Eltern oder Liebende sein – oder beides? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Eltern oder Liebende sein – oder beides?

Lesedauer: 4 Minuten

Eltern haben ein Recht auf Zweisamkeit, denn es sollten nicht immer nur die Kinder im Zentrum stehen. Wie kann man mit Kindern in einer erfüllten Paarbeziehung bleiben? Und wann ist es besser, getrennte Wege zu gehen?

Frage einer Mutter:

«Seit Längerem haben mein Mann und ich keine gute Beziehung mehr. Wir sind sehr jung zusammengekommen und waren verrückt nacheinander. Seit unsere zwei Buben, drei und sechs Jahre alt, auf der Welt sind, existiert unsere Beziehung fast nicht mehr. Ich gehe voll auf in der Mutterrolle und in der Liebe zu unseren Kindern. Sex hatten wir seit meinen Schwangerschaften kaum mehr, auch nicht auf meine Initiative hin. Ich fühle mich von meinem Mann schlecht behandelt. Er kritisiert mich oft, verspottet mich und gibt mir, wenn überhaupt, einsilbige Antworten. Er ist unfreundlich zu meiner Familie und oft gereizt. Für unsere Buben ist mein Mann ein wunderbarer Vater. Er spielt mit ihnen und tollt mit ihnen im Wald herum. Aber er kann dann ganz plötzlich sehr wütend und laut werden, etwa, wenn die Jungs am Morgen etwas länger haben, um sich anzuziehen.

Eine Beziehung braucht die Aufmerksamkeit beider Erwachsenen, um zu überleben.

Jesper Juul

Im Beisein von unseren Kindern versuchen mein Mann und ich uns zu beherrschen. Wir organisieren uns gut, sodass die Kinder nicht zu viel mitbekommen. Ich halte mich zurück mit meiner Meinung, weil ich Angst habe, dass er dann gemeine Kommentare fallen lässt. Wir streiten eigentlich nicht, aber es herrscht eine unruhige Stimmung. Es gibt aber immer wieder Zeiten, in denen alles völlig normal abläuft. Wir erledigen unseren Alltag, und mein Mann sagt vor den Kindern, dass er glücklich sei und er die Welt in Ordnung finde. Er ist kein Mann der grossen Worte, und es fällt ihm schwer, Gefühle und Gedanken zu äussern. 

Ehekrise: Mein Mann will keine Therapie

Ich habe meinem Mann eine gemeinsame Gesprächstherapie vorgeschlagen. Das will er aber ganz klar nicht. Ich bin bereit, an unserer Beziehung zu arbeiten, denn ich weiss, wie wichtig das für das Umfeld unserer Kinder ist. Aber wenn mein Mann das nicht will, frage ich mich, ob es nicht besser wäre, mich zu trennen, solange die Kinder noch so klein sind. Ich möchte unseren Kindern während ihres Aufwachsens eine sichere Umgebung geben, im Idealfall mit Vater und Mutter. 
Ich empfinde es als Niederlage und habe Angst davor, den Kindern emotional zu schaden, wenn sie mit getrennt lebenden Eltern aufwachsen müssen. Die Vorstellung, getrennt zu sein, macht mich unendlich traurig. Ich wünsche mir so sehr, dass wir als Familie bestehen, als Eltern gemeinsam am Leben unserer Kinder teilnehmen können, und ich kann mir nicht vorstellen, mit einem anderen Partner all das zu erleben. Ich möchte auch nicht daran denken, wie es wäre, wenn unsere Kinder eine «Stiefmutter» hätten.

Antwort von Jesper Juul:

In der Fachwelt wird seit vielen Jahren darüber geschrieben, dass die Eltern in modernen Familien zwischen Fürsorge für die Kinder und dem Versuch, die intime Paarbeziehung miteinander weiterzuleben, hin- und hergerissen sind. Das zeigt Ihr Beispiel ganz gut. Klar ist: Im Familienleben beeinflussen alle Mitglieder einander – sowohl in guten als auch in schlechten Zeiten. Dass die Beziehung zu Ihrem Mann gerade jetzt, nach zwei Kindern, in der Krise steckt, ist normal. Sie sind zwei Erwachsene mit unterschiedlichen Bedürfnissen, wobei meist die Kinder im Zentrum des Familienlebens stehen. Das ist schlecht für alle Beteiligten. Das Leben der Erwachsenen ist auf diese Weise gefährlich auf ein Minimum und auf bestimmte Rollen reduziert – das ist ungesund für die ganze Familie.

Der Übergang vom Verliebtsein zur Liebe gelingt immer mehr Paaren kaum oder gar nicht.

Jesper Juul

Sie haben völlig recht damit, dass es nicht gut für die Kinder ist, wenn sie in einem Zuhause aufwachsen, in dem die Liebe zwischen den Erwachsenen verblasst ist und zusehends verschwindet. Es tut den Kindern nicht direkt «weh», aber es raubt ihnen die Möglichkeit, wichtige Erfahrungen zu machen, die sie in ihrem eigenen Erwachsenenleben benötigen werden. Immer mehr Paare lassen sich zwei bis vier Jahre nach der Geburt des ersten Kindes scheiden. Der Übergang vom Verliebtsein zur Liebe gelingt ihnen kaum oder gar nicht. Ich empfehle Ihnen, sich selbst zu fragen, ob Sie Sehnsucht nach Ihrem Mann verspüren. Nicht nur, was sexuelles Verlangen betrifft, sondern als «Herzenswunsch». Ist diese Sehnsucht da, gibt es Hoffnung, und Sie könnten Ihrem Mann in Ihren eigenen Worten etwa Folgendes sagen: «Ich bin unglücklich mit dir, kann aber selbst nicht herausfinden, warum oder was ich anders machen kann. Deshalb möchte ich professionelle Hilfe. Diese bekomme ich nur, wenn du mit dabei bist. Wenn du das nicht möchtest, müssen wir uns trennen.» 

Ihr Beziehung ist das «erste» Baby

Oder Sie suchen sich einen erfahrenen Familientherapeuten, der sich auf die Beziehung der Erwachsenen konzentriert. Denken Sie daran, dass Ihre Beziehung quasi Ihr erstes gemeinsames «Baby» war und dass dieses Baby dringend die Aufmerksamkeit beider Elternteile braucht, um zu überleben und sich weiterzuentwickeln. Ihre Gedanken und Sorgen über das Wohlergehen Ihrer Kinder nach einer Trennung oder Scheidung sind verständlich und auch realistisch. Aber auch wenn Sie mit Ihrem Mann nicht zusammenleben können, hängt das Wohlergehen Ihrer Söhne von Ihrer beider Bereitschaft und Fähigkeit ab, miteinander zu kooperieren und zu kommunizieren. Ihre Kinder können bestimmt über Jahre mit dem emotionalen Abstand zwischen ihren Eltern leben. 

Es gibt Menschen, die nicht zusammenleben können, obwohl sie sich tief lieben.

Jesper Juul, Familientherapeut

Dagegen würde eine destruktive Kommunikation zwischen Ihnen und Ihrem Mann das Leben Ihrer Kinder für Jahre beeinflussen. Es gibt Menschen, die nicht zusammenleben können, obwohl sie sich tief lieben. Und es gibt Bedingungen, unter denen der Wille zur Intimität und für den Kampf für die Entwicklung beider verloren gegangen ist. In beiden Fällen gibt es keinen direkt «Schuldigen». Beide Parteien sind meist gleichermassen, also 50:50, verantwortlich für ihr gegenwärtiges Leben – einschliesslich der Tatsache, dass Kinder vielleicht durch ein bestimmtes Verhalten seitens dieser Erwachsenen leiden.

Über Jesper Juul

Jesper Juul ist Familientherapeut und Autor zahlreicher internationaler Bestseller zum Thema Erziehung und Familien. 1948 in Dänemark geboren, fuhr er nach dem Schulabschluss zur See, war später Betonarbeiter, Tellerwäscher und Barkeeper. Nach der Lehrerausbildung arbeitete er als Heimerzieher und Sozialarbeiter und bildete sich in den Niederlanden und den USA bei Walter Kempler zum Familientherapeuten weiter. Seit 2012 leidet Juul an einer Entzündung der Rückenmarksflüssigkeit und sitzt im Rollstuhl. Jesper Juul hat einen erwachsenen Sohn aus erster Ehe und ist in zweiter Ehe geschieden.

Jesper Juul schreibt regelmässig exklusiv in der Schweiz für das Elternmagazin Fritz+Fränzi. Bestellen Sie jetzt ihr Abo!