Wie geflüchtete Kinder und Jugendliche unsere Schulen bereichern
Jeder dritte Geflüchtete, der nach Europa kommt, ist allein unterwegs und minderjährig. Viele von ihnen sind schulpflichtig. Welche Folgen hat das für unser Bildungssystem? Eltern befürchten überquellende Schulklassen, in denen kaum noch jemand Deutsch spricht, Lehrpersonen einen Qualitätsverlust ihres Unterrichts. In ihrem Buch «Die Flüchtlinge sind da!» widmet sich unsere Autorin dem Thema Zuwanderung in unseren Schulen und der Frage, wie wir diese pädagogische Herausforderung bewältigen können.
Ausser Nuur aus Somalia sind da noch Abdulqadir, auch aus Somalia, Rahel aus Eritrea, Neslihan aus der Türkei, Yanik aus Spanien und Roshan aus Sri Lanka. Sie alle sind seit einem bis drei Jahren in der Schweiz und zwischen 16 und 18 Jahre alt. Sie wollen Automobilfachmann, Koch, Informatiker, Dachdecker, Altenpflegerin und Ärztin werden. Eigentlich sind es 16 Schüler, für sechs Unterrichtsstunden in der Woche wird die Klasse jedoch halbiert, um intensiver Deutsch lernen zu können.
Heute geht es um «damals und jetzt». Deutschlehrer Daniel Graf stellt die Zeit ohne Computer und Smartphone der jetzigen Zeit gegenüber. «Wo hättest du lieber gelebt?», fragt er Neslihan. «Ich hätte lieber früher gelebt, weil ich gern in der Natur bin und es heute in den Städten kaum noch Platz dafür gibt», sagt die Türkin. Sie spricht sehr gut Deutsch, obwohl sie erst anderthalb Jahre in der Schweiz lebt. Sie hat eine Vorlehre als Pharmaassistentin gemacht, später möchte sie Medizin studieren. «Das ist nicht unmöglich, aber ein sehr langer Weg», sagt Graf.
Koch, Dachdecker, Ärztin – die Berufswünsche der jungen Flüchtlinge sind so verschieden wie ehrgeizig.
Wer aber länger mit Lehrerinnen und Lehrern spricht, bekommt die andere Seite der Einwanderungsdebatte zu hören. «Wir sind überfahren worden.» «Wir wissen nicht, was wir tun sollen.» So tönt es aus vielen Lehrerzimmern im Land.
Plötzlich sind die Flüchtlinge da – und niemand ist vorbereitet. Es gibt zu wenige Lehrpersonen, keine Ressourcen für Deutschunterricht oder nicht genügend Geld für Freizeitangebote. Einen Lehrplan zur Integration der Neuankömmlinge hat niemand, und überhaupt fragen sich viele, was Integration genau bedeuten soll. Alle Beteiligten sind mit einer neuen Situation konfrontiert: Lehrer wissen nicht genau, wie sie mit den traumatisierten Schülern umgehen sollen. Eltern machen sich Sorgen, dass das Niveau in den Klassen absinkt.
Integration braucht Zeit. Aber die Zugewanderten sitzen jetzt in den Klassenzimmern. Wir müssen rasch anpacken!
Wir alle müssen endlich die Qualität, Sinnhaftigkeit und Gestaltung des Bildungssystems, vor allem aber der Schulen und ihrer Lehrpläne hinterfragen. Nur hier werden die Grundlagen für ein späteres Erwerbsleben und somit der langfristigen Integration aller Zugewanderten gelegt. Ihr Erfolg ist entscheidend. Es müssen Projekte und Initiativen entstehen, Wirtschaft – also Ausbildungsbetriebe – und Schule müssen besser zusammenarbeiten. Und das kommt nicht nur den Flüchtlingen zugute. Allerdings braucht das Zeit, und wir können nicht so lange warten, denn die Zugewanderten sitzen jetzt in den Klassen. Wir müssen jetzt anpacken! Wir alle werden neue Menschen und fremde Kulturen kennenlernen.
Fremdenfeindlichkeit, Ressentiments und Intoleranz sind keine latenten Schwingungen mehr, sondern werden im Unterricht, am Stammtisch, im Parlament, in den Medien thematisiert werden. Davon können alle – vom Erstklässler bis zum Bundesrat – nur profitieren.
Zurück in der Berufs-, Fach- und Fortbildungsschule in Bern. Die BFF hat zwölf Klassen im Brückenangebot. Vor wenigen Jahren waren es nur sechs. «Den grössten Anteil machen Schüler aus Eritrea aus», sagt die Klassenlehrerin, die anonym bleiben möchte, im Gespräch nach dem Unterricht. Rund 30 Prozent. Bisher waren die Klassen sehr gemischt, vom Familiennachzug bis zum Diplomatensohn erhielten sie Deutschunterricht.
Neuerdings kommen vor allem geflüchtete Afghanen und Syrer dazu. Obwohl Einwanderung und Integration in der Schweiz schon lange Teil der Kultur und Bildungsgeschichte sind, stehen auch hier die Lehrerinnen und Lehrer neuen Problemen gegenüber. Das grösste davon ist der hohe Anteil an unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen.
Manche Flüchtlinge waren seit Monaten, oft auch seit Jahren allein unterwegs.
Ebenfalls verändert habe sich der administrative Part: «Man ist immer in Kontakt mit vielen verschiedenen Institutionen, nicht mehr mit den Eltern.»
Sie erzählt von einem Schüler, der von einem auf den anderen Tag in einer Wohngemeinschaft mit zwei anderen Flüchtlingen lebte. Der Schüler fragte sie um Rat, als er seinen Schlüssel verloren hatte. «Ich habe ein bisschen gebraucht, bis ich verstanden habe, dass es nicht um den Wohnungsschlüssel, sondern um den zu seinem Zimmer ging.»
Die Vorstellung, der Schüler schliesse sein Zimmer ab, wenn er die Wohnung verlasse, habe ihr Sorgen bereitet. Deshalb soll die Schule den jungen Leuten nicht nur den Weg ins Berufsleben bereiten, sondern vor allem auch ein Schutzraum sein. Darin sind sich die meisten Lehrerinnen und Lehrer einig.
Die Schülerinnen und Schüler, die die Brückenangebote in Anspruch nehmen, hätten mit 16 bis 22 Jahren ein «schönes Alter», sagt die Lehrerin, denn die meisten würden verstehen, dass sie nun ein neu es Leben beginnen können. Das motiviere sie sehr, nicht nur zu lernen, sondern auch sich zu integrieren. Und das sollten wir, die gesamte Gesellschaft, fördern.