Text: Julia Meyer-Hermann Bilder: Carla Kogelman / De Beeldunie
Lesedauer: 8 Minuten
Die Welt scheint immer kälter zu werden. Umso wichtiger ist es gerade jetzt, Kindern Empathie gegenüber anderen mitzugeben. Wie lässt sich dieses Mitgefühl beibringen?
Vor Kurzem hörte ich meine Tochter Fanny in ihrem Zimmer leise weinen. Schon beim Abendessen war sie auffällig ruhig gewesen, hatte aber auf meine Fragen nur brüsk «Es ist nichts!» geantwortet. Als ich den Kopf durch die geöffnete Tür hineinsteckte, sah ich meine Neunjährige auf ihrem Bett sitzen. Ihre Augen waren leicht gerötet, die Nase zog sie immer wieder lautstark hoch. «Ich schäme mich so», schluchzte sie. «Ich habe heute ganz laut über Nina gelacht.» Dann erzählte sie, dass sie in der Nachmittagsbetreuung über Kästen gesprungen seien. Nina habe es als Einzige nicht geschafft. «Sie ist ja nicht so sportlich, weil sie so dick ist», sagte Fanny. Es habe wahnsinnig komisch ausgesehen, wie Nina einfach auf dem Kasten liegen geblieben sei. Einer habe gerufen: «Wie ein Sack!» Ein paar Kinder hätten gekichert, Fanny auch. «Ich habe erst aufgehört, als ich gesehen habe, dass Nina beinahe geweint hätte», flüsterte meine Tochter und warf sich in meine Arme.
Mir stiegen ebenfalls Tränen in die Augen. Ich litt mit meiner Tochter. Ich schämte mich für sie. Und ich konnte auch den Kummer des anderen Mädchens fühlen. «Was ist, Mama?», wollte meine Tochter wissen, die natürlich merkte, wie mit genommen ich war. «Bist du mir böse?» War ich das? «Ich finde nicht gut, dass du gelacht hast», sagte ich. «Aber es ist gut, dass du jetzt verstehst, wie es deiner Freundin ging.»
Und dann erzählte ich meiner Tochter von einer Spezialeigenschaft unseres Gehirns, die mich seit je fasziniert. Von dieser Fähigkeit, empathisch mitzuerleben, also tatsächlich zu empfinden, was einem anderen Menschen gerade widerfährt. «Lägen wir beide jetzt in einer Maschine, mit der man in unseren Kopf sehen kann, dann würden bei uns im Gehirn die gleichen Punkte leuchten», sagte ich. «Läge ich mit Nina jetzt in so einer Gehirndurchleuchtungsmaschine, wäre das auch so», schlussfolgerte Fanny. Weil sie den Kummer ihrer Freundin auch fühlen würde – so als wäre es ihr eigener. «Krass!», fasste meine Tochter zusammen. Und so sehr mir dieses Wort manchmal missfällt, so passend fand ich es diesmal.
Zentral ist, dass Kinder verstehen, wie es ihren Freunden geht.
Empathische Zivilisation nötig
Empathie stammt ab vom griechischen Wort «empatheia»: «em» bedeutet «hinein», «pathos» heisst «Leiden». Die Zusammensetzung beschreibt das Hineinfühlen in die Gemütszustände anderer. Früher dachte man, dass Menschen nur aufgrund ihrer Lebenserfahrung rational erfassen können, wie ihr Gegenüber sich fühlt. Dann entdeckten Neurologen Mitte der Neunzigerjahre, dass bestimmte Zellen im Gehirn, die sogenannten «Spiegelzellen», das Erleben und die Emotionen von anderen widerspiegeln. Das gilt nicht nur für offensichtliche Zustände wie Trauer, Zorn oder Ekel, sondern sogar für weniger deutliche Regungen wie Verlegenheit oder Einsamkeit.
Es ist die Empathie, die uns überhaupt zu sozialen Wesen macht.
Seitdem klar ist, dass es nicht um vermeintliche Gefühlsduselei geht, sondern um messbare Vorgänge, wollen Neurologen, Biologen, Psychologen und Pädagogen erkunden, wie Empathie entsteht: Woher kennt der Körper bestimmte Sachverhalte, bevor sie angesprochen werden? Wie funktioniert diese Verbindung zwischen zwei Menschen, die über eine rein rationale Ebene hinaus geht?
Alle sind sich einig: Es ist die Empathie, die uns überhaupt zu sozialen Wesen macht. Der Soziologe und Ökonom Jeremy Rifkin glaubt sogar, dass es gerade diese menschliche Eigenschaft ist, die unsere Zeit am meisten braucht. Er fordert eine «empathische Zivilisation», weil die menschliche Fähigkeit, sich in andere hineinversetzen zu können, den natürlichen Gegenpol zum Eigennutz und Narzissmus unserer Gesellschaft bildet. Weil sie uns bei dem helfen kann, was der deutsche Ex-Bundespräsident Johannes Rau zu seinem Motto machte: Versöhnen statt spalten.
Die Fähigkeit der Empathie ist schon sehr früh in unserem Gehirn vorhanden.
Die Begabung dazu tragen wir in uns. «Wir werden vermutlich mit der Voraussetzung zur Empathie geboren», sagt der Neuropsychologe Matthias Bolz, der am Leipziger Max PlanckInstitut für Kognitions und Neurowissenschaften die kognitiven Fähigkeiten und Gehirnprozesse bei Menschen untersucht. «Jedenfalls ist diese Fähigkeit schon sehr früh in irgendeiner Art und Weise im Gehirn angelegt.»
Wie Kinder und Jugendliche emotionale Kompetenz entwickeln und lernen, Gefühle bei sich und anderen zu erkennen, erforscht die Psychologin Maria von Salisch von der Universität Lüneburg. Die ersten Trainingseinheiten dazu hat man ab dem Tag null: Schon Babys eignen sich Wissen über verschiedene Emotionen an.
«Das vorsprachliche Lernen konzentriert sich darauf, bestimmte Merkmale und Muster wiederzuerkennen. Immer wenn Mama mich auf den Arm nimmt, lächelt sie. Immer wenn Papa mich wickelt, macht er ein ganz bestimmtes Gesicht.» Ein Grossteil der Kommunikation zwischen Eltern und Kleinkindern beschäftigt sich damit, grundlegende Gefühle kennenzulernen und benennen zu können: Bist du traurig? Ärgerst du dich gerade? Mama ist gerade sehr müde. Du musst keine Angst haben.
Können also schon Säuglinge fühlen, wie es anderen geht?
Ich erinnere mich an das kollektive Weinen in den Krabbelgruppen, das immer ausbrach, sobald ein Baby angefangen hatte zu schreien. Wie verzweifelt sich meine Kinder anhörten, wenn ein anderes unglücklich klang, obwohl es ihnen selbst gut ging. «Das ist keine erste empathische Reaktion, sondern eine Gefühlsansteckung», sagt die Entwicklungspsychologin Doris Bischof Köhler. «Den Kindern in diesem Alter ist noch gar nicht bewusst, dass es um den anderen geht. Sie können noch nicht zwischen der eigenen Trauer und dem Kummer eines Freundes unterscheiden.»
Das Bewusstsein für die eigenen Gefühle ist aber ganz entscheidend, um überhaupt mitfühlen zu können. Erst wenn ein Kind etwa achtzehn Monate alt ist und anfängt, sich selbst im Spiegel zu erkennen, entwickelt es mit dem Gefühl für das eigene Selbst ein Empfinden dafür, wie es einem anderen geht. Diese Entwicklungsprozesse zu erforschen, ist nicht einfach. Immerhin müssen dafür Kleinkinder in einer möglichst natürlichen Alltagssituation beobachtet werden.
In einer der Versuchsreihen von Doris Bischof-Köhler täuschte eine erwachsene Spielpartnerin einem Kind Trauer vor, weil ihr Teddy kaputtgegangen war. «Die Kinder, die sich noch nicht selbst im Spiegel erkennen konnten, verstanden die Situation nicht und reagierten entweder unbeteiligt oder wollten selbst getröstet werden.» Die anderen Kinder hingegen spiegelten die Emotion der «Freundin», versuchten zu trösten und boten ein anderes Stofftier an.
Es gibt im Alltag immer wieder Szenen, bei denen Eltern warm ums Herz wird, weil ihre Kinder «so lieb» sind. Mein dreijähriger Sohn Carl, der seine grosse Schwester umarmt, weil er sie nach einem Sturz trösten möchte. Der friedlich das Sandspielzeug teilt, weil sein Freund seine Sachen vergessen hat. Meine Tochter Fanny, die ruft, «Lassen Sie mich das machen», und dann einer alten Frau im Supermarkt beim Aufsammeln des heruntergefallenen Einkaufs hilft.
Wenn mein Mann und ich uns darüber unterhalten, welche Charaktereigenschaften uns bei unseren Kindern besonders wichtig sind, steht auf meiner Liste das Einfühlungsvermögen ganz weit oben. Wie wunderbar wäre es, wenn die beiden ein besonderes Gespür dafür hätten, wer Trost und Unterstützung braucht, und entsprechend mitfühlend handeln. Mein Mann weist dann meistens darauf hin, dass auch Fanny und Carl mal schadenfroh, unaufmerksam oder ruppig sein dürften, dass ich ihnen Empathie-Lücken zugestehen müsse.
«Du bist aber nicht mehr so fit, Mama. Du schnaufst ja wie eine alte Frau.»
«Als ob ich ihnen die überhaupt absprechen könnte», erwidere ich dann – und merke an, dass unser Sohn mit dreieinhalb Jahren trotzdem langsam mal verstehen könnte, wann seine Mutter ein kleines bisschen Unterstützung braucht. Dass ich Carl noch so eindringlich erklären kann, warum ich ihn nicht zusammen mit den Einkäufen fünf Stockwerke hochtragen kann und er bitte, bitte selbst laufen möge.
Er brüllt dann trotzdem: «Doofe Mama!», und bleibt schreiend im Treppenhaus liegen. Und Fanny, statt ihren Bruder an die Hand oder eine Einkaufstüte zu nehmen, sprintet die Treppen hoch und empfängt mich oben mit: «Du bist aber nicht mehr so fit, Mama. Du schnaufst ja wie eine alte Frau.»
Eine gängige Redensart lautet: Kinder sind grausam. So möchte das Andreas Schick, Leiter des Heidelberger Präventionszentrums nicht stehen lassen. «Ich würde sagen, dass Kinder grosse Experimentatoren sind», sagt er. «Sie entdecken noch den Umgang mit sich und mit anderen. Das kann immer wieder einmal dazu führen, dass sie die Grenzen anderer deutlich überchreiten.»
Eine Freundin erzählte mir kürzlich, dass ihre Tochter einen Verweis bekommen habe. Ich war zunächst eher erfreut als schockiert, weil ich die Achtjährige bislang als mustergültig angepasst erlebt hatte. Umso mehr überraschte mich, dass dieses Mädchen zusammen mit drei Freundinnen eine Klassenkameradin schikaniert hatte. Sie hatten deren Schal in eine Toilette gestopft und nacheinander draufgepinkelt, während das Opfer weinend vor der Tür stand. Ich konnte meiner Freundin ansehen, dass sie das genauso schockierte wie mich. «Ganz schön gefühlskalt, was?», sagte sie.
Einfühlungsvermögen und Mitgefühl können auch trainiert werden.
Doch zum Glück sind Einfühlungsvermögen und Mitgefühl nicht einfach nur Veranlagungssache, man kann sie trainieren. «Das ist ein Potenzial wie Intelligenz, das man gezielt fördern oder brachliegen lassen kann», sagt Psychologe Andreas Schick. «Wenn man die Achtsamkeit trainiert, also die eigenen Körperempfindungen und Emotionen besser bemerken und einordnen kann, dann kann man auch achtsamer und offener auf andere reagieren», sagt Matthias Bolz, der unter der Leitung der Neurowissenschaftlerin Tania Singer am Leipziger Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften ein mentales Training für Erwachsene durchgeführt hat. Kinder brauchen bei diesem Prozess die Begleitung durch Erwachsene.
«Emotionen-Coaching» nennt das Andreas Schick. Der Therapeut hat die Programme «Faustlos» und «Fäustling» mitentwickelt, um die sozialen Kompetenzen von Kindergartenkindern und Grundschülern zu fördern – und auch das Gruppengefühl zu stärken. In diesen Trainings lernen die Kinder, sich in andere hineinzuversetzen, und üben, was dem anderen gut tun könnte. Sie durchleben spielerisch verschiedene Situationen und sprechen anschliessend mit Erwachsenen darüber, wie man sich in der anderen Rolle gefühlt hat.
In der Schule meiner Tochter ist dieses Konzept aufgegangen. In ihre Klasse geht ein Junge, der vom ersten Tag an Mitschüler und Lehrer tyrannisierte. Die Mädchen nannte er «blöde Schlampen», etlichen Jungen hat Tom (der in Realität anders heisst) die Nase blutig geschlagen. Er bespuckte Erwachsene, zerstörte Tische und Stühle. Es verging monatelang kein Tag, an dem Fanny nicht mit einer neuen Horror-Story nach Hause kam – bis der Klassenlehrer mit seinen Schülern ein Empathie-Training absolvierte.
Im «Emotionen-Coaching» lernen Kinder auf spielerische Art, was ihren Freunden gut tut.
In Abwesenheit von Tom erzählte er zunächst dessen Geschichte: Der Junge war vor der Einschulung zwei Jahre lang im Krankenhaus gewesen, weil er Krebs gehabt hatte. In dieser Zeit hatte er überhaupt keinen Kontakt zu anderen Kindern gehabt, «Wir haben gespielt, wie Tom sich wohl fühlt», erzählte meine Tochter. «Ich glaube, er ist vor Angst ganz ausser sich.»
Mit unterschiedlichen Rollen probte die Klasse, was eigentlich passiert, wenn einer ausrastet, wochenlang, immer wieder. Auch Tom lernte die Perspektive des Opfers kennen. Seitdem ist nicht alles gut. «Aber Tom ist schon viel ruhiger geworden, seit er zu uns da zugehört», sagt Fanny.
Elternhaus als wichtigste Schule
Psychologe Andreas Schick ist davon überzeugt, dass man mit solchen Massnahmen Mobbing und Gewalt an Schulen reduzieren und die Offenheit gegenüber anderen fördern kann. Auch zu Hause muss das passieren, die wichtigste Schule fürs Einfühlungsvermögen ist das Elternhaus. Also darf ich als Mutter nie ausrasten, weil ich dann ein schlechtes Vorbild bin?
Ich denke an die vielen Male, bei denen ich deutlich lauter geworden bin, als ich es selbst gut finde. Wo ich gesehen habe, dass meine Kinder schon verschüchtert waren und trotzdem rumgebrüllt habe. «Wenn man das Gefühl hat, über das Ziel hinausgeschossen zu sein, ist das kein Drama, sondern zutiefst menschlich. Wichtig ist dann, dass man später das Gespräch sucht.» Dass man erklärt, warum man wütend war, und vielleicht sogar bespricht, wie sich die Wut anfühlt.
Es reicht nicht, die Empfindungen zu teilen und mitzuleiden, wenn daraus keine Hilfe wächst.
Der Knackpunkt ist letztendlich der Schritt vom blossen Mitfühlen zum Handeln: Es reicht schliesslich nicht aus, die Empfindungen zu teilen und mitzuleiden, wenn daraus keine Hilfe erwächst für den, der sie benötigt. Das erfordert aber manch mal mehr Mut, als man hat. Auch meine Tochter wollte sich gerne bei Nina entschuldigen, über die sie gekichert hatte, wusste aber nicht so recht wie. Sie lachte nicht mehr, wenn wieder ein Witz über das Mädchen gemacht wurde. «Aber ich traue mich auch nicht, zu sagen, dass ich das falsch finde», sagte sie. Ein paar Tage später hatte sie eine Lösung gefunden. Zusammen mit ihrer besten Freundin stellte sie sich neben Nina, als die wieder gepiesackt wurde, und erzählte, wie ihr beim Rollschuhfahren am letzten Wochenende die Hose am Po gerissen sei. Und wie schlimm der Nachhauseweg gewesen sei. Nina habe sich gefreut, sagt Fanny. «Das konnte ich fühlen. Und es hat sich gut angefühlt.»
Zur Autorin:
Julia Meyer-Hermann, 43, ist Journalistin und lebt in Hannover. Sie liest ihren beiden Kindern viel vor und ist immer wieder verblüfft, wie bereits blosse Erzählungen heftige empathische Reaktionen hervorrufen.