Wie wird mein Kind selbstständiger? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Wie wird mein Kind selbstständiger?

Lesedauer: 4 Minuten

Damit unsere Kinder als Erwachsene fähig sind, Entscheidungen zu treffen und das Leben selber zu gestalten, müssen sie ihre Eigenständigkeit entwickeln können.

Es ist Samstagmorgen, acht Uhr, mein Vierjähriger schleicht aus dem Bett. Ich döse etwas weiter. Eine halbe Stunde später steht er vergnügt vor mir: «Schau, Papa, ich habe mich ganz alleine angezogen!» Tatsächlich: Sogar die Knöpfe seines Pullovers und den Gürtel hat er zugekriegt! Dann wandelt sich sein Gesichtsaus­druck von stolz zu besorgt: «Aber, Papa – weisst du, was ganz, ganz schwierig ist und was ich noch ganz lange nicht kann? Alleine schlafen.»

Selbständigkeit bei Kindern wird von Fachpersonen gefordert 

In meiner Arbeit begegnen mir immer wieder Eltern, die sich Sorgen machen, weil ihr Kind nicht selb­ständig genug sei: Es habe Mühe mit dem selbstorganisierten Lernen und mache die Hausaufgaben nicht allei­ne. Auch mir ist die Forderung nach mehr Selbständigkeit bereits begeg­net. Unser Kinderarzt wies uns dar­auf hin, dass unsere Kinder lernen sollten, alleine einzuschlafen, und empfahl uns das Buch «Jedes Kind kann schlafen lernen». Wie die Anekdote am Anfang zeigt, haben wir seinen Rat nicht befolgt.

Selbständigkeit lässt sich nicht erzwingen

Selbständigkeit ist in unserer Kultur ein wichtiges Ziel: Unsere Kinder sollen als Erwachsene in der Lage sein, sich in einer komplexen Welt zurechtzufinden, eigene Entschei­dungen zu treffen und ihr Leben selbst zu gestalten.

«Eigenständigkeit entwickelt sich in Beziehung, in Vertrauen und durch genügend Gelegenheiten zum selbständigen Tun.»

Doch Eigenständigkeit entwi­ckelt sich nicht über Nacht, nicht durch Zwang und auch nicht dadurch, dass man ein Kind sich selbst überlässt. Sie entwickelt sich in Beziehung, in gegenseitigem Ver­trauen und durch genügend Gele­genheiten zum selbständigen Tun. Das Tempo gibt dabei das Kind vor – nicht irgendeine Normvorstellung.

Selbständigkeit entsteht in Beziehung

Beobachtungsstudien zeigen: Je sicherer Kinder sich in der Bezie­hung zu ihren Eltern fühlen, desto besser können sie sich von ihnen loslösen, um ihre Umgebung zu erkunden. Wenn ein Kind die Erfah­rung macht, dass seine Eltern da sind, wenn es Hilfe braucht, ihm beistehen, wenn es sich unsicher fühlt, und ihm zuhören, wenn es etwas loswerden muss, kann es in Ruhe ausprobieren und eigene Er­fahrungen sammeln. Das Vertrauen, dass die Eltern und andere Erwachsene verfügbar sind, um Schutz, Sicherheit und Nähe zu spenden, bildet die Basis für die Selbständigkeit des Kindes.

«Setzen Sie sich zu Ihrem Kind an den Tisch und gehen Sie eigenen Aufgaben nach.»

Viele Kinder benötigen diese Nähe auch im Schulalter. Es gelingt ihnen zum Beispiel besser, die Hausaufgaben selbständig zu erledigen, wenn sie dabei nicht alleine sind. Setzen Sie sich zu Ihrem Kind an den Tisch und gehen Sie eigenen Aufgaben nach: Beantworten Sie E-Mails, bezahlen Sie Rechnungen – und signalisieren Sie dem Kind, dass Sie ungestört arbeiten möchten.

Selbständigkeit entsteht durch Zutrauen

Während das Kind Vertrauen in die Eltern braucht, um sich sicher zu fühlen, müssen die Eltern genügend Zuversicht in das Kind und das Leben entwickeln, um es so weit loszulassen, dass es eigenständig werden kann. Dieses Vertrauen lässt sich nicht in einem oberflächlichen «Du schaffst das!» äussern. Es basiert auf dem Gefühl, dass das Kind seinen Weg gehen wird und dabei Fehler und Umwege machen darf. Es besteht in der neugierigen Frage «Wollen wir mal sehen, ob du das schaffst?» und der unausgesprochenen Versicherung, dass Experimentieren und Fehlermachen erlaubt sind und man mit Misserfolgen umgehen kann.

«Du schaffst das!»
«Und wenn nicht?»

Wenn jemand zu uns «Du schaffst das!» sagt, fragen wir uns in Gedanken fast automatisch: «Und wenn nicht?» Es ist ermutigend, wenn die Antwort darauf lautet: «Dann sehen wir weiter und versuchen etwas anderes. Und wenn alles nicht funktioniert, dann können wir damit leben.»

Wenn Sie das Gefühl haben, dass Ihr Kind Ihr «Du schaffst das!» nicht annehmen kann, können Sie darauf achten, wie Sie sich in diesem Moment fühlen. Sind Sie angespannt? Fühlen Sie sich unter Druck, dass Ihr Kind etwas eigentlich schon können müsste? Sind Sie frustriert oder wütend, weil Ihr Kind nicht auf Ihren Zuspruch reagiert? Plagen Sie Sorgen um das Kind? Ihr Kind wird stärker auf Ihre Gefühle reagieren als auf Ihre Worte. In dieser Situation können Sie etwas Neues ausprobieren. Zum Beispiel: «Ja, ich weiss auch nicht, ob du das schaffst. Sieht ganz schön schwierig aus! Wir lesen mal die Aufgabe und schauen, worum es geht.»

Selbständigkeit entsteht durch Freiraum

Neben Vertrauen benötigen Kinder Gelegenheiten und Zeit, um sich kennenzulernen und sich auszuprobieren. Dies gelingt Kindern am besten im freien Spiel mit anderen Kindern. Dort müssen alle Kinder Vorschläge einbringen, in der Gruppe für ihre Ideen einstehen und andere für sich gewinnen. Sie müssen Entscheidungen treffen, sich ab und zu durchsetzen oder nachgeben. Sie müssen Enttäuschungen verkraften und sich wieder aufrappeln.

«Der Verband der Kinderärzte in Amerika schlägt Alarm.»

In Amerika ist die Freizeit der Kinder mittlerweile so durchstrukturiert, dass sich der Verband der Kinderärzte veranlasst sah, Alarm zu schlagen. Die Fachpersonen wiesen darauf hin, dass wir unseren Kindern einen der wichtigsten Aspekte der Kindheit rauben, wenn wir ihnen das freie Spiel nehmen.

Der deutsche Kinderarzt Herbert Renz-Polster sieht ähnliche Entwicklungen. Er schreibt dazu in seinem Buch «Menschenkinder»: «Zuerst haben wir den Kindern die Wälder genommen, danach die Wiesen, die Hinterhöfe, die Brachflächen, dann die Strassen, Gassen und Gärten. Seit den 70er-Jahren ist die Fläche, die Kinder im Freien zum Spielen nutzen dürfen, um 90 Prozent zurückgegangen.»

 «Vieles lernen Kinder genau dann, wenn nicht die Absicht besteht, ihnen etwas beizubringen.»

Wir können uns als Eltern fragen: Hat mein Kind genügend Gelegenheit zum freien Spiel? Hat es Zeit und die Möglichkeit, sich mit anderen Kindern zu treffen – ohne dass immer ein Erwachsener da ist, der Vorschläge macht, aufpasst und eingreift?

 Vieles lernen Kinder genau dann, wenn nicht die Absicht besteht, ihnen etwas beizubringen. Dann, wenn es kein durchdachtes, durchstrukturiertes, von Erwachsenen angeleitetes Programm oder Training gibt. Es ist schwieriger geworden, diese Freiräume zu schenken. Es lohnt sich daher, sich aktiv dafür einzusetzen und mit unseren Kindern nach Möglichkeiten zu suchen.

Selbständigkeit – drei Tipps


  • Signalisieren Sie Ihrem Kind, dass Sie da sind. Anstatt die Hausaufgaben alleine im Zimmer zu erledigen, könnten Sie das Kind einladen, gemeinsam zu arbeiten. Zeigen Sie Ihrem Kind, auch während es spielt, ab und zu, dass Sie da sind – ohne sich aufzudrängen.
  • Lassen Sie Ihr Kind deutlich spüren, dass Sie sich freuen, wenn es etwas selbständig versucht. Gestehen Sie ihm seinen Stolz zu und gehen Sie entspannt mit dem Resultat um.
  • Gewähren Sie Ihrem Kind genügend Freiräume. Im unbeobachteten und unstrukturierten Spiel kann es sich ausprobieren und entdecken.

Zum Autor:

Fabian Grolimund ist Psychologe und Autor («Mit Kindern lernen»). In der Rubrik«Elterncoaching» beantwortet er Fragen aus dem Familienalltag. Der 37-Jährige ist verheiratet und Vater eines Sohnes, 4, und einer Tochter, 1. Er lebt mit seiner Familie in Freiburg.
www.mit-kindern-lernen.ch, www.biber-blog.com 

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