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Schüler brauchen Feedback statt Noten

Lesedauer: 5 Minuten

Neu werden bei uns bis Ende zweiter Klasse keine Noten mehr vergeben.» Dieser Satz der Lehrerin löste beim Elternabend unseres Kolumnisten, Fabian Grolimund, heftige Diskussionen aus. Fabian Grolimund erzählt, welchen Sinn und Unsinn er selbst in Schulnoten sieht…

Sie können sich vielleicht vorstellen, dass ich zu den Eltern gehöre, die sich sehr darüber freuen, dass im Zuge des Lehrplans 21 vielerorts zumindest in den ersten Schuljahren auf Ziffernnoten verzichtet wird.

In Lehrerweiterbildungen erlebe ich schon lange, dass sich viele Lehrpersonen hier zumindest für die Primarschule eine Veränderung wünschen. Sie möchten ihre Schülerinnen und Schüler auf ihrem individuellen Lernweg begleiten, lernschwache und leistungsstarke Kinder dort abholen, wo sie stehen, und ein Lernangebot schaffen, von dem alle Kinder profitieren können, ohne über- oder unterfordert zu werden.

Ein Problem ist immer wieder die Verpflichtung, Prüfungen zu stellen und zu benoten. 

Vielen Lehrpersonen gelingt das trotz hoher Anforderungen wie Inklusion und heterogenen Klassen erstaunlich gut. Ein Problem ist jedoch immer wieder die Verpflichtung, Prüfungen zu stellen und zu benoten. Plötzlich sollen doch wieder alle Schüler zum gleichen Zeitpunkt das Gleiche können. Das bringt Lehrpersonen in eine innere Spannung: Die Lehrperson meldet einem Schüler mit einer Rechtschreibschwäche am Montag zurück, dass er sich aufgrund seiner Anstrengungen deutlich verbessert hat, und freut sich mit ihm über seine Fortschritte bei der Gross-Kleinschreibung.

Am Donnerstag muss sie ein Diktat schreiben lassen und ihm zurückmelden, dass seine Leistung wieder ungenügend ist. Der Schüler ist verwirrt: «Eben hat sie noch gesagt, dass ich mir Mühe gebe und es gut mache, und jetzt bin ich doch wieder so schlecht.»

Die Lehrperson kommt in Erklärungsnot. Die Motivation, die sie am Montag sorgfältig aufgebaut hat, ist eine Woche später mit der schlechten Note wieder am Boden. Vielleicht hat der Schüler sogar ein Stück weit Vertrauen in die Lehrerin eingebüsst und denkt bei der nächsten positiven Rückmeldung: «Das sagt die nur, damit ich mitmache. Ich weiss genau, dass ich es nicht kann.»

Weshalb sich Noten und individuelle Förderung nicht vertragen…

In Diskussionen mit Lehrpersonen wird immer wieder derselbe Konflikt deutlich: Heute lernen Lehrpersonen in ihrer Ausbildung, dass sie Vielfalt zulassen und Kinder individuell fördern sollen.

Notengebung und Prüfungen stammen jedoch aus einer Zeit, in der es darum ging, dass alle im Gleichschritt marschieren. Die einzelne Lehrperson muss nun diesen Widerspruch im Alltag auflösen. Beispielsweise, indem sie unter die schlechte Note einen aufmunternden Kommentar schreibt, einen «Bravo-Sticker» draufklebt, nach einer Abklärung die Lernziele anpasst oder durch einen Nachteilsausgleich versucht, dem Kind bei der Prüfung entgegenzukommen. Das alles frisst Zeit und Ressourcen, die wahrscheinlich anderweitig besser investiert wären.

«Aber ohne Noten wissen Schüler doch gar nicht, wo sie stehen!»

Eine Note leistet sehr wenig: Sie teilt Schülerinnen und Schüler ein in gut, mittel, schlecht. Sie gibt kaum Auskunft darüber, was jemand bereits gut kann, was ihm noch nicht gelingt und was er tun kann, um die nächste Lücke zu schliessen. Die schwachen Schüler/innen interpretieren ungenügende Noten meist als Beweis, dass sie es «eh nicht können», und stellen ihre Bemühungen ein. Die starken Schüler/innen bekommen ihre guten Noten meist ohne viel Anstrengung. Sie können viel, aber sie lernen wenig dazu.

Viele Lehrpersonen versuchen dieses Problem durch sehr detaillierte Korrekturen zu lösen. Aber was interessiert Schülerinnen und Schüler, wenn sie die Prüfung zurückerhalten? Die Note. Der Rest wird kaum angeschaut und fast nie als Anlass gesehen, selbständig eine Lücke oder Unverstandenes aufzuarbeiten.

Damit Lernende wirklich wissen, wo sie stehen, brauchen sie das, was der Bildungsforscher John Hattie unter formativem Feedback versteht: Schüler und Lehrperson ergründen gemeinsam, was das Ziel ist, welche Fortschritte bereits gemacht wurden, was der nächste Schritt ist und wie man dorthinkommt.

Durch Feedback erfahren Schüler, dass sich ihre Bemühungen auszahlen und Fortschritte möglich sind.

Nur auf diese Weise macht es für alle Lernenden Sinn, sich anzustrengen. Nur so können sie erfahren, dass sich ihre Bemühungen auch auszahlen und Fortschritte möglich sind. Genau diese Erfahrung bildet die Grundlage für Selbstwirksamkeit.

«Du hast es nicht verstanden – und jetzt gehen wir weiter!»

Wir müssen uns entscheiden, ob wir eine Schule wollen, in der es vorwiegend um das Lernen geht oder um das Einteilen.

Wenn wir möchten, dass Schülerinnen und Schüler möglichst viel lernen, sollte Feedback in erster Linie darauf ausgerichtet sein, Verbesserungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Prüfungen werden jedoch meist am Ende eines Themas angesetzt, um eine abschliessende Beurteilung vorzunehmen. Dem Schüler mit der ungenügenden Note wird damit quasi gesagt: «Du hast das Thema nicht verstanden – und jetzt gehen wir weiter.» Wenn es sich dabei um ein Thema wie «die Römer» handelt, klafft halt einfach eine Lücke in der Allgemeinbildung. Hat er «die Grundlagen der Algebra» nicht verstanden, lässt sich gleich voraussagen, dass er in den nächsten Mathematikprüfungen ebenfalls schlecht abschneiden wird.

«Aber wir müssen Kinder doch auch auf das echte Leben vorbereiten!»

Individuelles Feedback ist nicht – wie so viele meinen – automatisch Kuschelpädagogik. Vielmehr nimmt es jeden einzelnen Lernenden in die Verantwortung. Von jedem wird erwartet, dass er sich einem Lernziel verpflichtet und Schritte unternimmt, um diesem Ziel näherzukommen. Aber jeder kann die Erfahrung machen, dass er lernen kann und sich Hürden überwinden lassen. Wer – um beim Beispiel zu bleiben – die Grundlagen der Algebra nicht beherrscht, darf nochmals üben, anstatt stecken zu bleiben. Und wer es mühelos meistert, darf sich an einer grösseren Herausforderung versuchen.

Im Zusammenhang mit Noten höre ich von Eltern immer wieder den Satz, dass Kinder doch auch lernen müssten, mit Konkurrenz und Wettbewerb umzugehen, und die Schule sie auf das echte Leben vorbereiten soll.

Studien zeigen, dass Kinder in kooperativen Lernformen mehr lernen als in kompetitiven.

Mit dem letzten Teil bin ich einverstanden. Die Schule sollte die Kinder auf die Berufswelt vorbereiten. Dort sind heute Teamwork, Flexibilität, bunte Kompetenzprofile, Kreativität und eigenständiges Denken gefragt und nicht Konkurrenzdenken und Statusgerangel. Die Vorstellung, dass Noten für ein Wettbewerbsklima sorgen, das das Lernen beflügelt, lässt sich nicht halten. Studien zeigen, dass Kinder in kooperativen Lernformen mehr lernen als in kompetitiven. Nicht nur, was ihre sozialen Kompetenzen anbelangt, sondern tatsächlich auch bezüglich Leistung und Wissenszuwachs.

Zudem: Wer wird denn im Berufsleben noch benotet? Würde uns der Chef einmal pro Jahr ein Notenblatt austeilen und uns anschliessend zurück an die Arbeit schicken, würden wir höchstens komisch gucken. Stattdessen erwarten wir von einem guten Chef doch genau das, was so viele Lehrpersonen heute gerne machen würden: Dass er sich Zeit nimmt für eine klare, persönliche Rückmeldung, in der wir erfahren, wo unsere Stärken liegen, wie wir uns in der letzten Zeit entwickelt haben, wie wir zum Team beigetragen haben und wo unsere Entwicklungsmöglichkeiten liegen. Genau mit diesen Informationen zu meinem Sohn kam ich aus dem ersten Elterngespräch.


Über den Autor:

Fabian Grolimund ist Psychologe und Buchautor («Mit Kindern lernen», «Vom Aufschieber zum Lernprofi»). Gemeinsam mit Stefanie Rietzler leitet er die Akademie für Lerncoaching in Zürich. Der 40-Jährige ist verheiratet und Vater eines Sohnes, 7, und einer Tochter, 5. Er lebt mit seiner Familie in Fribourg. Die besten dieser Kolumnen finden Sie im neuen Buch «Geborgen, mutig, frei – wie Kinder zu innerer Stärke finden».
www.mit-kindern-lernen.ch, www.biber-blog.com

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