Georg Staubli ist Leiter der Notfallstation des Kinderspitals Zürich und dort auch Leiter der Kinderschutzgruppe. Der Kinderarzt erzählt, was schwere Fälle von Kindsmisshandlungen in ihm auslösen und warum körperliche Züchtigung als Erziehungsmassnahme noch existiert
Federnd sind seine Schritte. In seiner Freizeit tanzt der Kinderarzt Georg Staubli leidenschaftlich gern und oft Rock'n' Roll. Die vielen Stufen der Treppe zu seinem kleinen Büro bewältigt er denn auch energischen Schrittes und grüsst alle, die ihm entgegenkommen, mit einem freundlichen Lächeln. Auf dem Weg nach oben: kein Schweisströpfchen auf seiner Stirn.
Tatsächlich hat die Notfallstation des Kinderspitals Zürich jährlich 500 bis 2000 Patienten mehr als im Vorjahr. Seit 1995 steigt diese Kurve.
Es gibt tatsächlich mehr verunsicherte Eltern, die zu uns kommen, weil das Kind plötzlich 40 Grad Fieber hat. Aber auch Eltern, die ein Zeugnis brauchen für das kranke Kind. Oder die möchten, dass das Kind sofort gesund wird, damit sie anderntags arbeiten können.
Medizinisch gesehen ist das so. Mein Ziel ist immer, das Kind so lange wie nötig und so kurze Zeit wie möglich auf der Notfallstation zu behalten. Es kann ja nichts dafür, dass es bei uns gelandet ist.
Es macht sicher etwas aus, ob man bereits Erfahrung mit Kindern hat. Ich sehe jedoch auch viele Eltern, die mit dem zweiten oder dritten Kind kommen und sagen: Meine anderen Kinder hatten das nie!
Ja, das ist so. Manche Kinderärzte nehmen bereits wochentags ab 17 Uhr ihr Telefon nicht mehr ab. Dann verstehe ich schon, dass man aus Sorge um sein Kind direkt ins Spital geht. Eltern sehen, dass ihr Kind 40 Grad Fieber hat, und wollen genau jetzt eine Lösung. Das hat natürlich den Vorteil, dass die wirklich kranken Kinder zu uns kommen, aber eben auch sehr viele Kinder, die auch einen Tag hätten warten können.
Aus meiner Sicht gehört die Berufung unbedingt dazu. Sie ist in jedem Beruf nötig. Und will man zu den Besten gehören, muss man auch bereit sein, mehr zu leisten. Ein Automechaniker, der einfach aufhört, ein Auto zu reparieren, weil er den Fehler nicht findet, wird nicht einer der Besten. Er wird es nur, wenn er so lange sucht, bis er den Fehler auch wirklich gefunden hat. Das ist in der Medizin nicht anders.
Ich habe immer gerne handwerklich gearbeitet und war daher eineinhalb Jahre in der Erwachsenenchirurgie tätig. Danach folgten ein Jahr in der Pädiatrie plus ein Jahr Kinderchirurgie. Ich zog Kinderchirurgie als Spezialisierung in Erwägung, stellte dann aber fest, dass die Ausbildung zum Kinderchirurgen in der Schweiz extrem lange dauert. Ich wollte nicht zehn Jahre lang Assistenzarzt sein. So landete ich in der Notfallmedizin.
Einerseits sein Fachwissen. Andererseits muss man Kinder gern haben und mit ihnen umgehen können, auch wenn sie zum Beispiel unkooperativ sind oder weinen. Denn man weiss, dass dies Ausdruck ihres Verhaltens sein kann. Aber fast noch wichtiger ist Kommunikations-fähigkeit. Ein Kinderarzt muss insbesondere mit Eltern umgehen und deren Sorgen und Ängste verstehen können. Hat man diese Fähigkeit nicht, nützt die beste Fachkompetenz nichts.
Ja. Man weiss aus der Erwachsenenmedizin, dass weniger als 50 Prozent der Patienten das tun, was der Arzt ihnen sagt. Wenn ich also möchte, dass das Kind so behandelt wird, wie ich es empfehle, muss ich die Eltern mit im Boot haben. Sonst funktioniert es nicht.
«Kinder sind ihren Eltern gegenüber sehr loyal, selbst wenn sie geschlagen werden.»
Viele Missbräuche geschehen aus Überforderung. Die Konfrontation mit den Eltern ist da für uns aber einfacher, denn man erklärt, warum das Kind nicht mehr geschlagen werden soll und was zu tun ist, damit dies nicht mehr passiert. Fälle, in denen Kinder aus ideologischen Gründen geschlagen werden, sind viel schwieriger.
Es sind nicht viele Fälle, aber diese sind besonders aufwühlend. Es gibt Eltern, die ihr Kind mittels Schlägen und Angst gefügig machen wollen. Oft liegen dahinter ideologische Überzeugungen, manchmal aber auch krankhafte Persönlichkeitsstrukturen. Solchen Eltern klarzumachen, dass das nicht geht, ist sehr schwer. Eine unserer zentralen Aufgaben ist, abzuschätzen, ob es uns möglich ist, gemeinsam mit den Eltern einen Weg zu finden, um das Kind zu schützen.