Genderneutral erziehen – macht das Sinn?
In den USA wächst ein Kind namens Zoomer, von seinen Eltern medienwirksam inszeniert, «genderkreativ» auf. Und der erste genderneutrale Kindergarten in Stockholm kann sich vor Anmeldungen kaum retten. Sind das wichtige Schritte zu mehr Geschlechtergerechtigkeit – oder Experimente, unter denen Kinder zu leiden haben?
«Wir bestreiten nicht, dass Zoomer XY- oder nur X-Chromosome hat», erklärt die Mama, Soziologin und Genderforscherin Kyl Myers. Aber sie und ihr Mann, ein Grafiker, möchten ihrem Kind in den ersten Lebensjahren die Gelegenheit geben, seine Identität fern von Rollenbildern zu entdecken und zu entwickeln.
Denn das Geschlecht sage nichts über die Persönlichkeit aus, so Kyl Myers. Statt mit «he» (er) oder «she» (sie) bezeichnen die Eltern das Kind mit «they» (sie, Plural). Myers und Courtney achten auf geschlechtsneutrale Kleidung und darauf, mit Spielzeug oder Büchern keine Stereotypen zu transportieren.
Diesem Prinzip folgt auch Egalia, der erste genderneutrale Kindergarten in der schwedischen Hauptstadt Stockholm. Statt «Buben» oder «Mädchen» sind alle Kinder «Freunde», statt «hon» (sie) und «han» (er) wird der geschlechtsneutrale Kunstbegriff «hen» verwendet.
Traditionelle Märchen sucht man in den Bücherregalen vergebens, da sie zu viele stereotype Rollenbilder vermitteln, und traditionelle Lieder werden auch mal geschlechtsneutral umgedichtet. Der Kindergarten hat ellenlange Wartelisten. In Schweden bemüht sich der Staat intensiv um Egalität: Seit 2008 wurden 12 Millionen Euro ausgegeben, um traditionellen Geschlechterrollen an Schulen und Kindergärten entgegenzuwirken. Genderperspektive, die Gleichberechtigung von Mann und Frau in allen gesellschaftlichen Bereichen, ist ein wichtiger Teil der Lehrerausbildung.
Zweijährige Buben bevorzugen «Jungen-Spielzeug» nicht
Auch gegen die in Schweden beliebten geschlechtsneutralen Spielzeugkataloge, in denen Buben in Spidermankostümen Puppenwagen herumstossen, hat er keine Einwände. «Aber es ist doch übertrieben, wenn man bei der Geburt eines Kindes nicht mehr fragen darf, ob es ein Bub oder ein Mädchen ist, weil das nicht relevant sei. Wenn Kinder neutrale Kleidung tragen und mit neutralen Spielsachen spielen sollen, entzieht man ihnen eine wichtige Quelle des Vergnügens», so der Neurologe, und: «Ich denke nicht, dass dies – vielleicht geschlechtsspezifisch bedingte – Vorlieben für ein Spielzeug verhindert.»
Diese Sorge teilt die kanadischbritische Genderforscherin und Journalistin Cordelia Fine von der Universität Melbourne nicht. «Laut diversen Untersuchungen überschneiden sich die Spielzeuge, mit denen Mädchen und Jungen spielen, sowieso, und auch die Art, wie sie damit spielen.» So habe eine grosse Studie im Auftrag des Magazins «Child Development» im Jahr 2014 gezeigt, dass zweijährige Buben nicht öfter zu «Jungen-Spielzeug» griffen als Mädchen und letztere auch nicht öfter oder länger in «mädchenhafter» Art und Weise spielten als Knaben.
Droht Zoomer eine Identitätskrise?
Zoomer besucht eine Kindertagesstätte, welche diesbezüglich sehr offen ist: Es gibt Buben mit langen Haaren, Mädchen, die Autos lieben, und auch wenn die anderen Kinder im Gegensatz zu Zoomer «sie» oder «er» sind, sei ihr Kind überhaupt kein Aussenseiter, erklärt Kyl Myers. Im Gegenteil: Dank Kyls vielbeachtetem Blog «Raising Zoomer» (Zoomer grossziehen) ist «Z» in Salt Lake City ein kleiner Star.
Mehr über Geschlechterklischees in unserer Ausgabe 02/2019
Erziehung sei so oder so ein soziales Konstrukt, sagt hingegen Kyl Myers. Bei der «Genderkreativität» gehe es nicht darum, zu leugnen, dass es unterschiedliche Geschlechter gebe, nur: «Kinder sollten mehr für ihre Individualität statt für ihre Konformität geschätzt werden», so Myers – und: «Ich glaube nicht, dass Rollenbilder, welche Frauen an den Herd und Männer in wirtschaftliche und politische Spitzenpositionen pushen, in unseren Genen angelegt sind. Sie sind in einer patriarchalen Gesellschaft entstanden.»
Was, wenn Zoomer in den Kindergarten kommt?
Swaab ist überzeugt: «Würde man geschlechtsneutrale Erziehung als formelles Experiment vorschlagen, würde keine Ethikkommission die Erlaubnis für so etwas geben. Aber Eltern können ihre Kinder erziehen, wie sie wollen.»
Kyl Myers findet Stereotypen gefährlicher als Geschlechtsneutralität: «Ich glaube, dass Sexismus in der Kindheit und in der Art und Weise, wie Buben und Mädchen aufwachsen, ihren Ursprung hat. Und ich glaube, dass genderneutrale Erziehung der einzige Weg ist, wie unsere Gesellschaft echte Gleichberechtigung erreichen kann.»
Aber wie realistisch ist es, diese durchziehen zu können? In ein paar Jahren kommt Zoomer in den Kindergarten. Ob das Kind dann noch mit dem neutralen Pronomen «they» bezeichnet werden möchte? Seine Eltern hoffen es. Und ob der kleine Bub, der im genderneutralen Kindergarten Egalia lieber mit Puppen als Fussball spielte, dies immer noch tut, wenn er in der Schule auf Kinder trifft, die nicht «genderneutral» aufgewachsen sind?
Viel wichtiger als Genderneutralität – aber auch viel wichtiger als die Betonung der Zugehörigkeit zu einem Geschlecht – findet Cordelia Fine, dass man Kinder zu empathischen, aufmerksamen, kompromissbereiten und mutigen Menschen erzieht, unabhängig von ihrer Genderzugehörigkeit. Sie sagt: «Kinder sollen nicht weibliche oder männliche Qualitäten entwickeln, sondern menschliche!»
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