Schüler brauchen Feedback statt Noten
In Lehrerweiterbildungen erlebe ich schon lange, dass sich viele Lehrpersonen hier zumindest für die Primarschule eine Veränderung wünschen. Sie möchten ihre Schülerinnen und Schüler auf ihrem individuellen Lernweg begleiten, lernschwache und leistungsstarke Kinder dort abholen, wo sie stehen, und ein Lernangebot schaffen, von dem alle Kinder profitieren können, ohne über- oder unterfordert zu werden.
Am Donnerstag muss sie ein Diktat schreiben lassen und ihm zurückmelden, dass seine Leistung wieder ungenügend ist. Der Schüler ist verwirrt: «Eben hat sie noch gesagt, dass ich mir Mühe gebe und es gut mache, und jetzt bin ich doch wieder so schlecht.»
Die Lehrperson kommt in Erklärungsnot. Die Motivation, die sie am Montag sorgfältig aufgebaut hat, ist eine Woche später mit der schlechten Note wieder am Boden. Vielleicht hat der Schüler sogar ein Stück weit Vertrauen in die Lehrerin eingebüsst und denkt bei der nächsten positiven Rückmeldung: «Das sagt die nur, damit ich mitmache. Ich weiss genau, dass ich es nicht kann.»
Weshalb sich Noten und individuelle Förderung nicht vertragen...
Notengebung und Prüfungen stammen jedoch aus einer Zeit, in der es darum ging, dass alle im Gleichschritt marschieren. Die einzelne Lehrperson muss nun diesen Widerspruch im Alltag auflösen. Beispielsweise, indem sie unter die schlechte Note einen aufmunternden Kommentar schreibt, einen «Bravo-Sticker» draufklebt, nach einer Abklärung die Lernziele anpasst oder durch einen Nachteilsausgleich versucht, dem Kind bei der Prüfung entgegenzukommen. Das alles frisst Zeit und Ressourcen, die wahrscheinlich anderweitig besser investiert wären.
«Aber ohne Noten wissen Schüler doch gar nicht, wo sie stehen!»
Viele Lehrpersonen versuchen dieses Problem durch sehr detaillierte Korrekturen zu lösen. Aber was interessiert Schülerinnen und Schüler, wenn sie die Prüfung zurückerhalten? Die Note. Der Rest wird kaum angeschaut und fast nie als Anlass gesehen, selbständig eine Lücke oder Unverstandenes aufzuarbeiten.
Damit Lernende wirklich wissen, wo sie stehen, brauchen sie das, was der Bildungsforscher John Hattie unter formativem Feedback versteht: Schüler und Lehrperson ergründen gemeinsam, was das Ziel ist, welche Fortschritte bereits gemacht wurden, was der nächste Schritt ist und wie man dorthinkommt.