Wenn Papa trinkt

Bilder: Stephan Rappo / 13 Photo
In der Schweiz trinkt jede fünfte Person zu viel: Alkoholmissbrauch ist eine Volkskrankheit. Und ist ein Vater oder eine Mutter süchtig, leidet die ganze Familie. Beat Schaffner* war jahrelang alkoholkrank. Zusammen mit seiner Frau Margrit erzählt er, was die Sucht mit ihrer Familie gemacht hat – und wie sie die Krankheit überwinden konnten.
Beat ist trocken, und zwar schon seit mehr als zehn Jahren. Davor war er es nie. «Ich bin so geboren», sagt er. Beat konnte nie trinken, ohne sich zu betrinken, ohne die Kontrolle zu verlieren. Das erste Mal als Ministrant. Beat hat mit zwölf den Messwein probiert. Und ist dann die Kirchentreppe hinuntergestolpert. «Ich kann mich an das Gefühl noch gut erinnern», sagt er und lacht, «ich hatte gummige Knie.»

Keiner hat etwas gemerkt
Mit 25 schrieb Margrit ihre Diplomarbeit. Das Thema: Alkoholismus. Beat füllt heimlich einen der Fragebogen aus, die herumliegen. «Es hat mich einfach interessiert.» Das Ergebnis hat ihn erschüttert: «Sie sind Alkoholiker, suchen Sie sich Hilfe.»
Beat war kein Penner. War nie aggressiv. Beat war erfolgreicher Unternehmer, Familienvater, Kollege. So wirkte es für Aussenstehende. Die Familie wohnt in einer kleinen Gemeinde im Kanton Aargau. 7000 Einwohner, man kennt sich, kennt Beat wegen seines Unternehmens. Trotzdem: Gemerkt habe von seinen Problem keiner etwas, sagt das Paar. Bis heute gibt es Leute, die denken, sein Entzug sei völlig übertrieben gewesen. «Die denken, das bisschen Alkohol, deshalb bist du noch lange kein Alkoholiker. Aber das stimmt nicht», sagt Beat. «Es ist nicht die Menge, es ist der Kontrollverlust.» Sobald er ein Glas getrunken hatte, ging es los. Die guten Vorsätze waren weggespült. Am Schluss war er komplett betrunken, hat lautstark philosophiert, war der Grösste.
Als die Eltern Mitte 30 waren, musste die Familie erst einmal herausfinden, wer sie war, ohne den Alkohol.
Beat und Margrit waren nicht die verwahrloste Klischee-Alkoholiker-Familie – sie sind damit die Regel, nicht die Ausnahme. Der Alkoholismus ist eine Schweizer Volkskrankheit: Rund 250’000 Menschen sind hierzulande alkoholabhängig. Und jede fünfte Person trinkt Alkohol missbräuchlich: Zur falschen Zeit, zu viel, zu oft. Jeder zwölfte Todesfall in der Schweiz ist auf Alkohol zurückzuführen. Das sind Zahlen des Bundesamtes für Gesundheit aus dem Jahr 2016.
Die Kinder waren nicht mehr wichtig
Ein Sattelschlepper als Ausweg
Margrit stellt ihren Kaffee auf den Tisch und seufzt. Heute staunt sie über die eigene Vergangenheit. Sie sitzt im Wohnzimmer, schaut aus dem Fenster, Nebel. «Ich bin oft in der Wohnung gesessen und habe mich nicht getraut, hinauszugehen», erinnert sie sich. «Ich hatte Angst, dass sie mir die Kinder wegnehmen. Denn mit mir stimmte ja offenbar etwas nicht.» Nach Jahren voller Unsicherheiten war sie irgendwann davon überzeugt, psychisch krank zu sein.
Von ihrem Umfeld wurde Margrit damals die wütende Mutter, die überstrenge, diejenige, welche ihren Mann an die Kandare nimmt, welche die Familie auf Trab hält. Diejenige, mit der etwas nicht stimmte. Und das, obwohl sie solch einen Mann hat: Einen, der sie alles machen lässt, der so liebenswürdig ist, den sie gar nicht verdient hat. Margrit sagt: «Irgendwann hatte ich es so oft gehört, dass ich angefangen habe, es zu glauben: Ich bin krank, nicht der Beat.» Dass das typisch ist für die Frauen von Alkoholkranken, wusste sie damals nicht.
Irgendwann hatte es Margrit so oft gehört, dass sie es glaubte: Sie war krank, nicht ihr Mann.

Die Rettung – und eine neue Bedrohung
Beat wollte wieder etwas fühlen. «Noch in der selben Woche sind wir ans erste Treffen der anonymen Alkoholiker gegangen.» Und seither jede Woche. Trennung kam nicht in Frage. «Man liebt ja den Menschen dahinter», sagt Margrit. «Den, der er sein könnte. Er sieht den Menschen hinter meiner Depression und ich den hinter seinem Alkohol.»
«Man liebt den Menschen dahinter», sagt Margrit. «Den, der er sein könnte.»
Margrit: «Wir waren für die Kinder überhaupt nicht mehr berechenbar, wir haben als Familie nur noch geradeso funktioniert. Das war für uns sicher die traumatischste Phase.»
Dass er den Entzug zu Hause machte, vor Margrit und den Kindern, sieht Beat heute als grossen Fehler.
* Alle Namen von der Redaktion geändert.
Falco Meyer
Hier gibt es Hilfe
- Anonyme Alkoholiker: anonyme-alkoholiker.ch
Die Anonymen Alkoholiker sind eine Selbsthilfegruppe für Alkoholkranke. Sie steht allen offen. Die einzige Bedingung ist der Wunsch, mit dem Trinken aufzuhören. Ein erster Kontakt erfolgt über die 24-h-Hotline: 0848 848 885 oder per Mail an info@anonyme-alkoholiker.ch
- Al-Anon: www.al-anon.ch
Al-Anon dagegen ist für Angehörige und Freunde von Alkoholkranken. Al-Anon verfügt über ein 24-h-Hotline: 0848 848 843.
- Blaues Kreuz: www.blaueskreuz.ch
Das Blaue Kreuz ist eine Fachorganisation für Alkohol- und Suchtfragen. Es bietet kostenlose Beratung für Betroffene und Familienmitglieder an. In den meisten grösseren Städten der Deutschschweiz gibt es eine Sektion.
- Safezone: www.safezone.ch
Safezone ist eine Online-Beratung für Suchtfragen. Das Portal wird vom Bundesamt für Gesundheit in Zusammenarbeit mit kantonalen Fachstellen und Fachorganisationen betrieben. Hier können Betroffene und Angehörige auf verschiedene Arten Online zu einer Beratung kommen, zum Beispiel per Mail. Die Beratung ist anonym.
- Kantonale Stellen für Suchtberatung: suchtindex.infodrog.ch
Die meisten Kantone bieten eine eigene Suchtberatung an. Betroffene erhalten da eine kostenlose, persönliche Beratung. Über das Portal suchtindex.infodrog.ch können lokale Angebote schnell gefunden werden.
- Alcohol-Facts: www.alcohol-facts.ch
Auch über dieses Portal können lokale Beratungsstellen gefunden werden. Zudem bietet das Portal eine grosse Auswahl von Inhalten zum Umgang mit Alkohol an, darunter ein interaktives Quiz zum Thema.
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Suchtspezialistin Vanessa Brandestini rät dazu, einen übermässigen Alkoholkonsum mit dem betreffenden Familienmitglied direkt anzusprechen. Die Ansicht, das Problem in der Familie regeln zu müssen, könne jedoch fatal sein.
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