Brauchen Kinder Struktur?
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren
Regulator-Eltern möchten ihren Kindern einen klaren Rahmen stecken, um sie an ihre Umwelt zu gewöhnen. Facilitator-Eltern stellen die Bedürfnisse ihrer Kinder ins Zentrum ihres Handelns. Was die beiden Haltungen für Eltern und Kinder bedeuten.
Kürzlich wurde ich durch die britische Psychotherapeutin und Autorin Philippa Perry auf die Forschungsarbeiten von Joan Raphael-Leff aufmerksam, die ich so spannend fand, dass ich sie Ihnen kurz vorstellen möchte.
Die Psychologieprofessorin untersucht seit über 30 Jahren, wie Eltern, insbesondere die Mütter, auf die Schwangerschaft reagieren und ihren Alltag nach der Geburt des Kindes umgestalten. Dabei wurden zwei unterschiedliche Ausrichtungen deutlich.
Zur ersten Gruppe gehören die sogenannten Regulator-Eltern. Sie möchten dem Kind helfen, sich an seine Umwelt anzupassen, indem sie sobald als möglich feste Routinen aufbauen mit dem Ziel, eine gewisse Vorhersehbarkeit für das Kind zu schaffen. Sie tragen die Erwartung in sich, dass sich das Kind in einen festen Rahmen einbinden lässt, der von den Erwachsenen vorgegeben wird. Im Säuglingsalter werden dazu beispielsweise Regeln festgelegt wie «Das Baby wird alle vier Stunden gestillt» oder «Um 20 Uhr ist Schlafenszeit». Werden die Kinder etwas älter, werden die Routinen und Regeln ausgebaut, damit für das Kind klar ist, was gilt. «Die Hausaufgaben werden gleich nach der Schule erledigt. Danach darfst du spielen.»
Oft erhoffen sich diese Eltern, dass sie Konflikte durch klare Abmachungen vermeiden können («Wie ist unsere Regel? Du weisst, was wir abgemacht haben») und sie verhindern können, dass das Kind ungünstige Gewohnheiten entwickelt, die man später nicht mehr wegkriegt.
Die zweite Gruppe umfasst die sogenannten Facilitator-Eltern. Ihnen ist es ebenfalls wichtig, dass das Kind Verlässlichkeit erleben darf. Ihre Vorstellungen davon, wie sich dies umsetzen lässt, sind aber anders. Sie sehen ihre Aufgabe darin, sich auf das Kind einzustellen, und lassen sich vorwiegend durch seine Signale und Bedürfnisse leiten. Verlässlichkeit bedeutet für sie, flexibel und relativ unmittelbar auf das Kind zu reagieren, damit dieses die Erfahrung machen kann: Wenn ich Hunger habe, werde ich gestillt, wenn ich Nähe benötige, ist jemand da, ich werde gesehen und gehört.
Regulator-Eltern erhoffen sich, dass sie durch klare
Abmachungen Konflikte
vermeiden können.
Eltern mit dieser Haltung hoffen eher, dass Kinder durch diese Erfahrungen eine innere Sicherheit entwickeln, die ihnen dabei hilft, ihre Bedürfnisse mit der Umwelt in Einklang zu bringen. Später achten diese Eltern statt auf allgemeine Regeln eher auf persönliche Grenzen: «Ich bin am Abend zu müde, um dir bei den Hausaufgaben zu helfen. Lass uns jetzt kurz schauen ob du meine Hilfe brauchst.»
Die meisten Eltern neigen zu einer dieser beiden Haltungen, wobei die Ausprägung auf die eine oder andere Seite unterschiedlich stark sein und sich im Verlauf der Zeit verändern kann. Vielleicht möchten Sie kurz innehalten und sich überlegen, welche Beispiele von Eltern Ihnen einfallen? Wo würden Sie sich selbst einordnen? Wo Ihre eigenen Eltern? Und wie sieht es bei Ihrem Partner / Ihrer Partnerin aus?
Ein verlässliches Umfeld schaffen
Eltern beider Ausrichtungen haben den Wunsch, ihrem Kind Sicherheit, Verlässlichkeit und Vorhersehbarkeit zu bieten. Sie möchten sich und dem Kind Antworten geben auf die Fragen: Was passiert jetzt? Was gilt hier? An wen kann ich mich wenden? Kann ich mich auf die anderen verlassen? Was kann, darf, muss ich – und was die anderen?
Wie viel Gewicht dabei geregelte Abläufe, Routinen, Regeln und Absprachen haben sollen, ist jedoch immer wieder Gegenstand heftiger Diskussionen. Doch wovon hängt es ab, wie wichtig uns ein klarer Rahmen und ein geregelter Ablauf im Familienleben ist? Darauf gibt es viele Antworten. Drei Aspekte möchte ich herausgreifen.
Nach einer Studie von Roncolato und McMahon aus dem Jahr 2012 fühlen sich Mütter (Väter wurden nicht untersucht), die eine Neigung in Richtung Regulator haben, in Beziehungen leichter gestresst und verunsichert. Emotionale Nähe kann für sie auch Unwohlsein mit sich bringen. Sie sind oft stark darauf bedacht, sich «richtig» zu verhalten, um akzeptiert zu werden und Zurückweisung und Fehler zu vermeiden. Entsprechend wichtig ist für sie Klarheit darüber, was erwartet wird und wie man es als Mutter «gut» oder «richtig» macht. Sie wünschen sich klare Vorgaben und Regeln für sich und ihre Kinder.
Während der Schwangerschaft erwarten sie – wie eine andere Studie zeigt –, dass die Mutterrolle viel Stress mit sich bringen wird, während die Facilitator-Mütter vor allem Erfüllung erwarten. Ist das Kind jedoch da und können sie den Alltag entsprechend ihrer Neigung gestalten und strukturieren, gibt es meist weniger Probleme, als sie gedacht haben – und sie sind mit ihrer Rolle als Mutter genauso zufrieden wie die Facilitator-Mütter.
Oft entscheidet die Lebenssituation stark mit, wie sehr der Alltag mit Kindern reglementiert und strukturiert wird. Je stärker der Alltag der Eltern durch die Berufstätigkeit oder andere Verpflichtungen durchgetaktet wird, desto mehr fühlen sie sich darauf angewiesen, dass das Kind sich in die vorgegebene Struktur einfügt.
Äussere Umstände
Etwas unklar ist, wie es sich auswirkt, mehrere Kinder zu haben. Familien mit drei, vier oder mehr Kindern müssen fast zwangsläufig mehr Strukturen schaffen, damit das Chaos nicht überhandnimmt. Interessanterweise zeigte sich in der Studie von Roncolato und McMahon jedoch der gegenteilige Effekt. Beim zweiten oder dritten Kind neigen die Mütter eher zur Facilitator-Orientierung. Vielleicht haben sie durch die Erfahrung mit dem ersten Kind vermehrt innere Sicherheit und Zuversicht entwickelt?
Für Facilitator-Eltern bedeutet Verlässlichkeit, flexibel und
unmittelbar auf die Signale und Bedürfnisse ihrer Kinder
zu reagieren.
Meine Frau und ich haben dies ähnlich erlebt: Haben wir uns zum Beispiel beim ersten Kind durch Aussagen des Kinderarztes wie: «Mit sechs Monaten sollte das Kind in der Lage sein durchzuschlafen» noch verunsichern lassen und uns gefragt, ob wir etwas falsch machen, haben wir beim zweiten einfach eine Ärztin gesucht, die besser zu uns passt.
Auch Kinder unterscheiden sich darin, wie viel Sicherheit im Aussen sie benötigen.
Mir fällt dazu eine Bekannte ein, die selbst viel Wert auf Spontaneität und Flexibilität legt und Regeln und Routinen eher ermüdend und einengend findet. Durch ihren Sohn, der eine autistische Symptomatik aufweist, musste sie ihr Leben komplett umkrempeln. Sie erzählte mir einmal: «Alles muss immer gleich sein. Ich dreh fast durch. Der gleiche Spaziergang jeden Tag zur gleichen Zeit, anhalten an den gleichen Stellen, um dieselben Dinge zu betrachten. So geht das den ganzen Tag nach demselben Trott. Wenn ich mal etwas anderes machen will, kriegt er Schreikrämpfe, lässt sich zu Boden fallen, schlägt um sich oder sogar sich selbst und lässt sich nicht beruhigen, bis wir wieder zu Hause sind.»
Was ist bei Ihnen beim Lesen angeklungen? Wovon braucht in Ihrer Familie wer wie viel? Wer fühlt sich rasch verunsichert, wenn äussere Strukturen fehlen und man «dem Leben seinen Lauf lässt»? Wer fühlt sich eingeengt und erdrückt, wenn zu viele Vorgaben im Raum stehen? Wie gehen Sie mit diesen Unterschieden um?
Fabian Grolimund
ist Psychologe und Buchautor («Mit Kindern lernen», «Vom Aufschieber zum Lernprofi»). Gemeinsam mit Stefanie Rietzler leitet er die Akademie für Lerncoaching in Zürich. Der 40-Jährige ist verheiratet und Vater eines Sohnes, 6, und einer Tochter, 4. Er lebt mit seiner Familie in Fribourg. Die besten dieser Kolumnen finden Sie im neuen Buch «Geborgen, mutig, frei – wie Kinder zu innerer Stärke finden».
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