Erst im «Chindsgi» – und schon gestresst? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Erst im «Chindsgi» – und schon gestresst?

Lesedauer: 4 Minuten

Lena ist seit zwei Wochen im Kindergarten. Sie ist unruhig und kann sich schlecht konzentrieren. Sie meidet das Spiel mit anderen Kindern und reagiert aggressiv auf Annäherungen. Warum reagiert Lena so?

Kinder sind bereits im Kindergartenalter Stress ausgesetzt und reagieren mit Unsi­cherheit, Aggression oder Unruhe. Der erlebte Stress kann unterschiedliche Gründe haben: Tägliche kleinere Belastun­gen, grosse Belastungssituationen oder lebensverändernde Ereignisse wie ein Kindergarteneintritt können für Kinder in diesem Alter durchaus stressig sein.

Stress beeinflusst die Entwicklung des Kindes

Für uns Menschen entsteht Stress, wenn eine Situation als Herausfor­derung erlebt wird. Wir sind gestresst, wenn eine Situation unsere Ressourcen und Möglichkeiten, mit der Situation umzugehen, übersteigt und von uns eine Anpassung an die­ se herausfordernde Situation ver­langt wird. Diese Anpassung zeigt sich in unserem Körper (angespannt sein, höheren Puls haben, schneller atmen usw.), unseren emotionalen Reaktionen (verärgert, verängstigt, besorgt sein) und in unserem Verhalten. Stress kann durch kurz­ oder langfristige Herausforderungen ent­stehen und kann die kindliche Entwicklung negativ beeinflussen.

Eingeschränkte Stressregulation führt zu Verhaltensauffälligkeiten

Es ist jedoch nicht die stressige Situa­tion selbst, die zu Verhaltensauffällligkeiten führt. Vielmehr ist es die fehlende Anpassungsfähigkeit an die Herausforderung der Stresssituation. Diese Anpassungsfähigkeit wird auch als Stressregulationsfähigkeit verstanden. Sie bestimmt, wie stark und wie lange eine Situation von uns als stressig erlebt wird. Das Tempe­rament des Kindes, aber auch die Unterstützung durch die Eltern und bisherige Erfahrungen mit Belastungssituationen legen fest, wie erfolgreich die Stressregulationsfähig­keit des Kindes ist.

Ohne kleine, herausfordernde Ereignisse im Leben eines Kindes ist eine spätere Stressregulation nicht möglich.

So ermöglichen verschiedene kleinere Herausforderungen dem Kind, diese Stressregulationsfähigkeit zu entwickeln und damit die Anpassungsfähigkeit auf spätere Herausforderungen stetig zu verbes­sern. In diesem Zusammenhang spricht man auch von einer Kalibrierungsphase der Stressregulation. Diese Kalibrierung kann nur statt­finden, wenn das Kind in verschie­denen kleinen bis mittleren Heraus­forderungen die Möglichkeit hat, sich im Umgang mit Stress zu üben und neue Strategien zu erlernen. Ohne diese kleinen herausfordern­den Ereignisse im Leben eines Kin­des sind eine spätere erfolgreiche Stressregulation und damit eine adäquate Anpassung an grössere Belastungssituationen nicht mög­lich.

Während dieser Kalibrierungsphase kann ausgeprägter Stress auch zu einer Verschlechterung der Stress­regulation führen. Traumatisierun­gen oder Missbrauchserfahrungen, Vernachlässigung der Eltern, häufige Konfliktsituationen und schwere Lebensereignisse sind Stresssituatio­nen, die das Kind überfordern und reduzieren die Stressregulationsfä­higkeit. Als Folge zeigen Kinder durch diese psychische Überbelas­tung ein höheres Risiko für Verhal­tensauffälligkeiten.

Der Kindergarteneintritt: Belastung oder Chance?

Eltern erleben ihre Kinder während des Kindergarteneintritts oft als verändert. Die Kinder sind häufig gestresst. Er ist für viele Kinder ein einschneidender Moment, der mit viel Neuem und Unbekanntem ver­bunden ist und von einigen als mitt­lere Stresssituation erlebt wird. Er weckt zwar beim Kind meist die Neugier und Freude, sich in neuen Aufgaben zu üben, kann aber auch Ungewissheit oder Unruhe auslösen. Kinder können sich davor fürchten, sich in eine Gruppe einzufügen und ohne elterliche Unterstützung neue Aufgaben bewältigen zu müssen. Zu diesen Aufgaben gehört die Gewöhnung an neue Regeln und an eine neue Betreuungsperson, welche andere Anforderungen an das Kind stellt, als es gewohnt ist.

Der Kindergartenstart ist also eine Herausforderung, in welcher sich das Kind an die neue Situation anpassen muss. Bisherige Untersu­chungen haben gezeigt, dass die Trennung von der familiären Umge­bung für Kinder belastend sein kann. Jedes sechste Kind erlebt den Kindergarteneintritt als schwierig. Dabei zeigen einige Kinder zu Beginn Verhaltensauffälligkeiten, die sich nach einer ersten Gewöh­nungsphase wieder normalisieren.

Kinder von Eltern, die sich beson­ders sorgen, schütten mehr Kortison aus.

Der Kindergartenbeginn kann also zu Veränderungen in der emo­tionalen, verhaltensspezifischen und biologischen oder körperlichen Reaktionsweise führen. Studien zei­gen, dass Kinder während dieser Phase eine höhere Ausschüttung des Stresshormons Kortisol aufweisen. Dieses Stresserleben scheint jedoch durch das Temperament des Kindes, durch die neue Umgebung und auch durch die Eltern beeinflusst zu sein. Kinder von Eltern, die sich beson­ders sorgten, zeigten eine höhere Stresshormonausschüttung.

Ein Kindergarteneintritt kann also Belastung oder Chance zur Ver­besserung der Stressregulation sein. Die selten aufretenden lang anhaltenden Verhaltensauffälligkeiten sprechen jedoch dafür, dass ein Kindergartenstart eine Chance ist, in einem noch geschützten Rahmen die eigene Stressregulationsfähigkeit zu optimieren, sich für zukünftige Belastungssituationen zu wappnen und dem Risiko potenzieller Verhaltensstörungen entgegenzuwirken. Er ist für Kinder eine gute Gelegenheit, ihre Stressregulation weiterzu­entwickeln.

Diese kann vor allem dann positiv genutzt werden, wenn Kinder bereits im Vorschulalter Gelegenheiten hatten, sich in ver­schiedenen kleineren Situationen zu üben und ihre Anpassungsfähigkeit an Stresssituationen zu verbessern.

Zur Autorin:


Nadine Messerli-Bürgy, PD Dr. phil., ist Mutter von zwei Kindern und arbeitet seit 2014 als Senior Researcher in der Abteilung für Klinische Psychologie und Psychotherapie am Departement für Psychologie und am Institut für Familienforschung und -beratung der Universität Freiburg. Sie ist klinische Psychologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Schweizer Kinderstudie Swiss Preschooler’s Health Study (SPLASHY) und leitet ein vierjähriges Forschungsprojekt zur «kindlichen Stressregulation während des Kindergarteneintritts» im Rahmen einer Förderungsprofessur des Schweizerischen Nationalfonds.
Nadine Messerli-Bürgy, PD Dr. phil., ist Mutter von zwei Kindern und arbeitet seit 2014 als Senior Researcher in der Abteilung für Klinische Psychologie und Psychotherapie am Departement für Psychologie und am Institut für Familienforschung und -beratung der Universität Freiburg. Sie ist klinische Psychologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Schweizer Kinderstudie Swiss Preschooler’s Health Study (SPLASHY) und leitet ein vierjähriges Forschungsprojekt zur «kindlichen Stressregulation während des Kindergarteneintritts» im Rahmen einer Förderungsprofessur des Schweizerischen Nationalfonds.


Studie zur kindlichen Stressregulation im Kindergartenalter

Die Stressregulation entwickelt sich in der frühen Kindheit und kann sich unter verschiedenen Bedingungen verändern. Ein Team der Universität Freiburg untersucht ab 2018, wie sich die Stressregulationsfähigkeit beider Elternteile positiv auf die kindliche Stressregulation auswirken kann. Die Studie interessiert sich für Risiko- und Schutzfaktoren der kindlichen Stressregulation und deren Einfluss auf die Entwicklung von Verhaltensauffälligkeiten, die bisher in dieser Form nicht untersucht wurden. Im Fokus stehen die Veränderung der Stressregulation während des Kindergarteneintritts und die Zusammenhänge von kindlichen und elterlichen Faktoren in dieser Lebensphase.

Haben Sie an der Studie Interesse und möchten mehr darüber erfahren? Schreiben Sie an: nadine.messerli@unifr.ch. Wir freuen uns auf Ihre Kontaktaufnahme.  


Der Eintritt in den Kindergarten ist ein grosser Schritt aus der Geborgenheit der Familie in eine unbekannte Welt. Das ElternMagazin Fritz+Fränzi möchte Sie dabei begleiten und Ihnen mit Rat und Informationen zur Seite stehen. Mit unserem KindergartenMagazin «Endlich Chindsgi!»

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