Die Leere nach den Likes - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Die Leere nach den Likes

Lesedauer: 4 Minuten

Soziale Netzwerke sind persönlicher als andere Netzangebote und darum stärker an Emotionen gekoppelt. Das hat auch negative Auswirkungen auf die Gefühlswelt der Jugendlichen, findet unser Kolumnist Thomas Feibel.

Es ist schwer, mit Kindern ein ernsthaftes Gespräch über soziale Netzwerke zu führen. Oftmals liegt das am mangelnden Grundverständnis von uns Eltern. Selbst wenn wir auf Facebook, Instagram oder Whatsapp aktiv sind, unterscheidet sich unsere Nutzung eklatant vom Medienverhalten unserer Kinder. Während wir Erwachsenen die Ich-Findung weitgehend abgeschlossen haben, befinden sich Kinder und Jugendliche in der Orientierungsphase. Sie nutzen soziale Medien als Instrument, um sich und ihre Wirkung auf andere auszuprobieren. Aus diesem Grund fühlen sich Heranwachsende häufig unverstanden, sobald wir sie auf etwaige Gefahren sozialer Medien hinweisen wollen. 

Wenn es um Netzthemen geht, halten sie uns ohnehin für völlig ahnungslos und sich selbst für die Experten. Das kränkt uns Eltern natürlich. Andererseits spüren Kinder und Jugendliche die Macht der Eltern und die Gefahr eines Verbots. Diese unterschiedlichen Positionen machen Gespräche sehr diffizil. Dennoch müssen sie stattfinden, da soziale Netzwerke nicht nur Gefahren bergen, sondern auch grosse Auswirkungen auf die Gemütslage der Kinder haben. 

Permanenter Drang nach Bestätigung übers Handy

Durch soziale Netzwerke bauen sich Kinder und Jugendliche eine eigene Präsenz im Netz auf und erschaffen damit eine Sichtbarkeit für ihre Person. Es bedarf schon eines gewissen Mutes, sich der Öffentlichkeit zu stellen – selbst wenn deren Dimension den Kindern meist gar nicht bewusst ist. Anfangs findet diese Selbstdarstellung noch zaghaft statt. Aber mit der einhergehenden unmittelbaren Anerkennung in Form von Likes, Herzchen und lobenden Kommentaren steigt bald die Beherztheit zur Selbstinszenierung: mal hübsch, mal nachdenklich, mal lasziv mit Zigarette oder ausgelassen. Wegen der Teilnahme von Freunden und Bekannten sind soziale Netzwerke viel persönlicher als andere Angebote im Netz und dadurch näher an die eigenen Emotionen gekoppelt.

Sobald die Zustimmung in sozialen Netzwerken fehlt, wird der stärkste Begleiter der Adoleszenz genährt: der Selbstzweifel.

Die Anerkennung aus dem Freundeskreis tut gut. Sie findet öffentlich statt, also für alle sichtbar, und kann mitunter das Selbstbewusstsein stärken. Bedingt durch Teilhabe und Bewunderung im Netz trauen sich manche Jugendliche auch im echten Leben mehr. Etwa einen Sprung von einem Felsen in den See – doch nur, wenn jemand mitfilmt, um es zu posten. Die Belohnungen über das Netz sorgen im Gehirn für die Ausschüttung von Glückshormonen. Deshalb greift der Nachwuchs permanent zum Smartphone, um dieses Glücksgefühl zu verstetigen.

Andererseits können diese Inszenierungen auf Dauer eine innere Leere hinterlassen. Bleiben wir beim Sprung in den See: Ist der Schwimmer nun stolz auf seinen Mut und seine Leistung oder etwa auf die Likes? Gibt es noch authentische Erlebnisse oder werden sie auf ihre Verwertbarkeit im Netz geprüft? Und ist es nicht höchst riskant, sein Selbstwertgefühl von Instagram-Freunden und Followern abhängig zu machen, die einem zum Teil völlig unbekannt sind? Keine schlechten Erfahrungen in sozialen Netzwerken zu machen, ist fast unmöglich. Nur sind solche Erfahrungen für Heranwachsende schwer zu ertragen. Oft bekommen wir noch nicht einmal mit, wenn sie etwa auf Instagram von Fremden mit eindeutig sexuellen Bemerkungen belästigt werden. Auch die klassische Fehleinschätzung sorgt für schlechte Gefühle: Das als witzig eingestufte Foto löst bei anderen vielleicht nur Hohn und Spott aus. Die entsprechenden Kommentare wachsen sich dann zu handfestem Mobbing aus.

Konflikte mit Eltern, Schlafmangel und verletzte Gefühle

Soziale Netzwerke kosten zudem sehr viel Zeit, die andernorts fehlt, was zu Konflikten führt, etwa wegen der nicht erledigten Hausaufgaben. Viele Mädchen und Jungen schlafen deutlich weniger, weil das Smartphone als ständig bereite Glücksmaschine auch nachts in Griffnähe ist. Doch am meisten verletzt es Kinder und Jugendliche, wenn die Anerkennung ausbleibt oder die Zahl der Likes nicht den eigenen Erwartungen entspricht: Bekommt der beste Freund/die beste Freundin für manches Bild mehr Likes als ich? Sind andere hübscher? Können mich andere nicht mehr leiden? Das macht Druck. Sobald die Zustimmung in sozialen Netzwerken fehlt, wird der stärkste Begleiter der Adoleszenz genährt: der Selbstzweifel.

Inszenierungen in sozialen Medien müssen durchschaut werden

Vom Aufkeimen der Pubertät bis zum Abklingen bleibt der Selbstzweifel fest an ihrer Seite. Wir Erwachsenen wissen, dass er niemals gänzlich verschwindet. Während der Pubertät jedoch kann der Selbstzweifel Trauer, Hilflosigkeit, Verzweiflung oder grosse Aggressionen auslösen. Wird getobt und geschrien, fühlen sich manche Eltern zurückgestossen. Dabei ist es gerade dann besonders wichtig, Kindern und Jugendlichen noch fester zur Seite zu stehen, damit sie lernen, mit dem Selbstzweifel umzugehen. Doch das ist leichter gesagt als getan. Denn in dieser Entwicklungsphase hilft die Anerkennung seitens der Eltern nicht mehr. Wir können unseren Kindern noch so oft versichern, dass wir sie hübsch, intelligent und mutig finden – es lädt sie nicht auf.

Die Bestätigung suchen sie im Freundes- und Bekanntenkreis. So wie wir das seinerzeit auch taten. Natürlich haben soziale Netzwerke diesen Vorgang vereinfacht. So kann etwa ein Junge einem Mädchen online unauffällig folgen und dabei in Deckung bleiben. Es ist aber auch komplizierter geworden, weil Inszenierungen in sozialen Netzwerken durchschaut werden müssen. Und hier sind wir Eltern als besonnener Beistand gefragt, ohne uns ins Bockshorn jagen zu lassen. Denn fragen wir das betrübte Kind, was los sei, liefert es oft nur die Standardantwort: «Nichts.» Der Grund: Scham, Angst vor Unverständnis oder der Wunsch, alleine mit dem Problem fertig zu werden. Das ist die Situation, in der wir am Ball bleiben müssen, ohne zu bedrängen, damit das Nest zu Hause stärker ist als das Netz.


Das Wichtigste in Kürze

  • Akzeptieren, dass Kinder und Jugendliche einen anderen Nutzen aus sozialen Netzwerken ziehen als wir.
  • Mehr Verständnis für schlechte Gefühle wie Druck, Neid und Enttäuschung.
  • Es ist ratsam, den Vergleich zwischen echten Freunden und Netzfreunden zu ziehen.
  • Zu wenig Likes zehren am Selbstwertgefühl. Die Verkürzung auf «Likes sind nicht so wichtig» ist dabei nicht hilfreich, weil sie das Kind nicht ernst nimmt.
  • Wenn es für ein waghalsiges Foto 200 Likes gibt, wie weit müsste man gehen, um 300 Likes zu erhalten?
  • Kinder und Jugendliche müssen zur Ruhe kommen. Über Nacht kein Smartphone im Kinderzimmer. 

Zum Autor:

Thomas Feibel, 56, ist der führende Journalist zum Thema «Kinder und neue Medien» in
Deutschland. Der Medienexperte leitet das Büro für Kindermedien in Berlin, hält Lesungen und Vorträge, veranstaltet Workshops und Seminare.

Zuletzt erschien sein Elternratgeber «Jetzt pack doch mal das Handy weg» im Ullstein-Verlag. Feibel ist verheiratet und Vater von vier Kindern. 

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