«Ist ein Baum traurig, wenn er seine Blätter verliert?»
Bilder: Ulrike Schacht
Hat ein Salat Angst? Können Steine weise sein? Wie lange dauert die Ewigkeit? Ein Gespräch mit der Kinderphilosophin Kristina Calvert über die einfachen und komplizierten Dinge des Alltags, warum das laute Nachdenken jedem guttut und wie Eltern mit ihren Kindern ins Philosophieren kommen.
Die Kinder kichern. Kristina Calvert hatte in die Runde gefragt: «Philosophieren, was ist das?» Niemand weiss eine Antwort.
«Okay», sagt Kristina Calvert, «schauen wir uns das Wort mal genau an und zerlegen es. Welche Silben haben wir dann?» «Phil, oso, phier, ren», kommt es von den Kindern. «Prima. Was fällt euch dazu ein?» «Es gibt vier Jahreszeiten!», sagt Leah. «Rennen!», ruft Felix. «Aha, interessant», sagt Kristina Calvert. «Ich kenne da einen, der ist zwar nicht gerannt, aber mit seinen Schülern spazieren gegangen. Das war der Philosoph Aristoteles. Philosoph, das kommt uns bekannt vor, oder? Es steckt auch im Wort Philosophieren. Wisst ihr, was Philosoph bedeutet? Ein Freund der Weisheit.» Sie nimmt einen weissen Plüschpudel und zeigt ihn den Kindern. «Das ist Hubert. Er hat ein weisses Fell. Kann er deshalb weise sein?» «Ja natürlich», sagt Leah. «Spannend», sagt Kristina Calvert, «erzähl mal, wie man das feststellen könnte.»
Nicht jede Forscherfrage ist eine philosophisch relevante Frage.
Kristina Calvert
Frau Calvert, Kinder stellen ja generell viele Fragen, philosophieren sie also schon so ganz nebenbei?
Das kann man so nicht verallgemeinern. Nicht jede Forscherfrage ist gleich eine philosophisch relevante Frage. Will ein Kind wissen, warum die Blätter am Baum im Herbst braun werden, ist das eine reine Naturfrage. Fragt es sich aber, ob der Baum traurig ist, wenn er seine Blätter verliert, dann kann das der Anfang für eine wunderbare kleine Philosophiestunde sein.
Wie bringen Sie Kinder zum Philosophieren?
Das ist gar nicht so schwierig. Ich bringe ein philosophisch relevantes Thema in die Runde ein, gebe also den ersten Impuls. Neulich habe ich gefragt: Wie kann ich werden, was ich bin? Wir kamen sehr schnell auf das Wort «möglich», was alles möglich ist für einen selbst. Die Kinder versuchen dann, das im Gespräch weiterzubearbeiten, während ich mich auf eine beobachtende und moderierende Position zurückziehe. Beim Philosophieren können die Kinder selber denken, miteinander denken und weiterdenken.
Ich vergleiche das Philosophieren mit der Arbeit eines Detektivs.
Das klingt nach viel Kopfarbeit.
Die Kinder finden das spannend und aufregend. Da kommen die interessantesten Vorschläge. Neulich haben die Kinder in der Gruppe entdeckt, dass bei «möglich» ja ein «ich» hinter «mög», von «mögen», steht, also sind Dinge möglich, die ich mag. So hatte ich das noch nie gesehen. Ich vergleiche das Philosophieren immer mit der Arbeit eines Detektivs, der die Welt genau unter die Lupe nimmt und versucht, sich Sachen logisch zu erklären. Da gehen die Augen auf bei den Kindern, wenn ich das erzähle.
Ist Philosophieren auch anstrengend?
Wenn Kinder sich in einem Leistungssystem befinden, in dem ihnen ganz genau gesagt wird, was sie tun müssen und wie die Dinge funktionieren, dann ist der Prozess des Selberdenkens für sie eine regelrechte Erschütterung. Sie, die sonst nicht gross nachdenken müssen, sollen plötzlich etwas selber generieren. Es ist anstrengend, wenn man nicht daran gewöhnt ist, sich selbst zu befragen. Da stehen viele Kinder erst einmal da und sagen etwas, von dem sie denken, dass ich das von ihnen erwarte.
Wie reagieren Sie dann?
Ich sage ihnen, dass die Welt nicht aus Antworten besteht, sondern aus Fragen und Theorien. Das müssen Kinder auszuhalten lernen.
Wie sehr lenken Sie das Denken der Kinder?
Gar nicht. Ich lasse mich darauf ein, was die Kinder als Schwerpunkt entwickeln, und registriere, welche Richtung das Gespräch nimmt. Der Moderator oder die Moderatorin muss sehr gut zuhören können und das, was die Kinder sagen, aufeinander beziehen und verdichten können, ohne das eigene Konzept aufzudrängen. Das kann man lernen. Man kommt dadurch ganz anders an ein Kind heran.
Was glaubst du: Kann ein Fussboden auch ohne Gehirn weise sein?
Kristina Calvert
Inwiefern?
Über das Philosophieren erfahre ich, wie ein Kind die Welt sieht. So haben wir mal mit Karten gearbeitet, auf denen das Universum zu sehen ist. Ein Junge legte eine Karte mit einem Himmelbild bei Tag an ein Himmelbild bei Nacht. Klar, dachte ich, das passt, Himmel bei Tag und Nacht. Er aber erklärte, dass er, wenn er nachts Angst habe, sich immer schon auf den nächsten hellen Tag freue. In meinem Kopf habe ich ständig ein grosses «Ah, na so etwas, das ist ja interessant», das ich den Ideen der Kinder entgegenbringe. Wenn wir etwa darüber sprechen, was weise ist, und ein Kind sagt, dafür brauche man ein Gehirn, ein anderes vorschlägt, auch ein Fussboden könne weise sei, dann wird das nicht ein fach abgelehnt mit dem Hinweis darauf, dass der Fussboden kein Gehirn hat. Stattdessen frage ich: Was glaubst du, kann ein Fussboden auch ohne Gehirn weise sein?
Welche Themen besprechen Sie denn mit Kindern?
Ich orientiere mich dabei an den vier Fragen, mit denen Kant die Philosophie definiert: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch? Ich stelle den Kindern auch sehr abstrakte Fragen wie «Was ist Glück?». So etwas interessiert schon die ganz Kleinen. Die Jüngsten, mit denen ich philosophiere, sind viereinhalb Jahre alt. Die beschäftigen sich zum Beispiel auch gerne mit der Frage nach dem Tod und dem, was nach dem Tod kommt. Ähnlich interessante Themen sind Angst, Mut oder Tapferkeit.
Ist das nicht ein bisschen schwere Kost?
Das sind die Fragen, die die Kinder interessieren. Darüber denkt ein Kind im Alter von fünf, sechs Jahren nach. Und wenn es niemanden hat, der mit ihm gemeinsam darüber nachdenkt, dann belässt man es in einem engen Raum. Philosophieren ermöglicht es dem Kind, da ein Stück weit herauszukommen und sich aus- zudrücken. Philosophieren hilft ihm, mündig zu werden und die Welt zu verstehen. Es stellt fest, was es alles kann, wenn es alles, was es im Kopf hat, einsetzen und entwickeln kann.
Wirkt das Philosophieren auch über Ihre Philosophiestunde hinaus?
Auf jeden Fall. Ich möchte die Kinder ein Stück weit erschüttern in dem, was sie als vermeintlich sicher annehmen. Es ist ungeheuer wichtig, dass die Personen, die sich mit Bildung beschäftigen, nicht einfach Traditionswissen an die Kinder her- antragen. Sie sollten ihnen stattdessen lieber Sicherheit in Beziehungen geben, sodass sich ein Kind traut, Fragen zu stellen und Wege zu finden, diese Fragen für sich fruchtbar zu machen.
Philosophieren hilft Kindern, die Welt zu verstehen.
Kann man auch ohne Ausbildung mit Kindern philosophieren?
Unbedingt! Fangen Sie mit einmal die Woche für zehn Minuten an. Eine grosse offene Frage als Impuls formulieren und sich dann aufs Zuhören einstellen. Gut ist es auch, ein Phänomen und gleich eine Frage mitzunehmen. Zum Beispiel einen Stein hinzulegen und zu fragen: Können Steine glücklich sein? Als Thema eignet sich alles aus der Welt der Kinder. Hast du manchmal Mit leid mit deinem Essen? Mit dem Kaugummi? Dem Salat?
Hören Sie zu, fragen Sie nach, lassen Sie Ihrem Kind Zeit!
Kristina Calvert
Und wenn die Kinder dann sagen, der Salat hat Angst?
Dann sage ich: «Aha, das ist ja interessant. Könntest du mir das beweisen? Woran erkennst du, dass der Salat Angst hat? Ist das wie bei dir? Woran merkst du, dass du Angst hast?» Ich gebe den Kindern ein paar stützende Fragen, die sie ins logische Argumentieren reinbringen. Ich arbeite viel mit Erziehern und weiss, wie schwierig es für sie ist, eine Situation so stehen zu lassen und keine Antworten zu geben und zum Beispiel zu sagen: «Nein, ein Salat hat keine Angst, weil Gemüse keine Gefühle hat.» Alle Gedanken, die von den Kindern eingebracht werden, sind hier nicht überflüssig, sondern wesentlich. Das ist der Kern des Philosophierens.
Philosophieren mit Kindern – 9 Tipps für Eltern
- Hören Sie zu, offen, ohne mit den Gedanken schon weiter und bei Ihrer Idee zu sein.
- Fragen Sie nach: «Aha, erzähl mal, wie meinst du das genau? Wie stellst du dir das vor?»
- Verwenden Sie die Sprache und Begriffe, die Ihr Kind benutzt. Formulieren Sie damit Ihre Nachfragen.
- Stellen Sie die Fragen so, dass Ihr Kind sie nicht mit Ja oder Nein beantworten kann, sondern spekulieren, nachdenken muss und seiner Fantasie freien Lauf lassen kann.
- Widerstehen Sie der Versuchung, Antworten zu geben. Gerade am Anfang kommen die Kinder immer wieder und sagen: «Jetzt sag mir mal, wie es ist.» Sagen Sie dann: «Es geht nicht darum, wie ich das sehe, sondern wie du das siehst.»
- Geben Sie Ihrem Kind Zeit, um seine Antworten zu finden und zu formulieren.
- Nutzen Sie die kleinen Gelegenheiten zwischendurch zum Philosophieren: auf dem Weg zur Schule, beim Abendessen oder Frühstück. Oft genügen ein paar Minuten.
- Philosophieren Sie auch über schwierigere Themen. Wenn Sie zum Beispiel merken,dass Ihr Kind besonders ängstlich ist. Dann reden Sie aber nicht über die Angst, sondern besorgen sich ein Buch über Mut und kommen darüber ins Gespräch.
- Haben Sie beide Spass dabei!
Buchtipps:
- Kristina Calvert, Petra Schreiber: Selbstkompetenz stärken mit dem Bilderbuch «ich» von Philip Wächter. 40 Projektideen für die Kita. Beltz, 2015, 64 Seiten, Fr. 21.90
- Kristina Calvert: 48 Bildkarten zum Philosophieren mit Kindern. Mit 48-seitigem Booklet. Beltz, 2015, Fr. 39.90
- Kristina Calvert und Eva Muggenthaler: Lügen Ameisen eigentlich? Ein Bilderbuch zum Weitermalen und Philosophieren mit Kindern. Aracari, 2014, 40 Seiten, Fr. 23.90
- Kristina Calvert und Sabine Dittmer: Wolkenbilder und Möwendreck. 16 Geschichten und 16 Bilder zum Philosophieren mit Kindern. Aracari, 2011, 44 Seiten, Fr. 23.90