Wenn Jugendliche an Selbstmord denken
Zwei bis drei Jugendliche mit Selbstmordgedanken rufen täglich bei der Notrufnummer 147 der Pro Juventute an. Das sind laut einer aktueller Mitteilung der Organisation rund 50 Prozent mehr als noch im Jahr 2011. Was treibt Jugendliche dazu, sich umzubringen? Und wie lassen sich Suizide vorbeugen? Antworten und Einschätzungen von Dr. Gregor Berger, Leiter zentraler Notfalldienst beim Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst des Kantons Zürich.
In der Schweiz leben etwa eine Million junge Menschen zwischen 15 und 24 Jahren. Mit der Pubertät, die heute zwei bis drei Jahre früher einsetzt als noch vor 100 Jahren, beginnt eine Phase der Veränderungen auf biologischer, psychologischer und sozialer Ebene. Immer mehr Adoleszente sind überfordert von den vielen Weichenstellungen in dieser Lebensphase wie etwa dem Einstieg in die Berufswelt, der Ablösung von zu Hause, dem Umgang mit Sexualität und der Entwicklung einer eigenen Identität.
Das Leben wird zur Sackgasse mit einem einzigen Notausgang – dem Suizid.
Auch Eltern sind mit den schulischen und sozialen Anforderungen, die an ihre heranwachsenden Kinder gestellt werden, häufig überfordert. Besonders alleinerziehende Eltern – eine Situation, die heute keine Ausnahme mehr ist – kommen nicht selten an ihre Grenzen. Die Suche nach ihrem Platz in dieser Gesellschaft, die immer komplexer wird, scheint für eine zunehmende Zahl von Jugendlichen eine Überforderung dazustellen. Besonders Heranwachsende mit wenig persönlichen oder familiären Ressourcen geraten daher nicht selten in eine Situation, in der sie überfordert sind und die im schlechtesten Fall in einem Suizid enden kann.
Depression und Suizid
Die Schwierigkeit bei jungen Menschen ist jedoch, dass sich das depressive Zustandsbild oft anders präsentiert als bei Erwachsenen, besonders bei männlichen Jugendlichen. Häufig ist es nicht die Trauer, die dominiert, sondern eher Gereiztheit, eingeengtes Denken, Antriebslosigkeit, sozialer Rückzug und eine erhöhte Bereitschaft, übermässige Risiken einzugehen. Depressive Jugendliche sprechen eher von einer «Nullbockstimmung», ziehen sich zurück, klagen darüber, sich nicht verstanden zu fühlen, sind aggressiver als sonst oder zeigen ein für die Betroffenen atypisches überbordendes Verhalten.
Verkannte Not
Es ist zwar nachvollziehbar, dass Betroffene oder deren Angehörige solche Probleme nicht zu früh psychiatrisieren möchten. Doch das Verkennen der unerträglichen Not von Jugendlichen in einer suizidalen Krise birgt grosse Gefahren.
Suizidgefährdete beschreiben den Zustand vor einer suizidalen Verhaltensweise u. a. als unerträglichen seelischen Schmerz und leiden sehr. Sie befinden sich folglich in einem Zustand von akutem Stress, sozusagen in einer das Denken und Fühlen einengenden Sackgasse mit einem einzigen Notausgang – dem Suizid. Die Türe dieses Notausgangs wird zu einem Zeitpunkt äusserster Not mit dem Wunsch geöffnet, das unerträgliche Leiden zu beenden, und nicht wie häufig angenommen mit dem Wunsch zu sterben.
Wohlüberlegter Suizid bei klarem Bewusstsein? Das kommt sehr selten vor.
Rausch als Risiko
Diese Spuren oder besser Narben bleiben ein Leben lang bestehen und erklären zumindest teilweise das massiv erhöhte Suizidrisiko nach einem Suizidversuch bzw. nach dem Durchleben dieses Modus, der in jeder suizidalen Krise erneut reaktiviert werden kann.
Hotspots und Schusswaffen
Doch nicht nur die Schusswaffen, auch nicht abgesicherte Brücken oder ungesicherte Bahngleise sind ein Problem. Die Suizidexperten sprechen hierbei von Hotspots. In Regionen, in denen diese abgesichert wurden, ging die Suizidrate zurück.
Überlebende eines schweren Suizidversuches, zum Beispiel eines Sprungs von der Golden Gate Bridge, sterben in 93 Prozent der Fälle nicht durch eine Wiederholung des schweren Suizidversuches und sind glücklich, gerettet worden zu sein. Daher ist es wichtig, sich dafür einzusetzen, dass der Zugang zu solchen Methoden des Suizides minimiert wird.
Eine psychische Erkrankung erhöht das Risiko, an einem Suizid zu sterben, etwa um den Faktor 10.
Dementsprechend ist es bei psychisch kranken Jugendlichen oder jungen Erwachsenen, besonders bei Männern, wichtig zu fragen, ob sie zu Hause Zugang zu Waffen haben, oder im Zweifelsfall entsprechende Massnahmen einzuleiten. Dabei genügt in aller Regel eine Gefährdungsmeldung durch eine Fachperson an die Polizei.
Persönlichkeitsfaktoren
Konkret darf nicht vergessen werden, dass bei Patienten mit einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung chronische Suizidalität ein häufiges Symptom ist. Und etwa 10 bis 15 Prozent dieser Patienten nehmen sich im Verlauf ihrer Erkrankung auch tatsächlich das Leben.
Schwierig ist, dass viele Adoleszente ähnliche Verhaltensweisen zeigen, die jedoch nicht bis ins Erwachsenenalter überdauern und daher schwer von der normalen adoleszentären Entwicklung abgegrenzt werden können. Nur ein Bruchteil der Betroffenen beansprucht tatsächlich professionelle Hilfe.
Dennoch ist es äusserst wichtig, dass auch bei Jugendlichen die zugrunde liegende Störung – sei es eine Depression, eine Angststörung, eine Psychose oder eine Suchterkrankung – erstens frühzeitig erkannt und zweitens mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln effektiv behandelt werden sollte, gegebenenfalls auch mit Medikamenten.
Die Not der Angehörigen
Möglichkeiten der Prävention und Hilfe
Präventionskampagnen können hilfreich sein
Bei über mehrere Tage nicht erklärbarer Veränderung im Verhalten eines Jugendlichen, unerklärbarer andauernder Gereiztheit oder sozialem Rückzug sollte dies ernst genommen werden und der Jugendliche oder junge Erwachsene motiviert werden, professionelle Hilfe anzunehmen. Dies, weil das Vorhandensein einer psychischen Erkrankung das Risiko, an einem Suizid zu sterben, etwa um den Faktor 10 erhöht. Wesentlich für Fachpersonen wie auch Angehörige und Bezugspersonen ist das direkte und offene Ansprechen bei einem Verdacht erhöhter Suizidalität.
Menschen in seelischer Not Raum und Zeit bieten
Suizidprävention und -hilfe ist ein komplexes Unterfangen. Zentral ist die Aufrechterhaltung oder Etablierung tragfähiger Beziehungen mit dem Betroffenen. Suizidversuche sollten immer ernst genommen werden, auch wenn diese im Rahmen von Persönlichkeitsstörungen oder von situationsbedingten Problemen auftreten. Die Früherkennung von psychischen Störungen wie Depression, Angst, manischdepressivem Kranksein oder psychotischen Erkrankungen wie der Schizophrenie sind im Zusammenhang mit der Suizidprävention von grosser Wichtigkeit.
Eine frühzeitige Erkennung und effektive Behandlung der zugrunde liegenden Probleme birgt die grösste Chance für eine Reduktion der Suizidhäufigkeit. Wenn jedoch Eltern oder Helfernetz merken, dass eine Beziehungsaufnahme immer schwieriger wird und der Betroffene sich zunehmend zurückzieht, ist es empfehlenswert, frühzeitig professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, gegebenenfalls als letzte Option auch die Einweisung in eine psychiatrische Klinik in Erwägung zu ziehen.
Risikofaktoren für einen Suizid
- Suizidversuch in der eigenen Vorgeschichte
- psychische Störungen wie z. B. Depressionen, die sich in Gereiztheit, eingeengtem Denken, Antriebslosigkeit, sozialem Rückzug und einer erhöhten Bereitschaft, übermässige Risiken einzugehen, oder auch Schlafstörungen äussern kann
- selbstverletzendes Verhalten
- Suiziddrohungen
- Drogenkonsum
- Hotspots: nicht abgesicherte Brücken oder ungesicherte Bahngleise
- Zugang zu Schusswaffen
Hier finden Betroffene und Angehörige Hilfe
- niederschwellige Angebote wie «Hilfe + Beratung 147» der Pro Juventute Schweiz, Tel. 147, «Die Dargebotene Hand», Tel. 143, oder der «Elternnotruf», Tel. 0848 35 45 55
- «Bündnis gegen Depression» (kantonal)
- Kriseninterventionszentren in Winterthur, Zürich, Basel, Bern und an weiteren Standorten
- Kinder- und Jugendpsychiatrischer Dienst (KJPD)
- Organisationen wie Trialog Schweiz, wo Betroffene, Angehörige und Experten zusammenkommen (u. a. durch Schulbesuche)
- private Anbieter wie z. B. die Krisenintervention Schweiz der Clienia Schlössli AG, die Betriebe und Schulen beraten, mit psychischen Krisen umzugehen