«Ich war stets für andere da»

Margrit, 75, erzog fünf eigene Kinder und gab weiteren ein Zuhause auf Zeit. Ihre Tochter Noémie, 45, arbeitet Vollzeit und wollte keine Kinder, bis Laurin, 3, sie überraschte.
Noémie: «Meine jüngsten Brüder kamen auf die Welt, als ich Teenager war. Ich half viel mit, ging auch auswärts babysitten. Ich wusste um den Aufwand, den Kinder bedeuten – und wollte unter anderem deshalb keine. Damit stiess ich, allerdings nicht bei meiner Mutter, auf Unverständnis. Doch ich schätzte, dass ich tun und lassen konnte, was ich wollte.»
Margrit: «Bis Laurin euch überraschte.»
Noémie: «Ich freute mich von Beginn weg auf ihn. Für mich war auch klar, dass ich wieder arbeiten gehen würde. Ich bin in einer Managementfunktion und führe 50 Mitarbeitende, das wollte ich auf keinen Fall aufgeben. Laurin kam zwei Monate zu früh auf die Welt, nach drei Wochen durfte er nach Hause. Ohne Mami wäre es schwierig gewesen. Sie war immer für uns da.»
«Es war immer etwas zu tun»
Margrit: «Ich betreue alle fünf Enkel wöchentlich. Bei meinem jüngsten Sohn, der mit 19 Vater wurde, anfangs intensiver. Ich griff dem jungen Paar unter die Arme, so gut es ging. Wenn ich heute sehe, was für einen Stress junge Mütter haben – in der Früh das Kind in die Kita bringen, dann zur Arbeit hetzen –, bin ich froh, dass ich es einfacher hatte.»
Noémie: «Du hattest aber auch nicht zu wenig Arbeit!»
Margrit: «Mit fünf eigenen Kindern und Tageskindern, die zeitweise bei uns wohnten, war immer etwas zu tun. Ich verdiente als Tagesmutter dazu und betreute junge Frauen, die bei uns ihr Haushaltslehrjahr absolvierten. Aber ich musste nicht auswärts arbeiten.»
Mehr Kinder bedeuten nicht immer mehr Aufwand.
Margrit, 75
Noémie: «Den Verlust von Freiheit, den spürtest du als junge Mutter auch, nicht wahr?»
Margrit: «Natürlich. Und mit 43, unser Jüngster war jährig, fragte ich mich: Sind Kinder alles in meinem Leben? Ich begann eine vierjährige Ausbildung als Heiltherapeutin und machte mich selbständig. Das war wie ein Befreiungsschlag: endlich etwas für mich allein! Aber apropos: Mehr Kinder bedeuten nicht immer mehr Aufwand. Meine Kinder hatten einander zum Spielen.»
Immer in der Fürsorgerolle
Noémie: «Ein Kind allein fordert unglaublich viel Präsenz und ungeteilte Aufmerksamkeit. Das ist manchmal streng. Irgendwann wird Bauklötzestapeln oder Puzzeln auch langweilig. Anfangs versuchte sich mein Partner als Hausmann, aber ihm wurde die Rolle zu einseitig. Das verstehe ich total.»
Margrit: «Neulich fragte mich eine Freundin: Wenn du in deinem Leben noch mal was Neues machen könntest, etwas ganz für dich allein, was wäre das? Ich dachte lange nach, mir fiel nichts ein. Ich merke, wie stark mich das geprägt hat – stets für andere da sein, immer in der Fürsorgerolle. Ich weiss nicht mal mehr, worauf ich sonst Lust hätte. Das beelendet mich etwas.»
Als Vollzeit berufstätige Mutter wirst du oft als Exotin betrachtet.
Noémie, 45
Noémie: «Vielleicht bist du auch deshalb für andere da, weil es durchaus eine Leidenschaft von dir ist?»
Margrit: «Es liegt mir schon am Herzen, ja. Was ich zum Muttersein noch sagen wollte: Da sind, glaube ich, die Anforderungen gestiegen. Man stellt die Kinder auf ein Podest und auch ihre Mütter sollen in allem perfekt sein.»
Noémie: «Als Vollzeit berufstätige Mutter wirst du oft als Exotin betrachtet, fast wie ein Alien, weil du nicht ständig beim Kind sein willst. Das stört mich nicht weiter, der Mental Load hingegen sehr. All diese zusätzlichen Aufgaben, für die es weder Geld noch Anerkennung gibt. Warum liegen sie immer bei den Frauen? Bei uns bin auch ich es, die den Menüplan schreibt, die Familienagenda koordiniert, Windeln bestellt und daran denkt, dass der Kleine bald grössere Kleider braucht. Wäre mein Freund dafür zuständig, würde das Chaos ausbrechen.»