Winkelfehlsichtigkeit: «Mama, die Buchstaben tanzen!»
Kopfschmerzen, schlecht lesen und krakelig schreiben, unkonzentriert und motorisch unsicher? Nicht selten wird diese Kombination auf eine Lese-Rechtschreib-Schwäche oder gar ADHS zurückgeführt. Die Ursache könnte aber auch in einem latenten Schielen, umgangssprachlich einer Winkelfehlsichtigkeit, liegen.
Text: Anja Lang
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Luca findet Lesen doof. Wann immer es geht, drückt er sich davor. Auch das Schreiben fällt ihm schwer. Er verrutscht in den Zeilen, verdreht die Buchstaben und macht viele Rechtschreibfehler. Oft hat er Kopfschmerzen und ist müde. «Musst halt fleissiger üben», kriegt er oft zu hören. Doch so sehr er sich auch anstrengt, die Buchstaben «hüpfen» ihm einfach vor den Augen davon. Hilfe bekommt Luca erst, als bei ihm eine Winkelfehlsichtigkeit als Ursache seiner Probleme entdeckt wird.
Winkelfehlsichtigkeit – Was für eine Krankheit ist das?
Winkelfehlsichtigkeit ist keine Fehlsichtigkeit oder Krankheit im eigentlichen Sinne. «Es handelt sich vielmehr um eine latente Abweichung der Augen im Ruhezustand aus der optimalen Position», erklärt Daniel Bruun, Augenarzt und Augenchirurg aus Kreuzlingen TG. «Diese Abweichung kann aber Auswirkungen auf das simultane beidseitige Sehen haben.»
Latentes Schielen
Damit ein dreidimensionales Bild entsteht, müssen die zwei Einzelbilder, die auf den Netzhäuten der beiden Augen entstehen, vom Gehirn zu einem einzigen räumlichen Bild verschmolzen werden. Diesen Vorgang nennt man in der Fachsprache Fusion. «Für eine optimale Fusion sollten die beiden Augen stets gleich ausgerichtet sein», weiss Bruun. «Bei der überwiegenden Mehrheit finden sich aber in der entspannten Augenstellung von Natur aus kleine Abweichungen nach innen oder aussen, seltener auch nach oben oder unten.» Diese Abweichung vom Idealzustand nennt man Winkelfehlsichtigkeit.
In der Augenmedizin spricht man auch von Heterophorie oder verstecktem Schielen. «Versteckt deshalb, weil die leichte Fehlstellung nur dann sichtbar wird, wenn sich das Auge im Ruhezustand beendet – beispielsweise bei Müdigkeit oder beim abgedeckten Auge», erklärt der Schielexperte. «Sobald die Augen ein Objekt fokussieren, justiert das Gehirn die Abweichung in Sekundenbruchteilen nach, sodass die Augen wieder synchron gestellt werden.» Anders als ein echtes Schielen fällt das latente Schielen im Alltag deshalb auch nicht auf.
80 Prozent aller Menschen haben ein sogenanntes verstecktes Schielen, auch Winkelfehlsichtigkeit genannt.
Rund 80 Prozent aller Sehenden haben eine Winkelfehlsichtigkeit. Die meisten Menschen verkraften die ständige Zusatzarbeit, die Gehirn- und Augenmuskulatur für die optimale Fusion leisten müssen, ohne grössere Probleme. «Ein gewisser Prozentsatz aber entwickelt Anstrengungsbeschwerden, die mitunter massive Auswirkungen auf die Lebensqualität haben können», weiss Bruun.
Winkelfehlsichtigkeit kann krank machen
«Ein deutliches Zeichen für mögliche Probleme mit dem versteckten Schielen ist, wenn Patienten immer wieder Doppelbilder sehen», sagt Augenexperte Daniel Bruun. «Auch häufige Kopfschmerzen, die vor allem abends auftreten, können ein Hinweis darauf sein.» Bei Kindern zeigen sich zudem Symptome wie häufiges Stolpern, schlechte Orientierung im Raum, Probleme beim Verfolgen von bewegten Objekten wie Bällen. Aufgaben, die konzentrierte Augenarbeit erfordern wie Basteln, Ausmalen oder Ausschneiden, werden konsequent gemieden.
Betroffene Schulkinder leiden oft an Konzentrationsschwierigkeiten und zeigen starke Auffälligkeiten beim Lesen und Schreiben. «Typisch ist, dass die Kinder das Lesen am liebsten vermeiden, bei Aufforderung mit der Nase fast am Papier kleben, nur stockend vorwärtskommen und häufig in der Zeile verrutschen», so Daniel Bruun. «Beim Schreiben können die Linien nicht gehalten werden und die Wörter sind unleserlich und oder unvollständig.»