Befreit den Samichlaus!
Allen modernen Erkenntnissen über Erziehung zum Trotz: Auch dieses Jahr kommt um den 6. Dezember bei den meisten Kindern ein alter Chlaus vorbei, um Bilanz zu ziehen, ob sie folgsam waren, um zu loben und zu schimpfen. Wir sollten den armen Mann von dieser Aufgabe erlösen.
Aus den dunklen Zeiten der Pädagogik stammt auch der Samichlaus. Im Gegensatz zum Erziehungsprinzip, das er verkörpert, ist der alte Mann mit Bart aber nach wie vor sehr präsent. So stattete er – aus organisatorischen Gründen schon am Sonntag – auch den Kindern aus der Krippe unserer Tochter einen Besuch ab.
Gutmütig und einfühlsam war er, er hörte auch den vorlauten Mädchen zu und ging auf sie ein. Auf die Suggestivfrage «Gäll, Samichlaus, die böse Chind bechömme käni Gschänkli?», erklärte er mit sanfter Stimme: «Weisst Du, es gibt keine bösen Kinder. Es gibt nur solche, die etwas wilder sind und manchmal nicht gut zuhören.»
«Weisst Du, es gibt keine bösen Kinder. Es gibt nur solche, die etwas wilder sind und manchmal nicht gut zuhören.»
Der fortschrittliche Samichlaus
Obwohl die Kinder es sichtlich genossen, zusammen auf den Chlaus zu warten, ihm Lieder vorzusingen und Sprüchlein aufzusagen und danach Schokolade und Sugus zu essen, blieb bei mir als Vater ein schaler Nachgeschmack. Und die Erkenntnis: Wir sollten den armen Chlaus erlösen. Davon, urteilen zu müssen, ob ein Kind immer viel Blockflöte geübt und den Tisch abgeräumt hat, ob es brav gewesen ist und den Erwachsenen gefolgt hat.
Dies ist ein alter Zopf, der auch dem Samichlaus abgeschnitten gehört. Pädagogik-Guru Jesper Juul rät ganz generell davon ab, Kinder erziehen zu wollen. Und Remo Largo sagt, Kindern: Grundlage für das Gehorchen ist die emotionale Bindung zu den Eltern. Und die wird durch Züchtigungsmethoden zerstört oder beschädigt.
Vielen Eltern ist das heute klar – und trotzdem schicken sie ihren Kindern einmal im Jahr den alten Chlaus mit seinen Erziehungsmethoden aus dem letzten Jahrtausend vorbei. Nichts gegen den Mann aus dem Wald. Aber er soll doch in Zukunft einfach als gutmütige (Gross-) Vaterfigur vorbeikommen dürfen, die Kinder fragen, wie es ihnen geht, was sie beschäftigt, wo sie der Schuh drückt, ihnen Tipps geben, Verse und Lieder hören und Süssigkeiten verteilen.
Und wenn wir schon dabei sind, den guten Chlaus ins 21. Jahrhundert zu überführen: Statt dem Henkersknecht Schmutzli, den er nun nicht mehr braucht, dürfte man ihm gerne eine ihm ebenbürtige, alte, weise Frau zur Seite stellen.
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