Frau Garibovic, brauchen auch «einfache» Kinder Grenzen? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Frau Garibovic, brauchen auch «einfache» Kinder Grenzen?

Lesedauer: 8 Minuten

Viele Mütter und Väter sind heute verunsichert und kommen ihrer Verantwortung als Eltern nicht nach, sagt Sefika Garibovic, Expertin für die Nacherziehung schwieriger Jugendlicher. Die Pädagogin über die Schattenseiten der Abklärung, konsequente Erziehung und warum Kinder Hierarchien brauchen.

Ein unscheinbares Bürogebäude in der Zuger Bahnhofstrasse. Dritter Stock, eine hochgewachsene Frau öffnet die Tür: rote Hose, weisse Bluse, schwarze High Heels. Die Frisur sitzt perfekt, die Augen strahlen. Eine Figur wie aus einem Film. Dann klingelt ihr Handy. Eine entschuldigende Geste in Richtung Journalistin. «Hallo» … «Ja, bist du krank? Hast du getrunken?» … «Das Leben ist kein Wunschkonzert.» … «Es wäre gut, wenn du heute Mittag kommen würdest.» … 

Wir sind mitten im Thema.

Frau Garibovic, war das ein Klient von Ihnen? Was fehlt ihm oder ihr?

Es ist ein 17-jähriges Mädchen. Sie trinkt, nimmt Drogen, ist in den letzten Jahren von diversen Schulen geflogen, hat in verschiedenen Heimen und sogar auf der Strasse gelebt. Sie hat ihren Körper verkauft, um sich den Stoff finanzieren zu können. Vor ein paar Monaten sind ihre Eltern, gut situiert, mit ihr zu mir gekommen. Ich soll jetzt das reparieren, was sie jahrelang kaputt gemacht haben.

Harte Worte, aber für Sie Ihr täglich Brot. Was sind das für Kinder, mit denen Sie zu tun haben?

Es sind austherapierte Kinder und Jugendliche. Manchmal aus fremden Kulturen, aber zwei Drittel stammen aus Schweizer Familien. Sie waren bei Psychologen, Psychiatern und Pädagogen. Sie waren stationiert, platziert, manche haben zahlreiche Heimaufenthalte hinter sich. Sie fliegen von der Schule, tyrannisieren ihre Familien, Lehrer, manche nehmen Drogen oder werden sogar kriminell. Diese jungen Menschen finden ihren Platz nicht; nicht bei sich selber, nicht in der Familie, nicht in der Gesellschaft.

«Nirgendwo wird so viel Geld mit Kindern verdient wie hierzulande.»

Sefika Garibovic, Expertin für die Nacherziehung schwieriger Jugendlicher

Wer beauftragt Sie?

Oft erhalte ich von Sozialämtern, der KESB, Gemeinden oder der Jugendanwaltschaft den Auftrag. Manchmal gelangen Eltern über Empfehlung direkt zu mir.

Wie gehen Sie dann vor?

Zuerst einmal bestehe ich darauf, dass alle Therapien sofort abgebrochen werden. Dann gehe ich in die Familie. Ich will sehen, wie das Kind lebt, wie die Familie miteinander umgeht. Das kann auch schon mal unangemeldet um 2 Uhr in der Nacht sein.

Um zu sehen, ob der Jugendliche zu Hause oder unterwegs ist, ob Vater oder Mutter betrunken sind.

Genau, das ist viel aufschlussreicher als die meterhohen Dossiers zu lesen, die auf meinem Schreibtisch landen. Und was gar nichts bringt, ist die Kinder ausschliesslich in meine Sprechstunde kommen zu lassen: «So, wir haben 45 Minuten Zeit, jetzt erzähl mal.» Zu Beginn rede ich. 

Verraten Sie uns Ihr Rezept?

Es gibt kein Rezept. Meine Aufgabe liegt darin, zu dekodieren, wo die Probleme liegen, und nicht beim Kind die Fehler zu suchen. Ich bin für diese Kinder da, mit meinem ganzen pädagogischen, nacherzieherischen und therapeutischen Wissen und vor allem von ganzem Herzen. Sie dürfen mich immer anrufen, nachts, am Wochenende und in den Ferien. Viele sagen mir: Endlich fühlt sich jemand wirklich zuständig und benimmt sich auch so.
Sefika Garibovic im Gespräch mit der stellvertretenden Fritz+Fränzi-Chefredaktorin Evelin Hartmann.
Sefika Garibovic im Gespräch mit der stellvertretenden Fritz+Fränzi-Chefredaktorin Evelin Hartmann.

Können Sie das konkretisieren?

Ein Beispiel: Farid und Adelina aus Albanien haben eine andere biologische Entwicklung als Nico und Laura aus Zug. Unsere Päd­agogen können damit aber nicht umgehen und schicken solche Kin­der schnellstmöglich zum Psycholo­gen. Sie analysieren das Verhalten als Störung. Dabei geht es um die nor­male körperliche Entwicklung. Das Kind hat nur Pech, dass es vielleicht als einziges in der Klasse so weit ist. Meine Aufgabe ist es, solche Teenager zu coachen, nachzuerziehen. Wie lauten die grundlegenden Benimm­ regeln, Werte und Normen dieser Gesellschaft? Ihnen das beizubrin­gen, wurde versäumt.

Sie sprachen es gerade an: Ein gros­ses Problem sehen Sie in der hier­ zulande herrschenden «Abklärungs­hysterie», wie Sie es nennen.

Ich bin radikal gegen das aktuelle System, das auffällige Jugendliche sehr schnell abklärt, therapiert und mit Medikamenten sediert. Nirgend­ wo wird so viel Geld mit Kindern verdient wie bei uns in der Schweiz. Ein Heimplatz kostet zwischen 7000 und 30.000 Franken – im Monat! 30.000 Franken kostet die geschlos­sene Abteilung. Und wenn sie dann mit 18 ins Erwachsenenleben treten, sind sie genauso kaputt und haltlos wie mit 14. Das ist eine Gefahr für unsere Gesellschaft.

Können Sie denn längerfristige Erfolge für sich verbuchen? Der Gedanke liegt nahe, dass Sie Ihren Klienten kurzfris­tig zum Vorbild werden, und nach ein, zwei Jahren ist alles wieder beim Alten.

Ich nehme etwa neun bis zehn Kli­enten pro Jahr an. Davon kündige ich zwei bis drei Verträge frühzeitig, in der Regel, weil die Eltern sich nicht so in die Nacherziehung einbringen, wie es nötig wäre. Die Übrigen be­gleite ich durchschnittlich ein Jahr. Dann brauchen sie mich nicht mehr. Von einem Erfolg spreche ich dann, wenn das auch noch Jahre später so ist. In 95 Prozent meiner Mandate ist das der Fall.

«Es gibt keine schlechten Eltern, jeder will das Beste für sein Kind.
 Es gibt nur betroffene Eltern.»

Sefika Garibovic

In diesen Tagen erscheint Ihr Buch «Konsequent Grenzen setzen. Vom Umgang mit schwierigen Jugendlichen» (Orell Füssli Verlag, Fr. 24.90). Darin heisst es, dass Kinder und Jugendliche Disziplin lernen müssen, Hierarchien akzeptieren und sich ihren Eltern unterordnen sollen. Damit sprechen Sie aber hauptsächlich schwierige oder schwer erziehbare Jugendliche an, oder?

Wissen Sie, ich habe oft Eltern bei mir sitzen, die sagen: «Bis vor zwei Jahren hatten wir es so gut mit unserem Sohn oder mit unserer Tochter.» Da kann ich nur sagen: Solche Probleme entstehen nicht von heute auf morgen. Das ist ein Prozess. Meist ist schon viel früher in der Erziehung etwas schiefgelaufen. Zu einer Zeit, als das Verhalten des Kindes noch gar nicht problematisch war.

Was machen Eltern heute falsch? 

Erst einmal: Es gibt keine schlechten Eltern, jeder will das Beste für sein Kind. Es gibt nur betroffene Eltern. Aber viele Mütter und Väter sind aufgrund der Flut an Erziehungsrat­gebern und pädagogischen Strö­mungen total verunsichert. Wenn eine Mutter überlegt, ob sie jetzt eher dem Erziehungsstil einer Frau Gari­bovic oder eines Herrn XY folgen soll, dann läuft doch grundsätzlich etwas falsch. Dazu kommt, dass Eltern sich in ihrer Elternrolle oder Aufgabe von den Behörden be­schneiden lassen beziehungsweise beschnitten werden. Angenommen, ein Kind ist schon im Kindergarten auffällig, weil es so unruhig ist. Es wird abgeklärt, und das Dossier begleitet das Kind in die Primarschu­le. Dort schaltet sich der Schulpsy­chologische Dienst ein. Die Eltern denken, endlich kümmert sich eine Fachperson um mein Kind – und lehnen sich zurück.

Was raten Sie Eltern?

Sich auf ihre Verantwortung zu besinnen, sich für «ihr Blut» einzu­setzen und da zu sein. Ich erwarte von Müttern und Vätern, dass sie die Elternrolle wahrnehmen und nicht die Kollegen ihrer Kinder sind. Sie müssen sich viel mehr verpflichten, ihr Kind auf das Leben vorzubereiten, Vorbild sein, dem Kind helfen, ein gesundes Selbstvertrauen zu ent­wickeln, aber auch Selbständigkeit zu lernen. Und ihm konsequent Grenzen setzen. In 99 Prozent der Familien, in die ich hineinsehe, stimmt die Hierarchie nicht.

Also zurück zu alten Werten und Normen. Der Grossteil der Fachleute propagiert heute einen anderen Ansatz. 

Ich habe nichts gegen Fachpersonen wie Remo Largo. Ich habe Hochach­tung vor seiner Erfahrung. Aber Aussagen wie «das Kind soll frei wachsen» – Entschuldigung, das grenzt für mich an Abschieberei. Das Kind braucht die Führung der Eltern, sonst ist es überfordert, wird orien­tierungslos.

Ihre Tochter ist mittlerweile 36 und selbst dreifache Mutter. Wie haben Sie es damals mit ihr gemacht?

Als ich vor 26 Jahren mit meiner 10­-jährigen Tochter vom Balkan in die Schweiz zog, konnte ich eine Stel­le in meinem erlernten Beruf als Forstingenieurin antreten. Leider hatte ich lange Arbeitswege, und wenn ich abends nach Hause kam, schlief meine Tochter bereits. Also hängte ich meinen gut bezahlten Job an den Nagel und tauschte ihn gegen eine schlechter bezahlte Stelle in einem Sterbehospiz ein. Das lag vis­ à­vis von unserer Wohnung, und so konnte ich mittags und nach der Schule für meinen Teenager da sein. 
Sefika Garibovic stammt aus einer Familie mit starken Frauen. Von ihnen habe sie gelernt, stets Haltung zu bewahren.
Sefika Garibovic stammt aus einer Familie mit starken Frauen. Von ihnen habe sie gelernt, stets Haltung zu bewahren.

Andere hätten vielleicht die finanzielle Sicherheit vorgezogen. Sind Eltern von Problemkindern zu wenig anwesend? 

Für meine Tochter und mich war es definitiv die richtige Entscheidung. Trotzdem: Wenn es heisst, die Eltern waren halt nicht da, halte ich das für eine Ausrede. Ich kenne genügend Beispiele, wo die Eltern den ganzen Tag da sind und trotzdem von ihren Kindern tyrannisiert werden. Es reicht, jeden Tag eine halbe Stunde mit dem Kind zu reden, aber richtig. 

Was heisst «richtig»?

Fragen Sie Ihr Kind abends, wie es ihm geht, was es heute erlebt hat. Aber mit einem ernst gemeinten Interesse dahinter. Schauen Sie, ob es alles für den nächsten Tag geregelt hat, um in Ruhe ins Bett gehen zu können. Und bleiben Sie für Ihr Kind interessant. Warum fragen Sie ihren 12­-jährigen Sohn nicht: Kannst du mir das Skateboardfahren beibrin­gen, damit ich das auch so gut kann wie du? Aber meinen Sie es ehrlich. Kinder brauchen Aufgaben, ein ehr­liches Feedback. Irgendwann, wenn sie gross sind, können wir ihnen kei­ne Vorschriften mehr machen. Aber wir können als Eltern immer dran­ bleiben und nie aufhören, ihnen unsere Haltung zu etwas vorzuleben.

«Es ist für Eltern einfacher, alles zu erlauben. Dann hat man seine Ruhe.»

Sefika Garibovic

Ein Beispiel: Der 7-jährige Bub möchte unbedingt noch mit den anderen Kindern draussen spielen. Aber es ist 20 Uhr und morgen ist Schule.

Eltern können einem 7­-Jährigen doch nicht die Verantwortung über­ lassen, wann er abends ins Bett geht. Am nächsten Morgen haben Sie als Mutter das Problem. Ihr Kind will nicht aufstehen, ist müde, kann sich in der Schule nicht konzentrieren. Eltern wollen sich heute nicht mit ihren Kindern konfrontieren. Es ist einfacher, alles zu erlauben. Dann hat man seine Ruhe. 

Aber nach der Erfahrung kommt er am nächsten Abend vielleicht freiwillig früher nach Hause.

Das wird nicht passieren. Die Angst, etwas zu verpassen, und der Reiz, mit den anderen Kindern zusammen zu sein, werden immer stärker sein. Solche Kinder lernen nie, was es heisst, für sich und andere die Verantwortung zu übernehmen. Aus seiner Müdigkeit heraus wird der Bub vielleicht anecken, unkonzentriert, fahrig sein, vielleicht sogar aggressiv werden. Und was ist der nächste Schritt? Die Lehrer rufen nach Fachleuten, das Kind wird zum Psychologen geschickt. Völlig falsch. Viel eher müsste man jemanden zu den Eltern schicken und diesen beibringen, wie man seinem Kind Grenzen setzt.

Die 13-jährige Tochter hängt am liebsten bei ihren neuen Freunden am Bahnhof ab. Mir als Mutter gefällt das überhaupt nicht. Was kann ich tun? 

Auf jeden Fall mit ihr reden und erklären, dass das nicht geht. «Schau, ich hab dich lieb, ich möchte dich beschützen, aber wenn du dort hingehst, konfrontierst du dich mit Problemen.»

Und wenn sie trotzdem hingeht?

Bieten Sie ihr an, sich mit ihren Kolleginnen bei Ihnen zu Hause treffen zu können oder an einem anderen, sichereren Ort. Und wenn der Reiz dann immer noch zu gross ist, erwarte ich von Ihnen als Mutter, dass Sie dort hingehen und Ihre Tochter nach Hause holen.

«Wichtig ist, dass Eltern nicht in Panik geraten, wenn Probleme auftauchen.»

Sefika Garibovic, Expertin für Konfliktmanagement

In einem bestimmten Lebensabschnitt kann das aber ganz schön schwierig für Eltern sein. Sie plädieren doch nicht etwa dafür, den Teenager in seinem Zimmer einzusperren? 

Natürlich nicht. Wichtig ist, dass Eltern nicht in Panik geraten, wenn in der Pubertät Probleme auftauchen. Man muss sich mit den Kindern in Ruhe hinsetzen und sagen, welche Konsequenzen ihr Handeln haben wird, dass man auch als Familie Probleme bekommt, wenn es nicht aufhört, seine Zeit am Bahnhof zu verbringen oder zu kiffen. Man kann auch als Mutter ruhig zugeben: Ich habe nicht gut genug zu dir geschaut. Jetzt müssen wir das Problem lösen, bitte hilf mir.

Wie reagieren Kinder und Jugendliche auf so etwas?

Viele reagieren sehr gut darauf – wenn es ehrlich gemeint ist. Aber Eltern müssen auch dranbleiben. Es muss sich in solchen Fällen grundsätzlich etwas ändern im Familienleben.

Zur Person:

Sefika Garibovic ist Expertin für die Nacherziehung und Resozialisierung schwieriger Jugendlicher. Sie arbeitet mit Jugendstaatsanwaltschaft, KESB, Schulen, Eltern und insbesondere mit «austherapierten» Jugendlichen selbst, um ihnen den Weg in die Gesellschaft und das Berufsleben zu weisen. Die Expertin für Nacherziehung, Konfliktmanagement und Sexualtherapie doziert ausserdem an Fachhochschulen. In Zug führt sie eine eigene Praxis.
www.garibovic.ch

Evelin Hartmann ist selbst Mutter und hat sich von Sefika Garibovic Tipps für knifflige Situationen mit ihrer trotzenden Tochter geben lassen.
Evelin Hartmann ist selbst Mutter und hat sich von Sefika Garibovic Tipps für knifflige Situationen mit ihrer trotzenden Tochter geben lassen.