«Mir wird alles zu viel!» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Mir wird alles zu viel!»

Lesedauer: 4 Minuten

Immer mehr zu tun und immer weniger Zeit. Wie Eltern dieser Falle entkommen können.

Es ist sechs Uhr morgens. Ich bin auf dem Weg zu einer Lehrerfortbildung, der ich noch den letzten Schliff geben müsste. Dummerweise muss ich auch noch diesen Artikel hier zu Ende schreiben und vor Seminarbeginn einreichen. Zum Glück sind solche Last-Minute-Aktionen viel seltener geworden. Ich muss aber zugeben: Als Vater von zwei Kindern alles unter einen Hut zu bekommen, ist manchmal ziemlich schwierig.

Eltern stehen heute unter einem immensen Druck. Das Bundesamt für Statistik zeigt einen klaren Anstieg der Gesamtarbeitszeit: Mütter von kleinen Kindern arbeiten insgesamt 68 Stunden pro Woche, die Väter 70. Bei den Vätern hat die Arbeit im Haushalt und in der Kinderbetreuung zugenommen, bei den Frauen die Erwerbsarbeit. Die Gleichstellung – ein wichtiges Ziel – führt momentan dazu, dass Männer und Frauen mehr zu tun haben, weil beide den Anspruch haben, alles zu sein und alles gut zu machen.

Gleichzeitig steigen die Anforderungen und die Hektik in der Arbeitswelt: Immer mehr soll von immer weniger Menschen in immer kürzerer Zeit erledigt werden. Wie kommen wir da wieder raus? Wie können wir dem täglichen Stress begegnen? Durch einen Zeitmanagementkurs? Yoga? Entspannungsübungen? Das ist alles sinnvoll, braucht aber dummerweise – Zeit.

Machen Sie weniger!

Wenn wir über Stress klagen, denken wir meist darüber nach, wie wir all unserer Aufgaben Herr werden können. Wir versuchen schneller zu arbeiten, uns noch besser zu organisieren, uns effektivere Arbeitsmethoden anzueignen oder auf Erholung und Schlaf zu verzichten. 
Wirklich hilfreich ist nur: weniger tun. Das klingt banal. Aber es ist das Einzige, das uns langfristig aus der Überforderung heraushilft. Und es ist gleichzeitig eine Herausforderung, die wir nur meistern können, wenn wir uns darauf einlassen und entschlossene Schritte unternehmen. 

Mit etwas aufzuhören, etwas zu reduzieren oder zu etwas Nein zu sagen, fällt den meisten Menschen schwer. Wir fürchten den Verlust, wenn wir auf eine neue, interessante Möglichkeit verzichten. Wir sehen, wie sich eine Tür schliesst, und beeilen uns, Ja zu sagen. Auch dann, wenn wir hinterher fast in Arbeit und Verpflichtungen ersticken. Denn wenn wir Nein sagen, erteilen wir nicht nur anderen Menschen eine Absage, sondern auch unserem eigenen Ehrgeiz, unseren Ansprüchen, Zielen und Wünschen.

«Wann immer Sie zusagen möchten, etwas zu übernehmen, erbitten Sie sich erst noch einmal Bedenkzeit!»

Wenn wir dies aber lernen, verschaffen wir uns Luft und holen uns unser Leben zurück. Wir machen weniger, das dafür mit mehr Freude, Ruhe und Qualität. Und wir können die Zeit mit Menschen, die uns wichtig sind, wieder geniessen, ohne ständig an unsere To-do-Liste zu denken.

Egal, ob Sie gefragt werden, ob Sie dem Elternrat beitreten, ein politisches Amt übernehmen, eine Beförderung annehmen oder Ihrem Kind ein zusätzliches Hobby ermöglichen wollen: Erlauben Sie sich, auf Zeit zu spielen. Wann immer Sie zusagen möchten, könnten Sie von nun an sagen: «Ich überlege es mir und gebe dir morgen Bescheid» oder «Das klingt interessant – ich muss es aber zuerst mit meiner Partnerin, meinem Partner besprechen». Nehmen Sie sich diese Momente, um die Vorteile und die Kosten abzuwägen.

Denken Sie an die Kosten Ihrer Zusage!

Anfangs sehen wir oft nur die Vorteile einer Zusage. Die Kosten kalkulie­ren wir zu wenig ein. Wir unterschätzen den erforderlichen Aufwand meist gewaltig. Und wir führen uns nicht vor Augen, wozu wir implizit Nein sagen, wenn wir Ja sagen. 

Unser Tag hat 24 Stunden. Wenn wir Ja sagen zu einer neuen Aufgabe, sagen wir automatisch Nein zu etwas anderem: zu Zeit mit unseren Kindern, dem Partner oder der Partnerin, zu Erholung, Schlaf oder einem Hobby.

Oft geben wir die wertvollsten Dinge her, um vermeintliche Pflichten zu erfüllen oder jemanden zufriedenzustellen, der laut genug auftritt. Sich diese Kosten im richtigen Moment bewusst zu machen, kann uns die nötige Courage verleihen, um uns gegen fordernde Chefs und Kollegen abzugrenzen, Kundenanfragen ab­­zulehnen oder eine schmerzhafte Entscheidung zu treffen.

Brian Tracy hat einmal darauf hingewiesen, dass es nur vier Möglichkeiten gibt, sein Leben zu ändern. Sie können: 

  1. mit etwas Neuem beginnen
  2. etwas öfter tun
  3. etwas seltener tun
  4. etwas nicht mehr tun

«Schreiben Sie alle Ziele auf, die Sie zur Zeit verfolgen. Und zücken Sie den Rotstift.»

Wenn die meisten Veränderungen in Ihrem Leben darin bestehen, etwas Neues hinzuzufügen oder sich vorzunehmen, bestimmte Dinge öfter zu tun, bauen sich zusehends mehr Druck und Stress auf. Es wächst das Gefühl, dass Ihr Leben vom Wort «müssen» geprägt ist. Für Erholung, Schönes und Geselligkeit bleibt rasch weniger Raum. 

Wann immer es uns zu viel wird, können wir uns darauf konzentrieren, im nächsten halben Jahr ausschliesslich Ziele zu verfolgen, die darin bestehen, bestimmte Dinge seltener oder nicht mehr (selbst) zu tun.

Ein Ziel könnte lauten, das Arbeitspensum zu reduzieren oder im nächsten Jahr keine Überstunden mehr zu leisten. Vielleicht ist es sinnvoll, ein Amt abzugeben, die Mitgliedschaft in einem Verein zu überdenken oder die Regel einzuführen, dass an zwei Wochenenden im Monat weder etwas unternommen noch jemand eingeladen wird. 

Eventuell reicht es auch schon, wenn Sie alle Ziele und Projekte, die Sie momentan verfolgen, auflisten – und den Rotstift ansetzen. Wie wäre es, wenn Sie ein halbes Jahr nicht versuchen, abzunehmen oder mehr Sport zu treiben? Wie würde es sich auswirken, wenn Sie Ihre Ansprüche im Haushalt eine Zeit lang bewusst senkten? 

Bitte nicht bis zum Burnout warten!

Meist befürchten wir allerlei Widerstände, wenn wir ein solches Ziel verfolgen. Wir denken, dass es nicht möglich ist, oder glauben, dass es schwerwiegende Einbussen oder Konflikte mit sich bringen wird. Wenn es uns ernst genug ist, wir solche Ziele schriftlich festhalten und etwas Denkarbeit investieren, lassen sie sich genauso gut erreichen wie andere Ziele. Es ist schade, wenn ein Burnout notwendig ist, um das herauszufinden.

Kurztipps:

  • Sagen Sie «Vielleicht» statt «Ja».
  • Wägen Sie die Kosten vorsichtig ab und machen Sie sich bewusst, was zu kurz kommen wird, wenn Sie zu einer Aufgabe oder einem Amt Ja sagen.
  • Nehmen Sie sich ab und zu Zeit, um Ihr Leben auszumisten. Was möchten Sie in Zukunft seltener oder nicht mehr tun? Und wie liesse sich das erreichen?

Zum Autor:

Fabian Grolimund ist Psychologe und Autor («Mit Kindern lernen»). Für unser Magazin beantwortet er Fragen aus dem Familienalltag. Der 37-Jährige ist verheiratet und Vater eines Sohnes und einer Tochter. Er lebt mit seiner Familie in Freiburg.

www.mit-kindern-lernen.ch,
www.biber-blog.com

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