Noch nie war die Welt, in der sich junge Menschen zurecht finden müssen, so unübersichtlich wie heute. Was macht das mit unserer Jugend? Wie tickt sie, und was bewegt sie? Das sollten Eltern wissen.
«Die Jugend hat schlechte Manieren, sie verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor älteren Leuten und diskutiert, wo sie arbeiten sollte. Sie widerspricht den Eltern und tyrannisiert die Lehrer.» Das sind nicht etwa die Worte der österreichischen Psychotherapeutin Martina Leibovici-Mühlberger, die, wie Kritiker sagen, über unsere Jugend das pessimistischste Buch geschrieben hat. Hier schimpft einer bereits in der Antike auf die kommende Generation; es soll Sokrates persönlich gewesen sein. Der griechische Philosoph war damit auch nicht der Erste, steht doch auf viertausendjährigen Tontafeln aus Mesopotamien geschrieben, dass die Jugend zuchtlos und das Ende der Welt deshalb nah sei. Der Ärger der Erwachsenen über die Jungen ist so alt wie die Menschheit – die immerhin nicht untergegangen ist ob all der Halbwüchsigen, die sie bisher ertragen musste.
Der Ärger der Erwachsenen über die Jungen ist so alt wie die Menschheit – die immerhin nicht untergegangen ist.
So weit ist alles beim Alten geblieben, schütteln auch wir doch zumindest gelegentlich den Kopf über die Jugendlichen: als Eltern von Teenagern, über die wir uns den Kopf zerbrechen, als Lehrer, die auf Widerstand stossen, als Arbeitskollegen von Berufsanfängern, die, wie uns scheint, denken, das Leben sei ein Ponyhof. Je länger die eigene Jugend zurückliegt, desto schwieriger wird es, sich in die hineinzuversetzen, die diese bewegte Zeit erleben. Wer selbst keine Kinder oder nicht beruflich mit solchen zu tun hat, wird sie vielleicht erst recht nicht verstehen, diese bunt zusammengewürfelte Schar, die an der Schwelle zum Erwachsenenleben steht, Forderungen stellt, Träume hat, mitbestimmen will.
Wie tickt unsere Jugend? Im Bewusstsein, dass es darauf keine mustergültige Antwort gibt, wollen wir im vorliegenden Dossier dieser Frage nachgehen. Wir sprechen mit Forschern, die der Generation von morgen den Puls fühlen, konsultieren die wichtigsten Jugendanalysen, fragen die Psychotherapeutin – und nicht zuletzt die wahren Experten in Jugendangelegenheiten: Teenager, die uns aus ihrem Leben erzählen.
Jugendliche grenzen sich nicht mehr ab
Am Anfang aller Jugendkulturen, von den Hippies über die 68er bis zu den Punks, standen Provokation und das Bedürfnis, sich von den Eltern und gesellschaftlichen Normen abzugrenzen. Deshalb verbinden wir Jugend mit Rebellion. Dieser Zusammenhang habe seine Gültigkeit verloren, sagen Forscher. «Es gibt immer weniger typisch jugendliche Abgrenzungsbemühungen gegenüber der Erwachsenenwelt», sagt Peter Martin Thomas vom Sinus-Institut in Heidelberg, das 2016 die dritte Folge seiner Studienreihe «Wie ticken Jugendliche?» veröffentlicht hat. Die Analyse vermittelt einen ungewöhnlich tiefen Einblick in das Leben Jugendlicher, der bis ins Kinderzimmer reicht. Forscher führten in unterschiedlichen sozialen Milieus Gespräche mit 72 jungen Männern und Frauen im Alter von 14 bis 17 Jahren, zudem interviewten sich Jugendliche gegenseitig.
Timothy Oesch ist politisch aktiv. Er möchte etwas bewirken.
Diese qualitative Forschungsmethode gilt zwar nicht als statistisch repräsentativ, aufgrund ihrer Tiefenschärfe aber als aussagekräftig. Aus der Untersuchung gehe hervor, dass viele Jugendliche, egal, ob mit oder ohne Migrationshintergrund, nahezu die gleichen Wertvorstellungen hätten wie Erwachsene, sagt Mitautor Thomas: «Die Mehrheit von ihnen ist sich einig, dass in der heutigen Zeit ein gemeinsamer Wertekanon gelten muss, weil nur so das gute Leben in einem funktionierenden System gelingt.»
Am Anfang aller Jugendkulturen standen Provokation und das Bedürfnis, sich abzugrenzen.
Diese Entwicklung nennen die Sinus-Forscher «Neo-Konventionalismus», charakteristisch dafür seien die hohe Anpassungsbereitschaft der Jugendlichen sowie ihre selbstverständliche Akzeptanz von Leistungsnormen und bürgerlichen Tugenden wie Fleiss, Ehrlichkeit, Hilfsbereitschaft und Pünktlichkeit. Anders als noch vor einigen Jahren wollten ausserdem viele junge Männer und Frauen bewusst «so sein wie alle». «Mainstream ist kein Schimpfwort mehr, sondern ein Schlüsselbegriff im jugendlichen Selbstverständnis», sagt der Forscher.
Das Elternhaus als sicherer Hafen
Stärker denn je äusserten Befragte die Sehnsucht, sich aufgehoben und akzeptiert zu fühlen, und den Wunsch nach Geborgenheit in einer zunehmend unübersichtlichen Welt. Nach wie vor wichtig seien aber auch jugendtypische Werte, etwa der Wunsch nach Selbstentfaltung, Freiheit und Konsum.
Den Musterjugendlichen, der für alle steht, gibt es freilich nicht. «Die 14- bis 17-Jährigen sind eine heterogene Gruppe», sagt Peter Martin Thomas, «aber sie rücken näher zusammen.» Die Sinus-Studie identifiziert sieben unterschiedliche «Lebenswelten» (siehe Box unten) , als tonangebende bezeichnet sie die der «Adaptiv-Pragmatischen». Das sind den Autoren zufolge leistungs- und familienorientierte Teenager, die bürgerliche Tugenden mit modernen Werten wie Freiheit, Offenheit und Spass verbinden.
Mehr denn je äussern Jugendliche die Sehnsucht, sich geborgen zu fühlen.
Sie sind anpassungs- und kompromissbereit, sehen sich selbst als Realisten und stehen Ideologien skeptisch gegenüber. Sie orientieren sich am Machbaren, statt an einer besseren Welt zu basteln, und versuchen, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Sie wünschen sich ein sicheres und geordnetes Leben, sind sich aber im Klaren darüber, dass ihnen die Zukunft viel Flexibilität abverlangen wird. Gegenüber «faulen Menschen» grenzen sie sich ab, sie glauben, mit Ehrgeiz und Selbstvertrauen viel erreichen zu können. Dabei gilt als Massstab die bürgerliche Normalbiografie: erfolgreicher Einstieg ins Berufsleben, Familiengründung und der Aufbau eines Zuhauses.
Rebellion ist out. Das liegt nicht nur an der schnelllebigen Welt, die Jugendlichen dafür keine Zeit lässt, ist Peter Martin Thomas überzeugt, sondern auch an einer Gesellschaft, die Jungbleiben zur obersten Maxime erklärt – auch in den Köpfen von Müttern und Vätern. «Heute schockt keiner mehr seine Eltern mit einer Platte von den Toten Hosen», sagt der Forscher, «die haben sie längst selbst im Schrank.» Auch Piercings und Tattoos seien nicht mehr Identifikationsmerkmale jugendlicher Subkultur, sondern beliebte Verschönerungsmethoden von Erwachsenen: «Wer heute noch provozieren will, muss sich mächtig anstrengen.»
«Heute schockt keiner mehr seine Eltern mit einer Platte von den Toten Hosen. Die haben sie längst selbst.»
Forscher Peter Martin Thomas
«Anerzogene Bequemlichkeit»
Etwas mehr Reibung zwischen Jung und Alt, findet Peter Martin Thomas, würde allen guttun. Forscher erwarten in naher Zukunft allerdings nichts dergleichen. Nicht nur die Sinus-, auch die Shell-Studie, für die über 2500 Teilnehmer im Alter von 12 bis 25 Jahren befragt wurden, ortet in ihrer aktuellsten Version eine ungebrochen starke Beziehung zwischen Jugendlichen und ihren Eltern (siehe Box zu den Studien am Ende des Artikels).
Demnach kommen heute 52 Prozent der Befragten gut mit ihren Eltern aus, 40 Prozent sogar bestens. Das Elternhaus, so die Studie, sei für junge Männer und Frauen ein sicherer Hafen, dessen Bedeutung in einer unsteten und von Konflikten geprägten Welt zugenommen habe. Dabei wirkt aber auch Geld als sozialer Kitt – das legt eine Untersuchung der Zürcher Soziologin Ariane Bertogg nahe, die sich auf Daten der nationalen Panelstudie TREE (Transitions from Education to Employment) stützt und junge Erwachsene Mitte 20 untersucht. Die Nähe zu den Eltern bleibt offenbar auch in dieser Lebensphase stark; acht von zehn Befragten pflegen eine enge oder sogar sehr enge Beziehung zu mindestens einem Elternteil. Und: Je mehr materiellen Komfort das Elternhaus ihnen bietet, desto besser stufen die jungen Erwachsenen das Verhältnis zu Mutter und Vater ein.
Je mehr materiellen Komfort das Elternhaus bietet, desto besser stufen die Jungen das Verhältnis zu den Eltern ein.
Es sei auch eine anerzogene Bequemlichkeit, die den einst typischen Drang der Jungen nach Veränderung verschüttet habe, glaubt Ivica Petrušić, Jugendarbeiter und Geschäftsführer der Kantonalen Kinder- und Jugendförderung (okaj) in Zürich. Ihm werde ständig die Frage gestellt, warum Jugendliche heute so angepasst seien. «Offenbar erwarten wir Erwachsenen das Gegenteil von ihnen», sagt der Jugendarbeiter, «vielleicht in der Hoffnung, dass wenigstens sie etwas verändern wollen, wo wir dafür zu müde und übersättigt sind.» Position zu beziehen, sei aber nicht angesagt in einer Gesellschaft, die alles zu unbequem finde, was das Individuum in seinen unmittelbaren Bedürfnissen beschneide, und deren wichtigste Botschaft an ihre Kinder die sei, das zu machen, was ihnen guttue. «Wir haben unsere Kinder verweichlicht», sagt Ivica Petrušić, «und jetzt wundern wir uns, dass sie keine Lust haben, die Welt zu verbessern.» Der Jugendexperte spricht aber auch von Zweckoptimismus, von jungen Menschen, die vor lauter Bäumen den Wald nicht sehen: «Weil die Informationsgesellschaft sie überfordert, besinnen sie sich auf das Überschaubare, das heisst auf sich selbst und ihren engsten Kreis.» Interessant ist in diesem Zusammenhang, wie sich etwa die Pflege der eigenen Gesundheit in allen der an dieser Stelle diskutierten Jugendbefragungen als wichtiges Anliegen offenbart.
In soliden Beziehungen suchen Jugendliche die Stabilität und Sicherheit, die sie in der übrigen Welt vermissen.
Das Gleiche gilt für solide Beziehungen, in denen Jugendliche möglicherweise die Stabilität und Sicherheit suchten, die sie in der übrigen Welt vermissten, wie das Jugendbarometer 2016 der Credit Suisse festhält, das die Bank dieser Tage veröffentlichte. An der Online-Befragung haben über 1000 junge Erwachsene im Alter von 16 bis 25 Jahren teilgenommen. Oberste Priorität haben für sie vertrauensvolle, sichere Beziehungen, seien sie nun freundschaftlicher, partnerschaftlicher oder familiärer Natur. Auch betonen sie Werte, die diese Sicherheit überhaupt erst ermöglichen: Verlässlichkeit, Ehrlichkeit, Treue.
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Politik: Warum der Durchblick fehlt
«Lassen es die Jungen einmal krachen, bewegt sich das meist in anständigem Rahmen», weiss Jugendarbeiter Petrušić. Dafür sprechen auch die Zahlen, die Sucht Schweiz in einem Bericht von 2015 vorlegte. Demzufolge hat der Konsum von Suchtmitteln einen Tiefststand erreicht, junge Schweizer rauchen, kiffen und trinken so wenig wie seit 30 Jahren nicht mehr. Dafür hätten viele, so Ivica Petrušić, bereits mit 18 Jahren eine dritte Säule. Sein Tonfall verrät Ernüchterung, wenn nicht Besorgnis. Warum? «Diese selbstfokussierte Haltung ist leicht kommerzialisierbar. Kaum artikulieren Jugendliche ein Bedürfnis oder eine Idee, entsteht daraus gleich ein Angebot. Niemand gibt ihnen Zeit, die Dinge wachsen und reifen zu lassen.» Die Qualität von Inhalten, bedauert der Jugendarbeiter, bemesse sich nicht mehr an ihrer gesellchaftlichen Relevanz, sondern am Geldwert.
Kritische Geister, die etwas bewegen wollen, hätten es schwer. «Es ist ja nicht so, dass wir keine Probleme mehr hätten», sagt Ivica Petrušić, «aber ihre Zusammenhänge werden aus Sicht des Normalbürgers immer abstrakter.» Das sei mit ein Grund für das spärliche Interesse der jungen Generation an politischem Engagement.
Die Mitgliedschaft in Parteien gilt als out. Überhaupt zeigen sich junge Erwachsene wenig gruppenverbunden.
Petrušić nennt als Beispiel den Vergleich mit den Schweizer Jugendunruhen in den 80er-Jahren: «Wir haben Briefe aus dieser Zeit, in denen Jugendliche den Stadtrat zum Rücktritt auffordern, weil er ihre Bedürfnisse ignoriere. Sie haben sich mit einer heute unvorstellbaren Aggressivität ins Zeug gelegt, und ihre Wut hatte einen konkreten Adressaten.» Darin zeige sich der Unterschied zu heute, wo gesellschaftliche Missstände so komplex geworden seien, dass uns in der Frage, wen wir dafür verantwortlich machen wollten, der Durchblick fehle. Soziale Medien, glaubt Ivica Petrušić, schafften da keine Abhilfe. «Nehmen wir an», sagt er, «Jugendliche wollen sich im Internet über das Weltgeschehen informieren. Gleich neben der Kriegsreportage finden sie das Neuste vom ‹Bachelor›. Oder sie landen in weiteren Kanälen, die über zig andere Probleme berichten. Wie soll sich jemand da noch entscheiden können, wofür er sich engagieren will? Es bleibt einem nur der Rückzug.»
Optimismus trotz allem
Die Politikverdrossenheit der Jugend liegt nicht daran, dass diese sich nicht für die Gesellschaft interessiert, weiss auch Sozialforscher Peter Martin Thomas vom Sinus-Institut. «Jugendliche haben durchaus politische Interessen», sagt er, «aber sie würden sie nicht als solche formulieren. Sie verbinden Politik mit Anzugträgern, die unverständliche Dinge reden.»
Dass es in der Schweiz nicht anders sein dürfte, verrät ein Blick auf das Jugendbarometer der Credit Suisse, laut dem die meisten Befragten politisches Engagement als unwichtig betrachten. Vor allem die Mitgliedschaft in Parteien gilt als out. Überhaupt, hält die Studie fest, zeigten sich junge Erwachsene wenig gruppenverbunden, als angesagt gälten höchstens Kulturvereine. Eine Art Politisierung scheine aber im Gang zu sein, «jedoch eher eine diskursive oder ideologische», die nicht an Parteimitgliedschaft oder Teilnahme an Demonstrationen gekoppelt sei, sondern sich unter anderem am Sorgenbarometer junger Schweizer offenbare.
Was Jugendliche am meisten bewegt, ist die Flüchtlingskrise.Ebenso wie die Angst vor Terrorismus und Extremismus.
Was Jugendliche demzufolge am meisten bewegt, ist die Flüchtlingskrise, die Asyl- und Migrationsfragen auf der Liste der dringlichsten Probleme nach oben katapultiert hat. «Jugendliche wünschen sich an erster Stelle eine Lösung in der Flüchtlingsproblematik», schreiben die Autoren, erst dann folge der Wunsch nach Lösungen im Umgang mit Zuwanderung, Personenfreizügigkeit und Ausländern generell: «Es hat damit eine inhaltliche Verlagerung der Migrationsdebatte eingesetzt; weg vom Dauerthema Ausländer und Personenfreizügigkeit hin zum aktualitätsgeladenen Thema Flüchtlinge.»
An dritter Stelle der Top-Ten-Probleme, und das sei neu, rangierten Sorgen über Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Die Zuwanderung als solche, betonen die Forscher, bewerte nämlich eine deutliche Mehrheit der jungen Schweizer als unproblematisch. 11 Prozent sähen darin einen Vorteil, 47 Prozent – das seien so viele wie nie zuvor – erachteten sie als eher kleines bis gar kein Problem. Diese Entwicklung gehe auf den steigenden Einfluss der Generation Z zurück, also die nach 2000 Geborenen, die Ausländern gegenüber weniger kritisch eingestellt seien als ihre Vorgängergeneration und das Verhältnis zu Mitbürgern ohne Schweizer Pass mehrheitlich als harmonisch bezeichneten.
Erkennbar angestiegen ist gemäss Jugendbarometer auch die Angst vor Terrorismus und Extremismus – 2014 von knapp einem Prozent der Befragten als dringlichstes Problem geäussert, bezeichnen sie 2016 bereits sieben Prozent der Jugendlichen als ihre Hauptsorge. Damit ist das Thema fast genauso virulent wie die Besorgnis über Klimaerwärmung und Umweltkatastrophen. Die Forderung nach besserem Umweltschutz reisst nicht ab, Jugendliche gewichten das Thema gleich stark wie die Probleme im Bereich der Altersvorsorge.
Freundinnen für immer. Enge Bindungen stehen bei Jugendlichen hoch im Kurs.
«Schliesslich zahlen viele von ihnen bereits in die Fonds ein, ohne zu wissen, ob ihre eigene Altersvorsorge noch gewährleistet ist», hält das Jugendbarometer fest. Die Rede sei in diesem Zusammenhang von Versorgungslücken, von Spannungen aufgrund unterschiedlicher Generationeninteressen und vom Bedarf, das Vorsorgesystem grundlegend zu reformieren.
Die jungen Männer und Frauen konzentrieren sich auf das Hier und Jetzt.
Pragmatisch und abgeklärt
Während pessimistische Tendenzen zunehmen, wenn es um die Perspektiven der Gesellschaft geht, blickt die Mehrheit der jungen Schweizer der eigenen Zukunft zuversichtlich entgegen. Den Trend zum persönlichen Optimismus spiegelt auch die deutsche Shell-Studie. Deren Autoren finden das «bemerkenswert für eine Generation, die sehr viel Ungewissheit hinnehmen muss». Die jungen Männer und Frauen reagierten auf die mannigfaltigen Unsicherheiten, indem sie sich stark aufs Hier und Jetzt konzentrierten. Sie gäben sich pragmatisch und abgeklärt, ohne dabei dem Pessimismus zu verfallen. Doch trauten sie sich manchmal kaum, sich die Zukunft auszumalen, eigenen Sehnsüchten nachzustreben, wie es für viele Jugendgenerationen typisch gewesen sei. Oder, wie es die Shell-Studie im Nachwort formuliert: «Die Zukunft stellt man sich so vor wie die Gegenwart – es soll kleine Entwicklungen geben, aber möglichst keine grossen Veränderungen.
Weiterlesen: Dieser Artikel erschien in unserem Oktober-Dossier zum Thema «Jugend 2016 – Generation brav». Das Heft kann hier bestellt werden.
Jugendliche Lebenswelten im Vergleich
Die Studienreihe «Wie ticken Jugendliche?» des Sinus-Instituts in Heidelberg ermöglicht seit 2012 tiefe Einblicke in das Leben von Jugendlichen. In der Altersgruppe der 14- bis 17-Jährigen identifizieren Sinus-Forscher sieben «Lebenswelten», die sich auf gut 2000 befragte Jugendliche folgendermassen verteilen:
Tonangebend ist die Gruppe der «Adaptiv-Pragmatischen» (24 Prozent der Befragten). Diese verstehen sich als leistungs- und familienorientierter Mainstream und zeigen eine hohe Anpassungsbereitschaft. Die «Expeditiven» (21 Prozent) legen Wert auf Erfolg und Lifestyle, sind gebildet und sehen sich als Avantgarde ihrer Generation. Ihre Selbsteinschätzung mutet laut Forschern zuweilen narzisstisch an. Dagegen geben sich die «Konservativ-Bürgerlichen» (15 Prozent) bodenständig, halten Traditionen hoch und orientieren sich an Werten wie Familie und Heimat. Zur sozialen Unterschicht gehören die «Materialistischen Hedonisten» (15 Prozent). Sie fallen durch eine ausgeprägte Konsumorientierung und ihr Markenbewusstsein auf, legen Wert auf Freizeit und Familie. «Experimentalistische Hedonisten» (12 Prozent) wollen sich vom Mainstream abheben und anecken. Dazu gehört für viele, früh Alkohol, Zigaretten und Marihuana zu probieren. Wie vergleichsweise moderat selbst diese Rebellion abläuft, zeige sich unter anderem daran, dass sie sich kaum gegen die Eltern richte, schreiben die Forscher: «Zwar rebellieren diese Jugendlichen gegen ‹spiessbürgerliche› Normalität, die eigenen Eltern entsprechen diesem Bild jedoch nur noch selten.» Die «Sozialökologischen» (8 Prozent) sind offen für alternative Lebensentwürfe, orientieren sich an Werten wie Gemein- wohl und Nachhaltigkeit. Eine Randgruppe stellen die «Prekären» (5 Prozent) dar, Jugendliche mit schwierigen Startvoraussetzungen, die aberum Teilhabe bemüht sind. Sie werden als «Durchbeisser» charakterisiert.
Am Puls der Jugend – die wichtigsten Studien im Vergleich
DAS JUGENDBAROMETER: JUNGE SCHWEIZER IM FOKUS
Das Jugendbarometer, das die Credit Suisse seit 2010 im Jahresrhythmus veröffentlicht, gibt einen breiten Einblick in die Lebensweise und Ansichten von Jugendlichen in der Schweiz. Für die brandneue Version von 2016, erschienen am 4. Oktober, befragte das Markt- und Sozialforschungsinstitut gfs.bern 1048 junge Erwachsene im Alter von 16 bis 25 Jahren. Wegen der hohen Internetaffiniät dieser Altersgruppe wurden die Befragungen online durchgeführt.
Das Wichtigste in Kürze:
Der Lebensentwurf der Jugendlichen in der Schweiz ist stark von individualistischen Tendenzen geprägt, die jedoch problemlos mit postmaterialistischen Werten in Einklang gebracht werden. Jugendliche wollen vieles ausprobieren und streben eine gute Work-Life-Balance an. Verbreitet ist der Wunsch nach Familie, Wohneigentum und einer soliden Ausbildung – vor allem bei der Generation Z, den nach 2000 Geborenen. Das Jugendbarometer charakterisiert sie als ambitioniert und zielorientiert.
DIE SINUS-STUDIE: TEENAGER UNTER DER LUPE
Das Sinus-Institut in Heidelberg erforscht seit Jahren jugendliche Lebenswelten in Deutschland. Daraus hervorgegangen ist die Studienreihe «Wie ticken Jugendliche?». Für die aktuellste Version führten Forscher Gespräche mit 72 14- bis 19-Jährigen aus unterschiedlichen sozialen Milieus. Zusätzlich interviewten sich Teenager gegenseitig. Diese Forschungsmethode gilt zwar nicht als repräsentativ, aufgrund ihrer Tiefenschärfe aber als aussagekräftig.
Das Wichtigste in Kürze: Viele Teenager haben heute nahezu die gleichen Wertvorstellungen wie Erwachsene. Die Mehrheit ist sich einig, dass gerade in der heutigen Zeit ein gemeinsamer Wertekanon gelten muss, weil nur so das «gute Leben» gelingen kann. Diese Entwicklung nennen die Forscher «Neo-Konventionalismus», charakteristisch dafür seien die hohe Anpassungsbereitschaft sowie ihre selbstverständliche Akzeptanz von Leistungsnormen und bürgerlichen Tugenden wie Fleiss, Ehrlichkeit und Pünktlichkeit.
DIE SHELL-STUDIE: PIONIERE DER JUGENDFORSCHUNG
Seit 1953 analysieren die Shell-Jugendstudien in Abständen von jeweils vier bis fünf Jahren, wie junge Menschen in Deutschland die sich ihnen stellenden Herausforderungen bewältigen. Für die 17. Shell-Jugendstudie von 2015 nahmen 2558 junge Erwachsene der Jahrgänge 1989 bis 2002 an einer Umfrage mittels Fragebögen teil. In einem zweiten, sogenannt qualitativen Teil der Analyse führten Forscher darüber hinaus 21 persönliche Interviews. Das Wichtigste in Kürze: Die Jugend von heute könne mehr denn je als eine Generation im Aufbruch bezeichnet werden, stellen die Forscher der Shell-Studie fest. Sie gebe sich abgeklärt, ohne dabei dem Pessimismus zu verfallen, und begegne den Herausforderungen einer schnelllebigen Welt mit einer pragmatischen Haltung. Auffallend seien die Bereitschaft der Jugendlichen, sich an Leistungsnormen zu orientieren, ihr Bedürfnis nach Sicherheit und der Wunsch nach stabilen persönlichen Beziehungen.
Virginia Nolan 32, war in ihrer eigenen Jugend zwar auch nicht gerade ein Querschläger, staunt aber darüber, wie umsichtig und vernünftig Teenager ihr Leben heute angehen.