, dass es irgendwann eskaliert, gibt es schon sehr früh», sagt Psychologe Haim Omer. «Wem es jeweils nicht gelingt, die Situation zu entschärfen, sollte sich auf jeden Fall jemandem anvertrauen.»
Er habe schon als Knirps geschrien und geschlagen, sagt Phillippe. Dieses alte Muster abzulegen, sei schwierig. «Ich habs halt schon immer so gemacht.» Seit zwei Jahren geht er regelmässig zu Schulsozialarbeiter Christian Zbinden. «Er hört mir zu, ohne mich zu verurteilen. Das ist gut.» Phillippe weiss, dass er sich nicht ewig durchs Leben schlagen kann. Noch fällt es ihm schwer, sich Alternativen zu überlegen. Aber irgendwann, das weiss er, muss er dazu bereit sein. Vielleicht erfüllt sich dann sein grosser Traum, nämlich Kampfsporttrainer zu werden. «Dafür», meint Phillippe, «muss ich noch viel lernen.» Mit dieser Erkenntnis hat der 16-Jährige einen wichtigen Schritt bereits getan.
Das Prinzip des gewaltlosen Widerstandes
Die Idee zum gewaltlosen Widerstand (GLW) kommt aus der Friedenspolitik: Unterlegene oder gewaltkritische Gruppen entwickelten gewaltlose Methoden, um Aggressionen entgegenzutreten. Psychologen wie Haim Omer adaptierten das Prinzip auf die Familie.
Die wichtigsten Schritte:
Bewusstsein schaffen
Das Verhindern einer Eskalation
- Warten, bis sich die Wogen geglättet haben: Auf Provokationen nicht sofort reagieren, sondern später das Gespräch suchen.
- Das Kind kann ich nicht kontrollieren – aber mich selbst. Wenn jeder versucht, den anderen zu dominieren, führt das zu einer Gewaltspirale. Wem es gelingt, sich selbst zu kontrollieren, verhindert eine Eskalation.
- Es geht um Widerstand, nicht um Sieg. Man muss das aggressive Kind nicht besiegen, aber ihm klarmachen, dass man sich nicht alles gefallen lässt. Das geht auch durch Schweigen.
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Sit-in: Sitzen und warten als Zeichen des Widerstands
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