Mamis Schatten auf der Seele
Fotos: Daniel auf der Mauer/ 13 Photo
Wenn Mutter und Vater psychisch erkranken, schlüpfen die Kinder oft in die Rolle des Erwachsenen. So wie die 13-jährige Selma. Als ihre Mutter an Depressionen und Alkoholismus erkrankte, wurde das Mädchen zu ihrer stillen Komplizin. Eine Geschichte voller Wut, Trauer und Überforderung.
Selma ist 13 Jahre alt. Sie liebt ihren Hund Lucky, spielt Volleyball und ist eine richtige Zeichenkünstlerin. «Das Zeichnen ist eine Form, ihre Vergangenheit zu verarbeiten», sagt die Psychologin, zu der Selma alle 14 Tage geht. Gemeinsam sitzen wir an diesem regnerischen Mittwochnachmittag im Büro eines Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes.
Selma möchte mir ihre Geschichte erzählen, «damit ich anderen Kindern helfen kann, die auch so etwas wie ich erleben». Selmas Mutter, Elena, war depressiv und alkoholkrank. Vor zwei Jahren hat sie sich unter einen Zug geworfen. «Als sie mir sagten, wie sie sich umgebracht hatte, wurde ich böse. So haben auch noch andere Leute leiden müssen», sagt Selma bestimmt. Und etwas weicher fügt sie an: «Aber s Mami war halt krank.»
Selma und ihre Mutter Elena waren ein eingeschworenes Team. Die alleinerziehende Mutter, sie trennte sich von Selmas Vater, als Selma dreijährig war, und ihre Tochter machten fast alles zusammen. «Aber als sie krank wurde, musste ich auf sie aufpassen», sagt Selma mit grosser Selbstverständlichkeit. «Und auch auf mich», fügt sie an. «Ich stellte am Morgen meinen Wecker, weil Mami immer länger geschlafen hat. Und ich wollte nicht zu spät in die Schule kommen.»
Wie war das, als das Mami noch gesund war? «Das war lässig. Manchmal nahm sie mich mit, wenn sie Sachen mit dem Lieferwagen auszufahren hatte, dann hatten wir es total lustig. Aber dann wurde sie immer unglücklicher. Sie erzählte mir ein bisschen über ihre Sorgen.» Unwillkürlich überkommt einen das Gefühl, dass Selma anfänglich stolz war, Freundin, Vertraute und Geheimnisträgerin ihrer Mutter zu sein. «Aber es machte mich auch traurig, dass ich ihr nicht wirklich helfen konnte.»
Nach dem Vorfall am Geburtstag ringt Elena dem Mädchen ein Versprechen ab: «Du darfst niemandem sagen, dass ich krank bin. Das ist jetzt unser Geheimnis. Kannst du es für dich behalten?» Und Selma hält dicht. Und wieder schwingt dieser Stolz in ihrer Stimme mit: «Meine Lehrerin hat mir später mal gesagt, man hätte mir nicht angesehen, dass es bei mir zu Hause Probleme gebe.»
«Du darfst niemandem sagen, dass ich krank bin. Das ist jetzt unser Geheimnis.»
Hatte Selma denn nie das Bedürfnis, mit jemandem darüber zu reden? «Doch, manchmal schon. Und dann hatte ich ein schlechtes Gewissen. Neben mir wussten nur Mamis Eltern und ihr Bruder, mein Götti, welche Probleme das Mami hat.»
Und manchmal brach Elena einfach zusammen. «An einem Abend hörte ich, wie sie in der Küche weinte. Ich ging zu ihr, sie sass auf dem Boden. Ich gab mir Mühe, nicht auch zu weinen, und versuchte sie zu trösten. Dann sagte sie: ‹Ich möchte nur noch sterben.› Da wurde ich hässig und sagte: ‹Du kannst mich doch nicht alleine lassen, was fällt dir ein?›» Doch intuitiv spürte Selma, dass ihre Mutter nicht alleine in den Tod gehen wollte. «Sie wollte, dass ich mit ihr sterbe. Jedes Mal beim Autofahren kroch ich fast in den Sitz hinein, weil ich fürchtete, sie könnte plötzlich das Steuer rumreissen. Und ich wollte nicht sterben.»
Bist du Mami heute böse deswegen? Selma überlegt nicht lange: «Nein, nicht mehr. Sie wollte mich halt nicht alleine lassen. Und sie litt zunehmend darunter, dass sie mir zur Last fiel.»
Intuitiv spürte Selma, dass ihre Mutter nicht alleine sterben wollte. Sie wollte, dass Selma mit ihr stirbt.
Als Elena in immer stärkere Depressionen verfällt, kommt sie für drei Wochen in eine psychiatrische Klinik. In dieser Zeit wird auch Selmas Vater eingeschalten. Selma verbringt von nun an jedes zweite Wochenende bei ihm: Und es gefällt ihr dort, obwohl ihr Papa ihr anfänglich noch fremd ist. «Dort konnte ich richtig Kind sein und musste keine Verantwortung übernehmen.» Selma erlebt bei ihrem Vater einen geregelten Tagesablauf, wie sie ihn von zu Hause her nicht mehr kennt. «Wir haben viel gemeinsam unternommen, sind im Sommer ins Schwimmbad oder Velo fahren gegangen, oder auch in den Zoo», erinnert sie sich mit leuchtenden Augen. «Ich habe mich immer total auf die Zeit mit Papa gefreut, hatte aber auch ein bisschen ein schlechtes Gewissen gegenüber Mama, weil ich sie dann alleine liess.»
Wenn es Elena zu viel wird, steigt sie ins Auto und fährt davon. Selma hat dann Angst, ruft einmal den Vater an, der sich danach um sie kümmert. Einmal ihren Götti, Elenas Bruder. Als Elena das erfährt, ist sie ausser sich vor Zorn. «Mama sagte, er habe sich nicht um uns gekümmert, als es ihr schlecht ging, der müsse jetzt auch nicht kommen.»
Und dann kam der 8. August. Ein heisser Sommertag. Selma hatte eine leichte Grippe, wollte aber unbedingt in ihren Schwimmkurs. Elena wollte, dass das Mädchen zu Hause blieb. Es kam wieder zum Streit. Elena verliess die Wohnung, und als sie weg war, packte Selma ihre Badesachen und ging ins Schwimmbad. Dort fühlte sie sich aber nicht wohl und ging wieder nach Hause.
«Daheim lag ein Zettel auf dem Tisch, wo Mami schrieb, sie schlafe, und ich solle sie nicht wecken. Ich war total sauer, denn ich wusste ja, dass sie vorher mit dem Auto weggefahren war. Aber eigentlich war es mir auch egal, wo sie war. Ich glaube heute, es war einfach zu viel für mich. Ich ass meinen Znacht und schlief auf dem Sofa ein. In der Nacht hörte ich, wie Mami reinkam, Weinflaschen klirrten. Sie kam nahe zu mir, ich roch ihren Atem, das war ganz grusig, ich stellte mich schlafend. Sie sagte: ‹Ich liebe dich und es ist gut so für uns beide.› Dann war sie weg. In dem Moment war es mir egal, aber nachher nicht mehr, und ich ging in die Tiefgarage. Das Auto war weg, da bekam ich Angst.» Nur schwer kann sie in dieser Nacht weiterschlafen: «Ich hatte ein komisches Gefühl, denn über Nacht ist Mama eigentlich nie weggeblieben.»
Der Atem ihrer Mutter roch nach Alkohol. Sie sagte: «Ich liebe dich und es ist gut so für uns beide.»
«In der zweiten Lektion holte mich die Lehrerin raus und sagte: ‹Wir müssen reden.› In einem Zimmer warteten Polizisten, mein Grossvater und mein Götti auf mich. Da wusste ich: Es war vorbei. Sie sagten: ‹Mami hatte einen Unfall.› Dann, dass sie tot sei. Ich wusste sofort, dass es kein Unfall war.»
Wie fühltest du dich damals?
«Ich war glücklich, traurig und böse, alles zusammen.»
Es wird bestimmt, dass Selma für die nächste Zeit bei ihren Grosseltern väterlicherseits leben soll. Noch am selben Tag verlässt sie die Schule. Sie wird nicht mehr zurückkehren. Die Kollegen schreiben kleine Abschiedsbriefchen, die sie Selma in den Rucksack legen. So gerührt Selma von dieser Geste ist, so schnell will sie weg aus der alten Umgebung: «Ich wollte neue Kollegen finden, denn die alten erinnerten mich daran, dass ich immer etwas verstecken musste.»
An die Beerdigung kann sie sich nicht mehr richtig erinnern, nur daran, «dass ich viel vom Mami geträumt habe. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie wirklich tot war. Mit der Zeit merkte ich, dass sie nicht mehr zurückkam. Ich hatte dann oft Glücksgefühle, dass alles vorbei war, dann aber hasste ich sie, dass sie mich alleine gelassen hat.»
Ein halbes Jahr bleibt Selma bei den Grosseltern, seit zwei Jahren lebt sie bei ihrem Vater und seiner neuen Lebensgefährtin. «Heute geht es mir super gut», sagt sie mit einem breiten Lachen. Vermissen täte sie ihre Mutter nur manchmal. «Das hiesse ja, dass ich die Vergangenheit vermissen würde, und das tue ich nicht. Am schönsten ist, dass ich heute über alles reden darf. Und meine Mutter schaut mir von oben herab zu.»
So abgeklärt Selma über ihre Vergangenheit spricht, so fragil ist das neue Gleichgewicht. Gleich nach dem Tod ihrer Mutter fühlte sie «eine grosse Leere, da habe ich mich selber verletzt», etwas, das sie heute nicht mehr tut. «Das Ritzen, das tut mir nicht gut.»
Spricht sie mit Freundinnen über ihre Vergangenheit? «Nein, nur ganz selten, denn ich habe das Gefühl, dass sie mich nicht verstehen. Wie sollen sie auch? Sie haben ja nicht durchgemacht, was ich durchgemacht habe.»
Die 13-Jährige ist jetzt in der ersten Oberstufe und möchte später Sozialpädagogin werden oder in einem Altersheim arbeiten. «Ich helfe gerne, weil ich weiss, wie es ist, wenn man keine Hilfe bekommt. Und, ich will nicht, dass jemand so einen Scheiss wie meine Mama macht.»
Beim Abschied drückt mir Selma fest die Hand und sagt: «Es würde mich freuen, wenn mir andere Kinder schreiben würden.»
* Namen von der Redaktion geändert
Interview zum Thema: «Kinder sollen nicht die Verantwortung für ihre Eltern übernehmen müssen»
Die Psychologin Irène Koch über ihre Arbeit mit Kindern von psychisch belasteten Eltern.
Im Gegensatz zu einer somatischen Erkrankung sind psychische Störungen vielfach immer noch stigmatisiert. Viele Betroffene haben darum Schuld- und Schamgefühle und machen sich grosse Sorgen um das Wohl ihrer Kinder. Sie wollen, dass sich diese trotz der momentan schwierigen Lage gut entwickeln können.
Und wo setzt die Gruppentherapie ein?
Wir arbeiten zunächst präventiv und helfen den Eltern, mit ihren Kindern altersgerecht über die Probleme zu reden. Bei einem kleineren Kind kann man das zum Beispiel mit einem Bilderbuch machen. Die Kinder sollen das Gefühl bekommen, dass sie nicht die Verantwortung für das Mami oder den Papi übernehmen müssen. Das kann entlasten.
Welche Krankheiten haben die Eltern?
Das ist sehr gemischt. Depressionen, Angst-, Zwangs- oder Persönlichkeitsstörungen, Alkoholprobleme, Borderline oder Psychosen. Es sind mehr Frauen als Männer.
Wo liegen die Schwierigkeiten für die Kinder mit einem Elternteil, der psychische Probleme hat?
Viele Kinder sind überfordert und müssen zum Beispiel Aufgaben übernehmen, die nicht altersgerecht sind. Oder sie wissen nicht, was sie jetzt über die Krankheit erzählen dürfen. Oft gilt in Familien auch ein unausgesprochenes Kommunikationsverbot. Viele Kinder fühlen sich in einer solchen Situation unsicher, sie sind irritiert, und so kommt es zu einer Sprachlosigkeit, die zu einer Einsamkeit führen kann.
Was wollen Sie als Therapeutin mit Ihrer Arbeit erreichen?
Wir wollen, dass die Eltern ihre Kinder möglichst stärken und begleiten können, trotz ihrer psychischen Krankheit. Wenn wir in der Elterngruppe über das Wohl der Kinder sprechen, gibt das nicht nur ihnen neue Zukunftsmöglichkeiten, sondern auch den Eltern. Viele bekommen so eine neue Motivation und erleben, dass sie trotz Krankheit etwas bewirken können und nicht alleine sind.
Wie setzt sich die Gruppe zusammen?
Es sind maximal acht Erwachsene, die von einer psychischen Krankheit betroffen sind und minderjährige Kinder haben. Die Gruppe trifft sich sechs Mal und behandelt jeweils ein anderes Schwerpunktthema.
Wäre es nicht sinnvoll, auch therapeutische Kindergruppen zu bilden?
Mittel- bis langfristig möchten wir auch solche Kindergruppen aufbauen. Wir wollen nicht nur die betroffenen Eltern stärken, sondern auch die Widerstandsfähigkeit der Kinder fördern.
Trotz aller Gespräche, einen psychisch kranken Elternteil zu haben, ist eine grosse Belastung für ein Kind.
Trotz aller Gespräche, einen psychisch kranken Elternteil zu haben, ist eine grosse Belastung für ein Kind.
Genau. Darum ist es wichtig, dass das Kind auch eine «andere Welt» hat: Es soll rausgehen können, mit anderen sprechen, mit den Grosseltern etwas unternehmen, wenn der kranke Elternteil Mühe hat, aktiv zu sein, wie das bei Depressionen vielfach der Fall ist. Die Beziehung zwischen Eltern und Kindern ist wichtig, aber es ist ebenfalls wichtig, dass das Kind auch andere Bezugspersonen hat.