Unser Sohn ist ein Angeber  - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Unser Sohn ist ein Angeber 

Lesedauer: 4 Minuten

Manche Kinder, insbesondere Jungs, sind richtige kleine Angeber. Sie müssen nichts lernen – sie können schon alles. Und zwar besser als alle anderen. Für das Umfeld ist es schwierig, mit der Neigung zur Selbstüberschätzung umzugehen, weshalb mich Eltern immer wieder fragen, wie sie auf die Aufschneiderei ihres Kindes reagieren sollten.

In der Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen lernen wir nach und nach, uns und unsere Fähigkeiten realistischer einzuschätzen. Kleinkindern gelingt dies noch kaum: Sie belegen sich selbst und Menschen, die sie mögen, gerne mit allerlei Superlativen. Papa ist der Grösste und Stärkste, Mama die Schönste, das eigene Auto das schnellste. Bei meinem Vierjährigen muss ich täglich den Bizeps befühlen – meist, nachdem er einen Schluck Frucht- oder Gemüsesaft getrunken hat, die ja bekanntlich das Muskelwachstum ungeheuer anregen. Mittlerweile gesellt sich auch die 20 Monate alte Tochter mit angespanntem Gesicht dazu und hält mir den Arm hin. Mein Sohn meint dann: «Sie hat noch nicht viele Muskeln – aber wir tun so, dann freut sie sich.» 

Die Selbstüberschätzung verhindert, dass sich Kinder mit ihren Schwächen auseinandersetzen.

Mit der Zeit nehmen Kinder sich und die Umwelt differenzierter wahr. Sie sehen, dass es durchaus Männer gibt, die grösser und kräftiger sind als der eigene Vater. Sie merken, dass andere Kinder ihnen in bestimmten Gebieten etwas voraus haben, während sie in anderen Bereichen Stärken haben, die sie auszeichnen. Im Grundschulalter findet bei vielen Kindern eine Phase statt, in der sie sich intensiv mit anderen vergleichen. Wer hat die meisten Freunde? Wer ist der Schnellste, Mutigste, Stärkste? Wer hat die besseren Noten? Diese Vergleiche, die in uns Erwachsenen oft ein unangenehmes Gefühl hervorrufen, dienen den Kindern dazu, sich besser kennenzulernen, ihre Fähigkeiten zu entwickeln, sich selbst anzunehmen und den eigenen Platz in der Gruppe zu finden.

Wenn Angeberei zum Problem wird 

Während es den meisten Kindern nach und nach gelingt, sich realistischer einzuschätzen, haben einige Kinder, aber auch Jugendliche und Erwachsene damit grosse Mühe. Während sich einige systematisch unterschätzen und selbst kleinhalten, neigen andere zur Aufschneiderei. Sie prahlen mit ihren Fähigkeiten, spielen sich in der Gruppe auf, indem sie Geschichten von ihren Heldentaten erzählen, oder reagieren mit Neid und Missgunst, wenn andere im Mittelpunkt stehen. In unserer Kultur, insbesondere in der Schweiz, wird dieses Verhalten sozial abgestraft. Kinder, die angeben, ernten von Erwachsenen
Kritik und werden nicht selten von anderen Kindern gemieden. Diese Reaktionen des Umfelds können zum Problem werden, weil sie die Angeberei des Kindes noch befeuern können. Gleichzeitig verhindert die Selbstüberschätzung, dass sich Kinder mit ihren Schwächen auseinandersetzen, sich auf das Üben einlassen und so Schritt für Schritt Fortschritte und Erfolge erleben können. «Das kann ich schon!», ist beispielsweise eine häufige Reaktion auf den Vorschlag der Eltern, sich auf eine Prüfung im Problemfach vorzubereiten.

Kinder, die ständig hören, wie grossartig sie sind, können sich zu Narzissten entwickeln.

Hinter der Selbstüberschätzung steckt oft eine grosse Unsicherheit Studien konnten zeigen, dass es oft Kinder sind, die bei anderen Kindern anecken oder Lernschwächen aufweisen, die besonders dick auftragen. Dies tun sie zudem gerade in den Bereichen, in denen sie ihre Schwächen haben. Dieser Befund spricht dafür, dass das Angeben für die Kinder eine Möglichkeit ist, mit Bedrohungen für ihr Selbstwertgefühl umzugehen. Doch wie können Eltern ihre kleinen Angeber unterstützen? Dieser Frage gingen verschiedene Forscher nach. In einer Studie durften Kinder jeweils zu zweit gemeinsam ein Lego-Gebilde aufbauen. Danach wurden sie mehrfach getrennt voneinander über die Leistung und die Beliebtheit beim Spielpartner befragt. Die Kinder, die ihre Leistung und ihre Beliebtheit überschätzten, wurden in zwei Gruppen eingeteilt. Der einen Gruppe wurde vom Versuchsleiter beiläufig eine positive Rückmeldung gegeben. Dieser meinte: «Ich habe gerade den anderen Jungen im Nebenraum getroffen und seinen Fragebogen abgeholt. Es hat ihm wohl Spass gemacht, mit dir zu spielen, und er freut sich auf euer zweites Treffen. Er fand dich anscheinend nett.» 

Die Gruppe der kleinen Angeber, die diese Rückmeldung hörten, schätzten sich bei der nächsten Befragung realistischer ein. Ein ähnliches Ergebnis zeigte sich bei einer Studie mit Kindern, die eine Lese-Rechtschreib- oder Rechenschwäche aufwiesen. Mussten sie einen Buchstabiertest ablegen, überschätzten auch sie ihre Leistung. Und auch sie konnten sich im nächsten Durchgang realistischer einschätzen, wenn die Versuchsleiterin den folgenden Satz zu ihnen sagte: «Ich habe vor der Tür gerade mit meiner Kollegin gesprochen. Beim Test war ich zwar nicht dabei, aber sie hat gesagt, dass du das gut gemacht hast und sie gerne mit dir gearbeitet hat.» Wenn ein Kind angibt, haben wir Eltern oft den Wunsch, es «auf den Boden der Tatsachen» zurückzuholen. Wie die Forschung zeigt, kann das aber dazu führen, dass sich die Kinder gegenüber Rückmeldungen verschliessen und – um sich selbst zu schützen – noch dicker auftragen.

Prahler müssen begleitet werden 

Auf der anderen Seite kann auch übermässiges Lob die Angeberei verstärken. Kinder, die ständig hören, wie aussergewöhnlich und grossartig sie sind, und von den Eltern auf ein Podest gestellt werden, können sich zu Narzissten entwickeln. Interessanterweise verbirgt sich auch hinter Narzissmus eine quälende Unsicherheit. Narzissten sind Menschen mit einem unrealistisch positiven Bild von sich selbst. Merken sie, dass dieses Bild nicht mit der Realität übereinstimmt, fühlen sie sich bedroht – und reagieren daher heftig auf Kritik. Kindern fällt es leichter, sich auf schwierige Aufgaben einzulassen und sich ihren Schwächen zu stellen, wenn sie sich dabei begleitet fühlen. Wenn Ihr Kind das nächste Mal sagt: «Das kann ich schon!», könnten Sie zum Beispiel sagen: «Ja, seit wir regelmässig üben, bist du schon viel
besser geworden. Lass uns schauen, wie weit du heute noch kommst.» Oder: «Hm … dann hast du in der Schule sicher gut aufgepasst. Wenn du es noch ein wenig übst, kannst du es noch schneller.»

Was Eltern von kleinen Angebern wissen müssen:

  • Kinder, die zum Angeben neigen, fühlen sich durch schwierige Aufgaben bedroht. Konfrontiert man sie mit ihrer Schwäche, verschliessen sie sich und insistieren, dass sie schon alles können. 
  • Je mehr Sie Ihr Kind auf kleine Fortschritte hinweisen und ihm vermitteln, dass es sich durch Übung verbessern kann, desto weniger bedrohlich wird die Aufgabe. Dadurch fällt es dem Kind leichter, sich richtig einzuschätzen und auf das Angeben zu verzichten. 
  • Loben Sie Ihr Kind nicht übermässig. Je mehr Sie ihm dabei helfen, sich als Mensch mit Stärken und Schwächen anzunehmen, desto leichter wird es ihm fallen, auf die Angeberei zu verzichten.

Zum Autor:

Fabian Grolimund ist Psychologe und Autor («Mit Kindern lernen»). In der Rubrik «Elterncoaching» beantwortet er Fragen aus dem Familienalltag. Der 37-Jährige ist verheiratet und Vater eines Sohnes, 4, und einer Tochter, 1. Er lebt mit seiner Familie in Freiburg. www.mit-kindern-lernen.ch / www.biber-blog.com

Fabian Grolimund schreibt regelmässig für das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi. Interesse an weiteren spannenden Themen rund um Eltern, Kinder und Jugendliche?
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