Wenn die Schulbank drückt
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Jeden Morgen Bauchschmerzen, Kopfweh, Übelkeit – Kinder mit Schulangst leiden. Die gute Nachricht: Werden die Alarmsignale rechtzeitig erkannt und richtig gedeutet, ist in drei von vier Fällen schnelle Besserung möglich.
Viele Kinder wären froh, wenn sich ihre Mütter ein Beispiel an Frau Edison nähmen und ihre Schulverweigerung einfach akzeptierten. Einen Gefallen täten die Eltern ihnen mit einer Ausschulung jedoch nicht. Einmal abgesehen davon, dass Heimunterricht in Deutschland und in manchen Schweizer Kantonen gar nicht erlaubt ist, bleibt eine Karriere vom Tellerwäscher zum Millionär à la Edison ein Wunschtraum – auch in Ländern wie den USA oder Österreich, wo nur Unterrichts- statt Schulpflicht besteht. In der Schweiz kann nicht jeder, der will, seine Kinder zu Hause unterrichten. Jeder Kanton hat variierende Auflagen. Im Kanton Zürich muss man ausgebildeter Lehrer sein, im Tessin ist es wiederum gar nicht erlaubt. In Bern, dem Aargau, der Waadt oder Appenzell Ausserrhoden dürfen auch Eltern ohne Lehrdiplom unterrichten.
Geschätzte fünf bis zehn Prozent aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland leiden unter allgemeiner Schulangst. Das entspricht 600.000 bis 1,2 Millionen Schülern. In der Schweiz will gemäss einer Studie aus dem Jahr 2009 jedes zehnte Kind nicht in die Schule, weil es sich vor Leistungsdruck und Mobbing fürchtet – Tendenz steigend. Insgesamt sind mehr Jungen als Mädchen betroffen. Unter den Kindern, die vom Kindergarten in die Primarschule und später auf weiterführende Schulen wechseln tritt das Phänomen besonders häufig auf. Nicht alle stecken einen neuen Lebensabschnitt mit neuen Herausforderungen leicht weg.
Auch überdurchschnittlich intelligente Kinder leiden unter Schulangst.
Eine Schulphobie hält betroffene Kinder nicht davon ab, Hausaufgaben zu machen, Arbeiten vorzubereiten und am Abend den Ranzen zu packen. Oftmals kehren sie aber schon auf dem Weg zur Schule um, weil sie die Trennung von ihrer primären Bezugsperson als bedrohlich empfinden. Sie entwickeln mitunter auch psychosomatische Beschwerden wie Übelkeit, Kopfschmerzen oder Durchfall. Sobald sie dann wieder bei Mama oder Papa sind, klingen die Symptome ab.
Zu viel Fürsorge kann schaden
Panische Trennungsangst ist häufig eine Folge problematischer Familienkonstellationen oder traumatischer Verluste beispielsweise durch Scheidung der Eltern. Aber auch eine zu enge Bindung an die Bezugsperson kann verhindern, dass ein Kind emotional selbständig wird. Viele Kinder mit Schulphobie wurden in den ersten Lebensjahren schlicht zu sehr beschützt. In mehr als 80 Prozent der Fälle handelt es sich um Einzelkinder oder Erstgeborene, das ergab eine Studie der Universität Köln von 2004. Nicht selten leidet ursprünglich die Mutter unter Trennungsangst, die sie dann auf Sohn oder Tochter überträgt. Anderen Kindern wurde sehr früh viel Verantwortung in der Familie zugemutet, sodass sie sich Sorgen um kranke oder belastete Eltern machen.
Um eine aufkeimende Schulphobie in den Griff zu kriegen, sollte das Kind so schnell wie möglich wieder regelmässig zur Schule gehen. Dabei lernt es: Mama passiert nichts, wenn ich nicht da bin – und mir auch nicht. Eltern müssen verstehen, dass sie ihrem Nachwuchs langfristig einen Gefallen tun, wenn sie ihn trotz Unwohlsein in die Schule schicken. Ihre erhöhte Ängstlichkeit erschwert es den Kindern hingegen, die eigene Furcht zu überwinden.
Damit es aber gar nicht erst so weit kommt, sollten Eltern in puncto Schulbesuch von Anfang an konsequent sein – auch wenn es schwerfällt. Ein sehr anhängliches Kind sollte lieber von Freunden in die Schule begleitet werden als von Mutter oder Vater. Klagt es nur morgens über Bauch- oder Kopfschmerzen, darf die Schule nicht einfach ausfallen.
Was können Eltern von Kindern mit Schulangst tun? Vor allem konsequent bleiben.
Doch was tun, wenn ein Kind partout nicht zum Schulbesuch zu bewegen ist? Eine fortgeschrittene Schulphobie lässt sich nur durch eine individuelle Psychotherapie heilen, meist in Kombination mit einer Familientherapie. In sehr seltenen Fällen kann auch eine medikamentöse Behandlung notwendig werden – etwa dann, wenn ein Jugendlicher nicht nur an der Trennung von seiner Bezugsperson leidet, sondern zugleich an einer massiven Depression. Antidepressiva, die sich auf den Serotoninstoffwechsel auswirken, haben sich hier als wirksam erwiesen. Serotonin ist ein Botenstoff des Gehirns, der massgeblich die Stimmung beeinflusst. Für jüngere Kinder eignen sich diese Medikamente in den allermeisten Fällen allerdings nicht.
Bessert sich die Situation trotz ambulanter Behandlung nicht, kann in seltenen Fällen eine stationäre Behandlung in Betracht gezogen werden. Sie erlaubt es, das Krankheitsbild noch umfassender zu analysieren und den Schulbesuch zunächst in einer Krankenhausschule wieder zu erlernen. Verschiedene internationale Studien berichten über gute Prognosen, was die weitere schulische und berufliche Karriere der Betroffenen angeht. Nach Hochrechnungen von Wolfgang Oelsner, Leiter der Krankenhausschule der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitätsklinik Köln, überwinden rund drei Viertel der eingewiesenen Kinder und Jugendlichen ihre Ängste dauerhaft. Am wichtigsten ist jedoch: Je früher das Problem erkannt und behandelt wird, desto besser sind die Heilungschancen.
«Seid nicht zu fleissig!»
«Seid nicht zu fleissig!», rät Kästner den Schulkindern – und trifft den Nagel auf den Kopf: Denn hinter einer Schulangst versteckt sich in den meisten Fällen die Furcht, zu versagen. Schuld sind nicht selten überehrgeizige Eltern, die ihr Kind unbedingt am Gymi sehen wollen.
Der Spass am Unterricht vergeht nicht nur durch Überforderung. Immer mehr Kinder leiden unter Ängsten vor der Schule, obwohl sie überdurchschnittlich intelligent sind. Eine zu strenge Erziehung, der Vergleich mit besseren Geschwistern oder auch Vernachlässigung und Desinteresse der Eltern an schulischen Erfolgen führen dazu, dass ein Kind sich minderwertig fühlt und Selbstvertrauen verliert. Neben den Erwartungen der Eltern und der Wahl des falschen Schultyps können hier verschiedene andere Faktoren zum Tragen kommen: eine längere Krankheit, wenig Lob, aber auch eine unerkannte Lese-Rechtschreib- oder Rechenschwäche.
Nach einer Untersuchung von Gail A. Bernstein von der University of Minnesota leiden knapp 30 Prozent der schulängstlichen Kinder nicht nur unter Leistungsangst, sondern auch unter sozialen Ängsten. Scham, Verlegenheit und die Sorge, sich zu blamieren, beherrschen die Gefühlswelt dieser Jungen und Mädchen. Weil sozial ängstliche Kinder nicht angemessen auf Spott oder körperliche Gewalt reagieren, werden sie überdurchschnittlich oft Opfer von Mobbing durch Klassenkameraden oder auch Lehrer.
Weil die Angst im Kontext der Schule entsteht, muss sie auch dort wieder verlernt werden. Eltern tun ihren verstörten Kindern also nichts Gutes, wenn sie ihnen aus Mitleid eine Entschuldigung schreiben – tatsächlich fehlen die meisten aber mit Zustimmung von Vater oder Mutter. Dadurch unterstützen diese das Vermeidungsverhalten und verstärken den Teufelskreis. Betroffene Eltern brauchen viel Geduld. Am meisten helfen sie ihrem Kind, wenn sie konsequent bleiben, ohne zu schimpfen. Lob und viel Ermutigung sind wie bei der Schulphobie das beste Hausmittel!
«Wenn die Hausaufgaben abgefragt werden, hab ich eh wieder alles falsch.»
Morgendlicher Angst-Monolog im Kopf von betroffenen Kindern
Bereits beim Aufstehen oder auf dem Weg in die Schule durchleben betroffene Kinder und Jugendliche eine Art inneren Monolog, der die emotionale Wahrnehmung der Wirklichkeit beeinflusst: «Wenn die Hausaufgaben abgefragt werden, hab ich eh wieder alles falsch.» Schon bevor die gefürchtete Situation überhaupt eintreten kann, stellen sich negative Gefühle und Gedanken ein. Entsprechende Schemata werden im Langzeitgedächtnis gespeichert und immer dann automatisch aktiviert, wenn beispielsweise das Stichwort Hausaufgaben fällt. Das Ende vom Lied: Der Schüler oder die Schülerin spürt bereits zu Hause die Angst, zu versagen, und entwickelt psychosomatisch bedingte Schmerzen, um nicht in die Schule gehen zu müssen. Werden Betroffene sich dieser Verkettung bewusst, können sie lernen, die Gedankenspirale zu stoppen.
Spielerisch die Angst überwinden
Schliesslich bewirkt eine systematische Desensibilisierung, dass das Schulumfeld nicht mehr als bedrohlich empfunden wird. Schritt für Schritt setzt sich der Schüler dabei der gefürchteten Situation aus. Zunächst bleibt er nur eine Stunde, später zwei und dann einen ganzen Vormittag in der Schule. Im Gespräch versucht der Therapeut, ihm verständlich zu machen, dass eigentlich alles normal verlaufen ist und das befürchtete Versagen, die Blamage oder Hänselei ausblieb. Wichtig ist, realen Problemen wie Wissenslücken oder aggressiven Mitschülern entsprechend zu begegnen, etwa durch Nachhilfeunterricht oder Gespräche mit den Mobbern.
Hier kommt den Lehrpersonen eine zentrale Rolle zu: Meist können nur sie – in Härtefällen gemeinsam mit Sozialarbeitern oder Schulpsychologen – eingreifen, wenn ein Kind von anderen gemobbt wird. Doch Vorsicht: Etwa 60 Prozent aller Kinder und Jugendlichen drücken sich vor dem Unterricht, weil sie ein angespanntes Verhältnis zur Lehrperson haben. Viele Lehrer sind sich dessen gar nicht bewusst.
Übrigens: Auch Pädagogen leiden unter so etwas wie «Schulangst»! Immer häufiger zeigen Lehrpersonen akute Symptome der Verausgabung, Erschöpfung und Resignation – sie leiden am Burn-out-Syndrom. Lehrpersonen fürchten, sich vor der Klasse zu blamieren, ignoriert oder ausgelacht zu werden. Ausserdem belastetet sie der Druck seitens jener Eltern, die meinten, ihr Sprössling sei bei der Notengebung oder anderweitig übervorteilt worden.
Eine enge Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten hilft Schülern, Eltern und Pädagogen, den Schulalltag zu bewältigen. Verhärten sich die Fronten zwischen den Parteien, sind letztlich alle die Leidtragenden.
«Wenn die Schulbank drückt». Aus «Gehirn und Geist». Mit freundlicher Genehmigung vom Spektrum der Wissenschaft, Heidelberg, 2016
Fallbeispiel: Kleine Tyrannen
Was tun? Vier Tipps für Eltern
- Konsequent sein. Es schadet dem Kind, wenn Eltern mit in die Schule kommen. Besser, das Kind geht allein oder in Begleitung von Freunden.
- Angemessen trösten! Klagt das Kind morgens über Beschwerden, sollten Eltern liebevoll darauf eingehen, aber nicht diskutieren, ob die Schule mal ausfallen kann. Das Kind muss wissen, dass es sich immer auch an einen vertrauenswürdigen Lehrer wenden kann.
- Nicht belohnen! Kommt der Schulbesuch einmal wirklich nicht in Frage, ist Bettruhe angesagt. Angenehme Tätigkeiten wie Fernsehen oder Lesen statt Unterricht sollten nicht erlaubt werden.
- Loben! Auch wenn das Kind morgens geweint oder geklagt hat, bevor es in die Schule ging, verdient es nach seiner Rückkehr Ermutigung und Anerkennung.
Drei Formen der Schulverweigerung
mit der Schule zu tun haben. Bei der Schulphobie fürchtet es die Trennung von seiner primären Bezugsperson. Schuleschwänzen ist vor allem eine Protestreaktion des Kindes oder Jugendlichen. Häufig treten Symptome der drei Varianten gemeinsam auf.