Keine Angst vor der Oberstufe - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Keine Angst vor der Oberstufe

Lesedauer: 3 Minuten

8 Jugendliche, drei Leistungsniveaus, ein Ziel: gemeinsam durch die Oberstufe. Für die Lehrperson ist das eine Herkulesaufgabe, für die Schülerinnen und Schüler eine ­Geduldsprobe. Wie eine Oberstufe im Kinderdorf Pestalozzi das Thema Ausgrenzung angeht.

Zeig mir deine Noten und ich sag dir, in welcher Klasse du bist. Der ­Leistungsdruck in der Sekundarschule belastet viele Jugendliche. Auch für Eltern ist der Übertritt in die Oberstufe mit vielen Unsicherheiten verbunden. Wird mein Kind es schaffen? Wird es Anschluss finden?

Die Lehrpersonen andererseits stehen vor der schwierigen Aufgabe, das Bündel an unterschiedlichen Bedürfnissen zusammenzuhalten und möglichst allen Schülerinnen und Schülern gerecht zu werden. Dies ist besonders herausfordernd, wenn sich eine Klasse aus unterschiedlichen Leistungsniveaus zusammensetzt, was die soziale Dynamik innerhalb des Klassenverbundes stark beeinflussen kann.

Ein Oberstufenschulhaus aus dem Zürcher Oberland wollte diese Herausforderung zum ersten Mal proaktiv angehen. Mit allen sechs ersten Oberstufenklassen reiste sie für eine Projektwoche nach Trogen ins Kinderdorf Pestalozzi, um die verschiedenen Aspekte des fried­lichen Zusammenlebens zu thematisieren und ein Zeichen gegen Ausgrenzung im Schulalltag zu setzen. Unter den sechs Klassen polarisierte die heterogene ABC-Klasse aufgrund ihrer Struktur am stärksten. Die Klasse vereint als einzige drei unterschiedliche Anforderungs­stufen: A, B und C, wobei A die anspruchsvollste ist.

Begegnung durch gemeinsame Erlebnisse

Dass die Unterschiede gross waren, merkte auch die Kinderdorf-Pädagogin Natalie Friedrich rasch: «Das Spektrum reichte von jenen, die sehr gut zuhören und Aufträge rasch erfüllen konnten, bis hin zum Schüler mit kognitiver Beeinträchtigung.» Friedrich konnte jedoch dank der flexiblen Projektstruktur das Programm anpassen und so gezielt auf die Bedürfnisse der Klasse eingehen. Gemeinsam mit der Klassenlehrerin legte sie den Fokus auf das gegenseitige Kennenlernen und die Gruppenarbeit.

Zum Zeitpunkt der Projektwoche kannte sich die Klasse gerade mal vier Wochen. Wie gelingt es, dass zwischen der Lehrerin und ihren Schülerinnen und Schülern ein vertrauensvolles Band entsteht und sie gemeinsam eine schöne Zeit haben können? 

Verschiedene Bedürfnisse

Zu Beginn ist die Stimmung oft angespannt. Die Schwächeren nervt es, dass die anderen die ganze Zeit alles besser wissen. Die Stärkeren wünschen sich mehr Ruhe und ­wollen fokussiert arbeiten. Komplett verschiedene Bedürfnisse, die es unter einen Hut zu bringen gilt. Natalie Friedrich arbeitet mit Übungen, bei denen die Kinder aktiv sind und nicht nur zuhören müssen. «Viele Menschen können sich besser auf etwas Neues einlassen, wenn sie denken und gleichzeitig etwas mit den Händen machen können.»

Die Schülerinnen und Schüler haben sich beispielsweise mit ihrer eigenen Identität auseinandergesetzt und ihre Erkenntnisse und Gedanken mit Textilmarkern auf T-Shirts gemalt. Als Klasse haben sie dann beschlossen, ihre Identitäts-Shirts zur abendlichen Disco zu tragen. «Das war natürlich cool, da sie so nicht nur sich selber, sondern auch die Klasse als Ganzes repräsentiert haben.»

Ein anderes Beispiel dafür, wie ein übergreifendes Programm auf die Bedürfnisse einer Gruppe heruntergebrochen werden kann, ist das Thema Reflexion. Da sich ein Teil der Klasse schwer damit tat, das eigene Denken, Fühlen und Handeln zu hinterfragen, entwickelten sie im Kurs Steckbriefe. Darin konnten die Schülerinnen und Schüler ihre Gefühle in vorformulierte Sätze einordnen: Was macht sie glücklich? Und was lösen negative Gefühle in ihnen aus? Persönliche Informationen, die sie später innerhalb der Klasse teilten, um sich besser kennenzulernen. «Wie sollen sie miteinander arbeiten, wenn sie die Grenzen der anderen nicht kennen, geschweige denn wissen, wie sie darauf reagieren sollen?», gibt Natalie Friedrich zu bedenken.

Miteinander in Beziehung treten

Schulalltag oft die Zeit. Der Leistungsdruck ist hoch, und auch der Lehrplan will eingehalten werden. Die nonformale Projektarbeit im Kinderdorf steht ergänzend dazu und bietet die Möglichkeit, unter professioneller Anleitung von Päda­gogen intensiv und ohne Zeitdruck im Klassenverbund zu arbeiten.

So werden Themen wie Ausgrenzung oder Integration mit den Schülerinnen und Schülern durchgespielt. In verschiedenen Übungen können sie selber erfahren, wie sich Ausgrenzung anfühlt oder was es mit ihnen macht, wenn sie diskriminiert ­werden. Was in diesen Erfahrungsübungen passiert, verändere sehr viel im Verhalten der Jugendlichen im Umgang miteinander, erklärt Natalie Friedrich.

Die Lehrerin der gemischten Sekundarklasse aus dem Zürcher Oberland sieht die Stärke des Projekts vor allem darin, schwierige Themen spielerisch anzugehen und die Handlungsweisen der Jugend­lichen über Emotionen anzusprechen. Die vier Tage im Kinderdorf Pestalozzi haben für sie zu spürbaren Veränderungen geführt. «Ein Schüler, der sich vor dem Lager nicht wohlfühlte, konnte sich während der Projektwoche als Teil der Klasse erleben und ist seither viel besser integriert.»


Wie kann eine Schulklasse als Gemeinschaft zusammenwachsen?

  • Wenn im Unterricht alle Schülerinnen und Schüler gleich und gleichberechtigt agieren dürfen.
  • Wenn Störungen angesprochen werden und eine Kultur herrscht, in der alle wissen, dass sie reden dürfen, und sich dies auch trauen.
  • Wenn für die Klasse wichtige Dinge thematisiert werden und jeder und jede sich äussern darf.
  • Wenn man einander empathisch zuhört und das Gehörte nicht beurteilt.
  • Wenn nicht nur die Klasse, sondern die Schule als Ganzes Prinzipien aufstellt, die als Regeln für alle gelten und stark präsent sind.
  • Wenn gemeinsame Erlebnisse geschaffen werden. Denn egal wie verfeindet oder befreundet man ist, während der gemeinsamen Zeit kann man vergessen und Neues kreieren.

Christian Possa ist Fachperson Kommunikation bei der Stiftung Kinderdorf Pestalozzi.
Christian Possa ist Fachperson Kommunikation bei der Stiftung Kinderdorf Pestalozzi.


Über die Stiftung Kinderdorf Pestalozzi

Die Stiftung Kinderdorf Pestalozzi ist ein international tätiges Kinderhilfswerk. Seit 1946 stehen Kinder und Jugendliche im Mittelpunkt ihrer Tätigkeit. Das Kinderdorf in Trogen ist ein Ort der Friedensbildung, an dem Kinder aus der Schweiz und dem Ausland im Austausch lernen, mit kulturellen und sozialen Unterschieden umzugehen. In zwölf Ländern ermöglicht die Stiftung benachteiligten Kindern Zugang zu qualitativ guter Bildung.
www.pestalozzi.ch