Wie helfen wir Kindern in einer Umbruchsituation? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Wie helfen wir Kindern in einer Umbruchsituation?

Lesedauer: 6 Minuten

Wenn sich Eltern trennen, Vater oder Mutter den Job verliert oder gar ein naher Verwandter stirbt, bedeutet dies eine grosse Belastung für die ganze Familie. Kinder spüren die Auswirkungen dieser Umbruchsituationen besonders stark. Wie können Eltern die negativen Folgen abschwächen oder gar verhindern? 

Doron ist 8 Jahre alt, als er die Scheidung seiner Eltern erlebt. Als Michaels Mutter zum ersten Mal nach seiner Geburt wieder arbeiten geht, ist er 3 Jahre alt. Azrah ist 12 Jahre, als ihr Vater seinen Job verliert, und Marie 10 Jahre, als ihre Mutter erneut heiratet und die Patchwork­familie in eine neue Stadt zieht.

Die Familiendynamik befindet sich in stetigem Wandel.

Jede Familie hat ihre eigene Dynamik, sprich, eine eigene Art und Weise, wie die einzelnen Familienmitglieder miteinander interagieren beziehungsweise mit­einander in Beziehung stehen. Da sich Menschen beziehungsweise die Umstände, unter denen Familien­mitglieder miteinander leben, stän­dig verändern, bleibt die Familien­dynamik niemals genau gleich. Die Interaktionen zwischen Familien­mitgliedern führen zu unterschied­lichen Verhaltensweisen, und diese ändern sich mit der Zeit.

Familienstrukturen sind komplex

Nun haben einige demografische und soziale Veränderungen inner­halb der letzten Jahrzehnte zu kom­plexeren und vielfältigeren Familien­strukturen geführt. Während 1970 beispielsweise nur 15 Prozent aller Ehen geschieden wurden, stieg die Scheidungsrate bis Ende der 90er ­Jahre auf über 40 Prozent und zeit­weise auf bis zu 50 Prozent an. Paare, die Kinder haben, haben ein höheres Trennungsrisiko als kinderlose Paare. Aus diesem Grund besteht für Kinder eine hohe Wahrscheinlich­keit, Trennungen mitzuerleben und mit einem alleinerziehenden Elternteil aufzuwachsen.

Dar­über hinaus können viele weitere Lebensereignisse die Stabilität einer Familie gefährden, beispielsweise eine schwere chronische Erkrankung der Eltern oder Geschwister, der plötzliche Tod eines geliebten Men­schen oder der Verlust eines Arbeits­platzes, der sich negativ auf die finan­zielle Situation der Familie auswirkt.

Ein weiterer zentraler gesell­schaftlicher Wandel der letzten Jahr­zehnte besteht darin, dass heute mehr Mütter einer Beschäftigung nachgehen als früher. War 1980 nur rund ein Drittel aller verheirateten Mütter mit Kindern unter 18 Jah­ren berufstätig – der Grossteil von ihnen alleinerziehend –, arbeiteten 2014 bereits gut 75 Prozent der Müt­ter mit Kleinkindern und 84 Pro­zent der Mütter mit schulpflichtigen Kindern, so der Familienbericht des Bundes von 2017.

Die Familiendynamik ändert sich

Studien deuten darauf hin, dass zwi­schen Veränderungen in der Fami­liendynamik und dem Wohlergehen der Kinder Zusammenhänge beste­hen. Aber haben solche Veränderun­gen in erster Linie kurzfristige Aus­wirkungen oder haben sie auch nachhaltigere Folgen wie zum Bei­spiel psychische Probleme im Erwachsenenalter? Und auf welche Weise beeinflussen Veränderungen in der Familienstruktur das Wohler­gehen der Kinder?

Veränderungen innerhalb der Familie beeinflussen alle Mitglieder.

Forscher, die sich mit dem Gleichgewicht innerhalb einer Familie sowie den Interaktionen zwischen ihren Mitgliedern befas­sen, haben bemerkt, dass Veränderungen innerhalb der Familie die bestehenden Rollen und Funktions­weisen aller Mitglieder beeinflussen. Solche Übergangszeiten können chaotisch und stressig sein und das Wohlbefinden der Kinder und der Eltern beeinträchtigen. Ein Fami­liensystem ist lebendig, es versucht, seine Organisation und Stabilität zu erhalten und gleichzeitig flexibel genug zu sein, um sich an herausfor­dernde Situationen anzupassen.

Ängste und Depressionen als Folge?

Es ist auch wichtig zu erkennen, dass zwischen den Mitgliedern gegensei­tige Abhängigkeiten bestehen. Dies ist einer der Gründe, warum ein solches System komplex sein kann. Kommen Veränderungen der Fami­lienform beziehungsweise der Rolle einzelner Familienmitglieder hinzu, steigert dies die Komplexität der Familie weiter.

Einige ausländische Studien haben gezeigt, dass Kinder auf ver­schiedene Weise von einer Veränderung der Familiendynamik betrof­fen sein können, etwa indem sie eine geringere soziale und psychologi­sche Reife aufweisen. Die Forschung hat auch gezeigt, dass Ängste und Depressionen die Folge eines stres­sigen Ereignisses sein können.


Kinder geschiedener Eltern oder Kinder, die in Armut leben, haben möglicherweise ein geringeres Selbstbewusstsein und weniger soziale Beziehungen. Ausserdem kann das Kind das Gefühl von emo­tionaler Sicherheit verlieren. Nach einem Todesfall oder einer schweren Erkrankung in der Familie können sich Kinder unsicher fühlen und Angst vor weiteren Veränderungen entwickeln.

Kinder geschiedener Eltern haben tendenziell eine geringere Sprachstimulation und somit schlechtere Noten.

Ebenso erhöht der Verlust eines Jobs das Risiko, dass mit nachfol­gendem Wohnortswechsel das Kind seine Freunde, seine Schulumge­bung und andere Unterstützungs­systeme verliert. Solche Kinder wei­sen zeitweise eine geringere schulische Leistungsfähigkeit auf. Kinder geschiedener Eltern haben tendenziell eine geringere Sprach­stimulation und somit schlechtere Noten.
Intimität und Zuneigung sind die wichtigsten Faktoren für das Wohlbefinden in einer Familie.
Intimität und Zuneigung sind die wichtigsten Faktoren für das Wohlbefinden in einer Familie.
Zudem sollte berücksichtigt wer­den, dass die Anpassung für das Kind umso schwieriger ist, je mehr Veränderungen innerhalb der Fami­lienstruktur stattfinden. Verände­rungen wie eine Trennung der Eltern führen oft auch zu anschlies­sendem Umzug aus dem Elternhaus oder dem Einzug eines neuen Part­ners, erneuter Heirat oder später wieder zu weiteren Trennungen der Eltern von neuen Lebenspartnern. In Kombination mit zusätzlichen stressigen Umständen, wie zum Bei­spiel Armut in der Familie, kann es zu kurzfristigen Krisen kommen.

Manchmal wird die Entwicklung eines Kindes auch nachhaltiger beeinträchtigt. Ein Grund dafür kann sein, dass der Stress und die Überforderung mit den Verände­rungen zu einem verminderten Sicherheitsgefühl und Selbstvertrau­en des Kindes führen. Dies kann die emotionale Entwicklung des Kindes insgesamt beeinträchtigen.

Ein geringes Selbstwertgefühl als Ursache?

Studien haben gezeigt, dass Kinder, die viele familiäre Veränderungen und stressige Ereignisse erleben, häufiger emotionale Schwierigkeiten und Verhaltensauffällligkeiten sowie psychische Störungen oder Alkoho­labhängigkeit im Erwachsenenalter aufweisen.

Eine mögliche Erklärung hierfür könnte sein, dass diese Ereig­nisse gleichzeitig die Eltern betreffen und auch für diese sehr herausfordernd sind, was zu einer Überforde­rung der Eltern und damit einer beeinträchtigten Erziehung führen kann.

Häufig beschreiben sich geschie­dene Mütter entsprechend als weni­ger liebevoll und kommunikativ sowie als strafender – insgesamt berichten sie zudem von einem geringeren Selbstwertgefühl.

Fast alle negativen Folgen kön­nen aber abgeschwächt oder gar verhindert werden, wenn es den Eltern gelingt, mit der neuen Situa­tion konstruktiv umzugehen und ihren Kindern bei der Anpassung zu helfen.

Was Eltern tun können

Was können Eltern also tun, um das Familiengleichgewicht zu erhal­ten und die psychische Gesundheit der Kinder zu schützen? Eine erste Veränderung im Familienleben stösst häufig weitere Veränderungen an, einschliesslich solcher in der Familienstruktur. Eltern und Kinder sind zunehmend gefordert, die not­wendigen Fähigkeiten zu entwi­ckeln, um diesen Veränderungen und Übergängen gewachsen zu sein. Wichtig scheint, dass jedes Familienmitglied für sich sowie alle Be­ziehungen untereinander ausreichend beachtet werden.

Eltern, Partner und Kinder müssen nicht nur neue Wege im Zusammenleben finden, sondern auch ihre Identität in einem neuen Umfeld definieren.

Manche Schwierigkeiten haben tiefe Wurzeln.

Elterliches Verhalten  vor und nach dem auslösenden Stressfaktor, Alter und Geschlecht der Kinder sowie die Lebensumstände, beispielsweise nach einer Trennung, sind nur einige der Faktoren, die eine Rolle für die Auswirkungen der Veränderungen spielen. Und damit für das Wohlergehen der Kinder. Einige der Schwierigkeiten, die nach einem Strukturwandel der Familie auftauchen, haben aber auch tiefere Wurzeln, die sich bereits viele Jahre davor gebildet haben.

Auch wenn Familienstrukturen heute komplexer geworden sind, bleiben Intimität und Zuneigung in familiären Beziehungen, egal in welcher Form des Zusammenlebens, die wichtigsten Faktoren für das Wohlbefinden einer Familie – und damit für das Wohlbefinden ihres Kindes.


Zur Autorin

Gina Kouri ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für klinische Familienpsychologie am Departement für Psychologie der Universität Freiburg.
Gina Kouri ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für klinische Familienpsychologie am Departement für Psychologie der Universität Freiburg.


So helfen Sie Ihrem Kind in Umbruchsituationen

1. Emotional nah am Kind sein

Menschliche Gefühle sind die wichtigste Informationsquelle für unseren psychischen Zustand. Ein Mensch kann seine Gedanken bewusst steuern, aber er kann seine Gefühle nicht in der gleichen Art und Weise kontrollieren. Gefühle sind ein Teil unseres Selbst und müssen deshalb ernst genommen werden. Das Gleiche gilt für die Gefühle der Kinder. Emotional beim Kind zu sein, bedeutet in diesem Sinn, sich für die Gefühle des Kindes zu interessieren. Lassen Sie Ihr Kind vorhandene Gefühle leben und ausdrücken, beispielsweise durch Gespräche, jedoch auch durch Malen, Spielen und so weiter.

2. Die Gefühle akzeptieren

Manchmal fällt es Eltern schwer, sich der Tatsache zu stellen, dass ihr Kind wütend, ängstlich oder zutiefst traurig ist. Es ist jedoch in diesem Fall besser, diese Gefühle zu akzeptieren und sie nicht zu ignorieren. Jedes Kind ist einzigartig im Umgang mit Veränderungen und Komplexität in der Familie. Die Eltern sollten geduldig sein, dem Kind die Zeit geben, die es braucht, und ihm beistehen.

3. Offen sein

Eltern sollten ebenfalls den Kindern mitteilen, wie sie sich selbst fühlen. Obwohl Menschen manchmal Angst vor negativen Gefühlen haben, sind sie doch sehr wichtig und nötig, um mit Schwierigkeiten fertigzuwerden. Zeigen Sie das Ihren Kindern.

4. Unterstützung holen

Wenn Sie sich erschöpft fühlen und Schwierigkeiten haben, alltägliche Aktivitäten und Anforderungen zu bewältigen, dann ist es wahrscheinlich an der Zeit, um Hilfe zu bitten. Haben Sie keine Angst davor, sich Unterstützung zu holen. Es ist verständlich, wenn es Ihnen als Elternteil manchmal schwerfällt, mit starken Stressfaktoren und ständigen Veränderungen fertigzuwerden. Viele Studien haben gezeigt, dass das soziale Netzwerk (z.B. Freunde, Familie) und die damit verbundene Unterstützung helfen, stressige Lebensereignisse erfolgreich zu bewältigen.

5. Die neue Situation erklären

Veränderungen, die sich auf die alltäglichen Aktivitäten und Gewohnheiten einer Familie auswirken, können das innere Gleichgewicht des Kindes beeinträchtigen. Kinder haben manchmal Angst und sind unsicher, wenn sie nicht wissen, welche Auswirkungen eine Veränderung auf ihr Leben hat. Es ist daher wichtig, den Kindern zu erklären, wie die neue Situation aussehen wird, und mit ihnen die wichtigsten möglichen Veränderungen für die nächste Zeit zu besprechen. Dies vermittelt dem Kind Kontrolle und Sicherheit.

6. Vertrauen haben in das Kind

Jedes Kind muss seinen eigenen Weg haben, um mit diesen Veränderungen umzugehen.

7. Rollenklärung

Welche ist die Rolle der Eltern? Welche die Rolle des Kindes? Eine klare Rollenklärung trägt zur Sicherheit des Kindes bei.

Weiterlesen: 

Dieser Artikel ist Teil 4 unserer laufenden Serie WAS KINDER KRANK MACHT aus dem Magazin 08/18. Verpassen Sie keinen Teil der Serie mehr, indem sie unser Magazin abonnieren.