Die Pandemie des Misstrauens - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Die Pandemie des Misstrauens

Lesedauer: 4 Minuten

Der Umgang mit Verschwörungstheorien im eigenen Familienumfeld fordert viele Menschen heraus. Ben Schuster von der Internationale Gesellschaft für Beziehungskompetenz (IGfB) über seinen Umgang mit Skeptikern im engen Umfeld.

Bing! Eine neue Nachricht im Familienchat. Schaut schon wieder nach einem Video aus. Ich habe diese Videos satt! Diese Kurzfilme, die vorgeben, Antworten zu kennen, oder davor warnen, was noch alles kommen wird. Ich will das Video ignorieren. Aber meine Neugierde siegt. Es kommt doch von meiner Familie. Ich klicke und schaue. Ich habe mich geirrt. Schon wieder! Ein weiteres Video, das die Wahrheit hinter der US-Wahl kennt: von Geheimbünden ist die Rede; Trump als Retter und Biden als Kinderschänder. Auch Corona, die Gefährlichkeit des Virus‘ oder der Impfung sind beliebte Themen im Familienchat. 

Es macht mich so wütend! Wie kann sich jemand diesen Unsinn ansehen? Und noch dazu jemand aus meiner Familie? Ich fange an zu tippen. Ich bin bereit zu streiten – kompromisslos und ungeschönt! Aber kurz bevor ich auf Senden drücke, halte ich mich zurück. Lange genug, um zu überlegen, ob es hilfreich ist. Lange genug, um zu entscheiden, die Nachricht später zu senden. Vielleicht mit etwas weniger Aggression.

Eine Pandemie des Misstrauens

Verschwörungstheorien gibt es seit Jahrhunderten. Sie nehmen tendenziell zu, wenn Unsicherheit, Angst und Frustration gross sind. In den 1920er Jahren kursierten Theorien, dass die Spanische Grippe durch das in Deutschland hergestellte Aspirin verbreitet wurde. Es schien eine einfache Antwort auf ein komplexes Problem zu sein.

Die gegenwärtige Situation schafft einen fruchtbaren Boden für Erklärungsversuche. Von berechtigten Bedenken, bis hin zu extremen Verschwörungstheorien. Jede Erklärung scheint besser als keine. Und nicht nur Corona polarisiert und spaltet. Genauso tun es die globale Erwärmung, die US-Wahlen, Impfungen und einiges mehr. 

Das Säen von Misstrauen und Spaltung grassiert wie eine zweite Pandemie in unseren Familien, Freundschaften und unserer Gesellschaft. Eine Pandemie, die gefährlicher ist als das Virus selbst, da sie Zugehörigkeit und Vertrauen zerstört.

Das wirkliche Problem sind die Gespräche, die uns trennen

Den ganzen Tag lang arbeite ich gedanklich an meiner vernichtenden Nachricht. Ich erkläre, wie diese Videos uns mental und emotional ausnutzen, wie sie falsche Kausalzusammenhänge schaffen und die Komplexität mit Schuldzuweisungen völlig ignorieren.  

Und dann dämmert es mir. Mir wird klar, dass mein Angriff nur noch mehr vom Gleichen ist. Eine weitere Meinung, die behauptet, Recht zu haben. Das eigentliche Problem ist nicht, worüber wir diskutieren, sondern wie wir uns begegnen. Diese «Ich habe Recht und du Unrecht»-Diskussionen trennen uns, sie sind es, die polarisieren. 

«Ich habe gehört, dass die Corona-Impfung ein Plan von Bill Gates ist, …»

«Warum glaubst du solchen Unsinn?» 

«Du solltest nicht abtun, was ich sage. Du bist so leichtgläubig und glaubst alles, was dir die Mainstream-Medien erzählen.»  

«Du kannst doch nicht alles glauben, was du auf Youtube und Facebook siehst.» 

«Du wurdest einer Gehirnwäsche unterzogen.» 

«Ich??? Du bist so engstirnig!!»  

In Gesprächen, die nur «entweder – oder» kennen, machen wir uns gegenseitig zum Problem. Und wir übersehen, dass wir alle mit der massiven Zunahme an Komplexität und Unsicherheit zu kämpfen haben.

Wir übersehen, dass wir alle Klarheit und Gewissheit suchen. Und dass Erklärungen, so weit hergeholt sie auch erscheinen mögen, uns ein gewisses Gefühl der Sicherheit, der Kontrolle oder vielleicht sogar ein gewisses Gefühl der Sinnhaftigkeit vermitteln, weil wir gegen etwas ankämpfen können. 

Aber letztlich geben uns diese Gespräche nicht das, was wir in Zeiten der Ungewissheit brauchen: Zugehörigkeit und Würde. 

Gespräche, die verbinden

Was wäre, wenn wir darüber reden würden, wie sich Unsicherheit anfühlt und wie sie uns beeinflusst? Gespräche über die eigene Angst und Sorge über politische Entscheidungen, über unsere Frustration mit dem Lockdown. Gespräche darüber, dass wir mit dem schnellen Tempo des Wandels und der Unsicherheit kämpfen. 

«Ich habe gehört, dass die Corona-Impfung ein Plan von Bill Gates ist»

 «Oh das klingt bedrohlich. Bist du unsicher, ob die Impfungen sicher sind? Oder, fürchtest du, dass du dazu gezwungen wirst?»

«Ja, ich mache mir wirklich Sorgen. Es geht alles so schnell, und jeder sagt etwas anderes. Ich weiss nicht mehr, was ich glauben soll. Und ich bin auch sehr wütend, dass die Regierung so polizeistaatlich agiert.» 

«Ja, es ist ziemlich schwer, nicht wahr? Alles fühlt sich so unsicher an. Ich habe auch damit zu kämpfen … obwohl ich eigentlich weniger wütend werde und eher Angst habe, um ehrlich zu sein.» 

Solche Gespräche gehen tiefer. Es sind Gespräche, von Mensch zu Mensch. Gespräche, die uns letztlich sogar ein Stück weit Sicherheit geben. 

Auch wenn das befremdlich klingt, könnte man das nächste Mal, wenn man einen Link oder ein Video erhält, das schwer zu nehmen ist, das Telefon in die Hand nehmen und die Person anrufen. Wie geht es ihr? Ist sie glücklich? Wie geht sie mit der Unsicherheit um? Das als Vorschlag für eine verbindendere Aktion, anstatt Meinungen zurückzuschiessen oder den anderen als verrückt abzutun.

Und vielleicht stellen wir fest, dass wir unter der Oberfläche doch nicht so verschieden sind; dass wir alle Angst, Wut und Traurigkeit kennen. Ja, wir suchen an verschiedenen Orten nach Antworten, aber letztlich wollen wir alle gesehen werden, uns sicher und anerkannt fühlen. Und vielleicht entdecken wir auch, dass diese Momente der Verbindung es ein wenig leichter machen. Leichter machen, mit all der Unsicherheit, Ungleichheit und dem Überlebenskampf umzugehen.

Ben Schuster, Family Counselor i.A.u.S, Personal- und Organisationsentwickler, arbeitet in freier Praxis und für das Aus- und Weiterbildungsinstitut IGfB – Internationale Gesellschaft für Beziehungkompetenz, Innsbruck.


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