Man würde es nicht denken - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Man würde es nicht denken

Lesedauer: 1 Minuten
Wer sich bei uns zu Hause umschaut, wird’s kaum glauben, aber ich halte Unordnung schlecht aus. In mir brennt eine tiefe Sehnsucht nach Struktur und Bügelfalten – allein ich krieg’s nicht hin. Zu meiner eigenen Unfähigkeit gesellt sich der Neid auf Menschen, die mit Leichtigkeit beherrschen, woran ich kläglich scheitere. Wenn ich die säuberlich sortierten Kosmetikartikel eines Bekannten sehe, dann will ich vor Verzweiflung auf die Knie sinken und Gott anschreien. Wenn ich in fremde Wäscheschränke linse und gefaltete Spannlaken erblicke, stürzt mich das in Sinnkrisen von kafkaeskem Ausmass. Ein Teil von mir glaubt, dass alles, wirklich alles gut wird, wenn ich nur lerne, Ordnung zu halten.

Es gehört zu den vielen Ungereimtheiten meines Lebens, dass ich eine peinlich-genaue Umgebung einer kreativ-chaotischen immer vorziehen würde, sobald ich mich aber an einen aufgeräumten Ort begebe – ein Hotelzimmer etwa –, beginne ich die Ordnung zu zerlegen. Es ist das immergleiche Muster: Ich schaue mich andächtig um, als beträte ich das Innere einer Kirche, und schwöre mir, die heilige Ordnung nicht zu stören. Dann nehme ich eine Zeitschrift, blättere darin und lasse sie irgendwo liegen. Ich ziehe mein Hemd aus, hänge es aber nicht auf den Bügel, sondern werfe es über einen Stuhl, von dem es langsam heruntergleitet. Kurz denke ich noch daran, es aufzuheben, unterlasse es aber. Keine drei Minuten dauert es, und ich muss erschrocken feststellen: In dem eben noch aufgeräumten Zimmer hat ein Taifun gewütet. In solchen Momenten muss ich an meine Eltern denken, beide eher strukturierte Menschen diesseits der Grenze zum Ordnungszwang, und an die abgrundtiefe Resignation, die sie befiel, wenn sie mein unaufgeräumtes Zimmer betraten und durch das knöcheltiefe Chaos waten mussten. Sie schimpften, sie drohten, sie massregelten. Ich konnte nicht anders als ihnen Recht geben. Ich versprach, mich zu bessern. Und verlegte das Versprechen im Chaos. Es war beschämend.

„Man muss auch Dinge von anderen verlangen dürfen, an denen man selber scheitert – ein Mensch ohne Fehler ist nicht vollkommen.“

Mikael Krogerus

Das Elternhaus verliess ich bald und lebte jahrelang in spärlich möblierten WG-Zimmern. Mein Credo: Je weniger ich besitze, desto kleiner die Angriffsfläche fürs Chaos. Ich brauchte nicht mal eine Hausratversicherung, so besitzlos war ich. Aber alles wird anders. Die grösste Veränderung durch Familiengründung ist der exponentiell steigende Besitzstand. Plötzlich war ich die Ordnungsmacht und verlor zugleich die Kontrolle. Und so kam es, dass ich meinen Kindern etwas predigte, was ich selber nicht einhielt. Ich finde das okay. Man muss auch Dinge von anderen verlangen dürfen, an denen man selber scheitert – ein Mensch ohne Fehler ist nicht vollkommen. In unserem Fall ging meine unvorbildliche Erziehungspraxis zu fünfzig Prozent auf: Meine Tochter kopiert mich, das Chaos in ihrem Zimmer beeindruckt mich. Mein Sohn rebelliert gegen mich, indem er sich einen Handstaubsauger wünschte und mit wissenschaftlicher Akribie unsere Böden reinigt.

Mikael Krogerus

Mikael Krogerus ist Autor und Journalist. Heute lebt der Finne, Vater einer Tochter und eines Sohnes, in Biel und schreibt regelmässig für das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi und andere Schweizer Medien.