Im Atelier Plus in Arth-Goldau SZ werden hochbegabte Schüler unterrichtet. Sie sind intelligent, wissbegierig und kontaktfreudig – aber vor allem sind sie ganz normale Kinder. Ein Unterrichtsbesuch.
Schulhaus Sonnegg, erster Stock. An der Tür des Ateliers Plus streckt einem Albert Einstein die Zunge entgegen. «Er erforschte die Zeit und den Raum», steht unter der Bleistiftzeichnung geschrieben. Wer den Raum betritt, sieht acht weisse Labormäntelchen an einer Kleiderstange. Auf dem Labortisch stehen Reagenzgläser, Trichter, Flaschen, Pipetten und Petrischalen. Im hinteren Bereich des Zimmers steht ein Aquarium. Die Schülerpulte sind zu vier Arbeitsstationen zusammengestellt. Darauf Laptops, Mikroskope und Lupen. Hier im Atelier Plus werden hochbegabte Kinder gefördert. Jede Woche verlassen sie an einem Vormittag ihre Regelklasse, streifen die Labormäntel über und werden zu kleinen Forscherinnen und Forschern. Das Förderprogramm besteht seit zehn Jahren. Es ist ein Pionierprojekt.
Experten schätzen, dass in der Schweiz 10 bis 15 Prozent der Kinder hochbegabt sind und gefördert werden sollten.
08.01 Uhr, die ersten Schüler betreten den Raum. Jonas, elf Jahre alt, packt seinen Zauberwürfel mit den verschiedenfarbigen Flächen aus, drehen, schrauben, drehen, schrauben, kurzes Innehalten – drehen, schrauben. «Ich kann ihn in 38 Sekunden lösen. Der Weltrekord liegt bei 4 Sekunden.» Jonas will einen neuen Zauberwürfel entwickeln. «Dafür werde ich das System eines älteren Würfels mit dem Innenleben des neusten Exemplars kombinieren.» Hochbegabte Kinder als solche überhaupt zu erkennen, ist die grosse Herausforderung. Noch vor zehn Jahren galt die Prämisse: Ab einem IQ von 130 gilt ein Kind als hochbegabt. «Von dieser Definition sind wir längst abgekommen», sagt Victor Müller-Oppliger.
«Der klassische IQ-Test greift viel zu kurz»
Der Schweizer Experte in Sachen Hochbegabung leitet den Masterstudiengang Begabungsförderung an der Fachhochschule Nordwestschweiz, bei dem sich aktive Lehrkräfte zum Thema Hochbegabung weiterbilden. «Der klassische IQ-Test greift viel zu kurz. Er verengt die Hochbegabung auf eine akademische Intelligenz. Dabei gibt es zum Beispiel auch musikalische, gestaltende, soziale und kreative Begabungen, die sich mit IQ-Tests nicht erfassen lassen», sagt Müller-Oppliger. Die derzeit in der Wissenschaft anerkannte Definition der Hochbegabung bestehe aus verschiedenen Aspekten: «Hochbegabung wird definiert als Möglichkeit zu Hochleistungen, die im Vergleich zu Gleichaltrigen durch Exzellenz, Seltenheit, Produktivität, Demonstrierbarkeit und besonderen Wert auffallen.»
Die morgendliche Konferenz im Atelier Plus beginnt, die Kinder sprechen mit Lehrer Thomas Berset über den Stand ihrer Forschung. Aktuelles Thema: Salzwasserkrebse.
Im Atelier Plus bittet Thomas Berset die Schüler an den Konferenztisch. Als Beobachter erhält man den Eindruck, die Lehrperson spreche zu einer Gymnasialklasse und nicht zu Zweit- bis Fünftklässlern. «Wir sind heute etwas dezimiert. Minus drei. Ein Junge ist krank, zwei sind am Skitag.» Die morgendliche Konferenz beginnt, die Kinder sprechen über den Stand
ihrer Forschung. Der neunjjährige Jeremia untersucht momentan den Körper von Salzwasserkrebsen. Die Tierchen sind nur wenige Millimeter lang. Sie zu untersuchen, braucht Geduld und technische Hilfsmittel. Jeremia präsentiert ein stark vergrössertes Foto. «Ich habe diese Härchen hier entdeckt. Die haben wir vorher noch nie gesehen. Wir vermuten, dass nur die Männchen solche Härchen am Körperende haben.» – «Das wäre natürlich spannend», sagt Karol, 11 Jahre, «das wäre ein weiteres Merkmal für die Geschlechterunterscheidung. »
«’Das trau ich mir nicht zu‘ hab ich von einem hochbegabten Kind noch nie gehört»
Thomas Berset, Lehrer und Biologe
Solche Förderprogramme gibt es längst nicht an jeder Schweizer Schule. Hochbegabte Kinder gibt es aber überall. Der Experte Victor Müller- Oppliger sagt: «Wir gehen davon aus, dass 10 bis 15 Prozent der Kinder das Potenzial hätten, mehr zu leisten. Und diese Kinder sollte man unbedingt fördern.» Dabei sei die Förderung von Hochbegabten in der Schweiz nach wie vor keine Selbstverständlichkeit. «Es ist grobfahrlässig, dass wir nicht besser hinschauen. Es ist problematisch für hochbegabte Kinder, die sich nicht verstanden fühlen und leiden. Und es ist ein Problem für die Volkswirtschaft, denn wir verpassen die Chance, Begabungen zu fördern, auf die unsere Gesellschaft zum Erhalt ihrer Wohlfahrt dringend angewiesen ist.»
Dossier: Hochbegabung
Im Atelier Plus meldet sich der neunjährige Noel zu Wort: «Wir fragten uns: Können die Salzwasserkrebse riechen? Wir haben einen Versuch gemacht, in dem wir acht Krebse und Algenfutter in eine Petrischale gegeben haben. Unsere Vermutung war, dass alle acht zum Futter schwimmen. Das war dann aber nicht der Fall. Wir fanden heraus, dass das Licht einen Einfluss hat. Die Salzwasserkrebse schwimmen weg vom Sonnenlicht.» Noel erhält den Auftrag, das Experiment mit der doppelten Versuchszeit zu wiederholen. «Die Schüler sollen lernen, sich in andere Projekte hineinzudenken und konstruktive Kritik anzubringen. Gleichzeitig lernen die Kinder so, andere Ideen anzunehmen und Kritik zu ertragen.
«Der grösste Unterschied zum Unterricht in der Regelklasse: Wir haben hier viel mehr Zeit.»
Thomas Berset, Lehrer für hochbegabte Schüler
Heute war es diesbezüglich noch harmlos», sagt Thomas Berset. Berset war ursprünglich Primarlehrer, promovierte später in Biologie und war lange in der Forschung tätig. Warum er beim Atelier Plus arbeitet? «Ich wollte den hochbegabten Kindern die Möglichkeit geben, das naturwissenschaftliche Forschen zu entdecken. Ausserdem betreibe ich Lernforschung und entwickle Lernmittel. Die hochbegabten Kinder sind sozusagen Teil meines Forschungsprojektes. Habe ich eine neue Idee für ein Lernmittel, teste ich sie hier bei meinen Schülern.» Thomas Berset schaut zu, wie Noel mit einer Pipette acht Salzwasserkrebse aus dem Aquarium fischt, um sie später für seinen Test in die Petrischale zu geben. «Ich gebe ihnen Strukturen vor, aber innerhalb dieser Strukturen haben sie alle Freiheiten», sagt die Lehrperson.
«Der grösste Unterschied zum Unterricht in der Regelklasse ist, dass wir hier viel mehr Zeit haben. Wir können uns viel länger einem Thema widmen. Dieses Setting lässt es auch zu, dass die Kinder Misserfolge haben, dass sie mit ihrer Forschung in eine Sackgasse geraten. Solche Prozesse brauchen Zeit, sind aber enorm lehrreich.» Hinter all dem steht für Thomas Berset ein Ziel: «Im Grunde geht es darum, die hochbegabten Kinder anzustacheln und für die Welt der Wissenschaft zu begeistern.» Derweil werkeln die Schüler im Atelier Plus in Zweierteams an ihren Aufgaben. Es sind ausschliesslich Knaben. Das einzige Mädchen ist heute am Skitag. Der elfjährige Karol programmiert eine Webseite. Zusammen mit einem anderen Schüler hat er im Tierpark stundenlang die Fütterung von Steinböcken beobachtet und verhaltensbiologisch untersucht.
«Wir gehen davon aus, dass 10 bis 15 Prozent der Kinder das Potenzial hätten, mehr zu leisten», sagt Victor Müller-Oppliger Experte für Hochbegabung.
Wer darf zuerst zum Futter? Wer hat am meisten Rechte in der Gruppe? Aus den Erkenntnissen haben die Schüler einen Fragebogen erstellt. Künftig können Schüler im Tierpark via Smartphone die Webseite von Karol aufrufen und so ein interaktives Lehrmittel nützen. Für die Schüler sei es enorm wichtig, dass ihre Forschung produktorientiert sei, sagt Thomas Berset: «Forschung kann man nicht im kleinen Kämmerlein machen. Letztes Jahr hielten meine Schüler zum Beispiel einen grossen Vortrag an der Uni Freiburg.» Aber auch Berset selbst hat den Anspruch, dass sein Unterricht Produkte erzeugt. Aus den Experimenten seiner Schüler entstehen immer wieder ganze Forschungskisten für Regelklassen.
Jeremia, Karol und Noel im Interview
«Es braucht zum Beispiel sehr viel Aufwand, bis man für die ganze Klasse Salzwasserkrebse züchten kann, das wäre für eine Lehrperson in der Regelklasse nicht zumutbar. Indem ich diese Projekte samt Beschrieb und Material an Regelklassen verteile, können auch diese von der Hochbegabtenförderung profitieren.» Aber was genau unterscheidet hochbegabte Schüler von Schülern seiner Regelklasse – neben der hohen Begabung? «In erster Linie sind es ganz normale Kinder. Was mir aber auffällt: Sie sind alle enorm selbstbewusst. Ich hatte noch nie ein Kind, das sagte: Das traue ich mir jetzt nicht zu. Dazu kommt, dass alle sehr interessiert sind. Einmal hat ein Schüler ein Vogelnest vom Schulweg mitgebracht. Das haben wir dann während vier Stunden untersucht. Da hat keiner gesagt, dass es ihn anöde.»
Der Mythos, wonach Hochbegabte intellektuell stark, aber sozial schwach sind, ist wissenschaftlich widerlegt.
11.30 Uhr, der Unterricht ist aus, die Kinder gehen nach Hause. Noel wohnt mit seinen Eltern und seinem Bruder in einem Einfamilienhaus in Arth. Cornelia Hohl, Noels Mutter, steht in der Küche. «Noel war schon immer sehr interessiert, in den verschiedensten Bereichen. Wir mussten ihm viel erklären.» Noel sei den anderen Kindern stets weit voraus gewesen. Noch vor dem Kindergarten konnte er rechnen und schreiben oder das Alphabet aufsagen. Das sei schön – und anstrengend, ergänzt Christoph Hohl: «Nicola, sein kleiner Bruder, kann sich gut selbst beschäftigen, Noel fällt das schwerer. » Ausserdem sei Noel schon immer sehr kontaktfreudig gewesen, gehe selbstsicher auf andere Menschen zu.
«Als er etwa fünf Jahre alt war, besuchte er zusammen mit einem Kind aus dem Dorf einen Schnuppernachmittag eines Bewegungs- und Musikkurses. Er hat dort sofort mitgemacht, während das andere Kind nur bei seiner Mutter sass. Am Schluss sagte Noel, es habe ihm nicht so gefallen, er wolle nicht wieder hingehen. Sogar wenn für ihn nicht alles hundertprozentig passt, hat er kein Problem, sich sofort in einer neuen Gruppe zurechtzufinden.»
Aus den Experimenten im Atelier Plus entstehen immer wieder ganze Forschungskisten für Regelklassen.
Cornelia Hohl arbeitet als Flight-Attendant und ist immer wieder über längere Zeit zu Hause. Christoph Hohl ist Hausmann, daneben betreibt er von zu Hause aus eine kleine Handelsfirma. Beide haben somit Zeit, ihren Sohn zu fördern und seinen Wissensdurst zu stillen. Vor der Einschulung wurde Noel abgeklärt. Ergebnis: hochbegabt. Noel geht seit der ersten Klasse ins Atelier Plus. Wie reagierte das Umfeld? «Was Noels Hochbegabung betrifft, haben wir noch nie negative Erfahrungen gemacht. Wir machen auch keine grosse Sache daraus», sagt Cornelia Hohl. Trotzdem wollen Hohls ihren Sohn bestmöglich fördern. Der Vater büffelt mit ihm Mathematik auf hohem Niveau oder übt für die Tests in den anderen Fächern. «Es ist ja nicht so, dass Noel sich die Sachen einmal anschaut und sofort alles kann. Er versteht vielleicht die Zusammenhänge besser, aber auch er muss lernen. Manchmal ist das auch ein ziemlicher Knorz», sagt Christoph Hohl.
Es sei schon wichtig, dass man dranbleibe, ergänzt seine Frau: «Wenn er jetzt nicht lernt zu lernen, dann wird es für ihn später schwierig.» «Hochbegabte müssen nicht nur lernen zu lernen, sondern auch lernen zu scheitern», sagt Victor Müller-Oppliger. Früher oder später kommt auch ein hochbegabtes Kind an einen Punkt, an dem es nicht sofort weitergeht. «Irgendwann kann hohe Leistung nur mit harter Arbeit erreicht werden. Dazu gehören auch immer Misserfolge. Nur wenn ein Kind genug früh auf seinem Niveau herausgefordert wird, lernt es, dass Scheitern dazugehört.» Kann Noel überhaupt noch Kind sein? «Definitiv, zum Kindsein braucht er keine Förderung. Er liebt Sport oder blödelt rum, was Kinder halt so machen», sagt Cornelia Hohl. «Uns ist aber auch wichtig, dass er sich auch neben der Schule engagiert und Kinder trifft. Im Chor oder im Fussball.» Noel, der bis jetzt zugehört hat, schaltet sich ein: «Im letzten Fussballmatch gewann unser Team acht zu eins. Ich habe sieben Tore geschossen! »
Jeremia, Karol und Noel im Interview:
Hochbegabtes Kind? Was Eltern wissen müssen
- Interessiert sich Ihr Kind auffällig früh für die verschiedensten Themen oder ist es den anderen Kindern allgemein weit voraus, könnte es hochbegabt sein.
- Im Zweifelsfall kann eine Abklärung helfen. Solche Abklärungen macht zum Beispiel der schulpsychologische Dienst.
- Ist Ihr Kind hochbegabt, informieren Sie die Schule und suchen Sie gemeinsam nach Möglichkeiten, Ihr Kind zu fördern.
- Geben Sie Ihrem hochbegabten Kind die Chance, Kind zu bleiben. Unterstützen Sie auch Interessen des Kindes, die nicht die Schule betreffen
«Hochbegabte Kinder gibt es überall»
Vor zehn Jahren gründete Rektor Adrian Dummermuth das Förderprogramm Atelier Plus, eines der ersten Angebote dieser Art.
Adrian Dummermuth, warum haben Sie damals mit der Hochbegabtenförderung begonnen?
An fast jeder Schule gab es sonderpädagogische Konzepte mit dem Ziel, lernbehinderte beziehungsweise lernschwache Schülerinnen und Schüler im Regelklassenverband zu integrieren. Auch unsere Schule hat schon sehr früh viel Geld und Zeit in ein solches Programm investiert – und macht es heute noch. Aber auf der Gegenseite des Spektrums gab es nichts. Für mich ist es eine Frage der Chancengerechtigkeit, dass man auch hochbegabten Kindern ein Angebot bereitstellt.
Die Finanzierung war nie ein Problem?
Nie. Die lokale Politik sah und sieht dieses Angebot als Bestandteil des Profils unserer Schule. Und die Kosten sind überschaubar. An unserer Schule haben wir ein Budget von 12 Millionen Franken. Das Atelier Plus kostet uns rund 40 000 Franken im Jahr.
Wird in der Schweiz genug unternommen in Sachen Hochbegabtenförderung?
Nein, die Spitzenförderung wird in der Schweiz noch immer stiefmütterlich behandelt. Hochbegabte Kinder gibt es überall, aber nicht überall werden sie gefördert. In der Gemeinde Arth mit den Schulstandorten Arth und Goldau haben wir rund 900 Primarschulkinder. Darunter hatte es all die Jahre genug Hochbegabte, um ein Förderprogramm zu betreiben
Zum Autor:
Matthias von Wartburg ist während seiner Schulzeit selbst in den Genuss einer Förderklasse gekommen. Jedoch am anderen Ende des Spektrums: eine Förderklasse, wo lernschwache Schüler die erste Klasse in zwei Jahren absolvieren. Der Autor und zweifache Vater lebt mit seiner Familie in Nidau.
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